Die Altersschwerhörigkeit gilt als zweithäufigste Krankheit bei Menschen ab dem 50. Lebensjahr –nach der Arthritis. Was es mit der Degeneration auf sich hat, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO)als eine der wesentlichen Gesundheitsprobleme gilt.
Man kennt das aus seinem Bekannten- und Verwandtenkreis: Man spricht eine ältere Person an und erhält erst mal keine Antwort. „Wenn man nachfragt oder konkret darauf hinweist, sagen sie: ‚Ich höre alles, ich höre ja gut‘", sagt Dr. Michael Deeg. Er ist Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, im Deutschen Bundesverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte der Landesvorsitzende in Baden-Württemberg und auf Bundesebene auch dessen Pressesprecher. Für ihn ist die Schwerhörigkeit also ein „tagtägliches Phänomen". Nicht nur von älteren Patienten vernehme er sehr häufig ein „Nein, nein, nein", wenn man sie darauf anspreche, dass Hörtests nahelegen, besser eine Hörhilfe zu tragen. Was man hören will, höre man.
Tatsächlich handelt es sich bei der Schwerhörigkeit in den meisten Fällen um einen schleichenden Prozess. Denn das einst gute Hörvermögen nimmt kontinuierlich ab, während man sich gleichzeitig daran gewöhnt, schlechter zu hören. Es tritt sozusagen eine neue Normalität ein. „Es ist aber nicht zwingend immer ein Prozess des Lebensalterns. Am Nachlassen des Hörvermögens im höheren Lebensalter spielen auch eine Vielzahl von anderen Faktoren eine gewichtige Rolle." Dazu würden beispielsweise genetische Faktoren zählen. Wer also aus einer Familie stamme, in denen Fälle von frühem Hörverlust bekannt sind, müsse ebenfalls mit Schwerhörigkeit rechnen.
Dazu kämen Umwelteinflüsse wie Lärm oder Erkrankungen, beispielsweise Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch Infekte am Ohr, etwa Mittelohrentzündungen. Auf keinen Fall aber könne man generell sagen, dass Altersschwerhörigkeit ab dem 50. Lebensjahr beginne. „Wir sprechen auch lieber von Schwerhörigkeit im Alter." Das klinge zwar nicht nach einem großen Unterschied, solle jedoch verdeutlichen, dass nicht nur der Alterungsprozess eine Rolle spiele, sondern die aufgeführten Faktoren ebenfalls. Als Beispiel benennt er aus seiner Praxis in der Freiburger Innenstadt Patienten, die 80 Jahre oder älter sind und trotzdem noch recht gut hören –
also kein Hörgerät benötigen würden.
Der Prozess der Schwerhörigkeit gehe eben sehr langsam vonstatten. Ob die Betroffenen dies selbst so merken, hänge ebenfalls von mehreren Faktoren ab. Dazu zählt auch die Differenziertheit der jeweiligen Person. Da gebe es Menschen, die sagen würden, dass ja noch alles gut sei. Anderen wiederum falle es beim Musikhören auf. Die klinge dann eventuell nicht mehr so wie einst. Er kenne Patienten, die an der Hochschule unterrichten und irgendwann feststellen, dass sie Studierende in der dritten Reihe nicht mehr richtig verstehen würden. Des Weiteren benennt er Lehrer, die vor ihren Klassen stehen oder Führungskräfte, die sehr häufig an Konferenzen teilnehmen. „Die Disziplin ist dort nicht immer so gut." Das seien typische Fälle der Party- oder Gesellschaftsschwerhörigkeit: Zwischen einem gewissen Hintergrundpegel und dem Durcheinanderreden falle es zunehmend schwerer, den Einzelnen herauszuhören.
Das hänge unter anderem damit zusammen, dass bei der Schwerhörigkeit im Alter meistens zuerst die höheren Frequenzen nicht mehr gut wahrzunehmen sind. „Wenn diese fehlen, geht langsam aber sicher die Differenzierung der Sprachwahrnehmung verloren", erklärt Michael Deeg. Das hänge damit zusammen, dass man gesprochene Sprache in unterschiedliche Klangeinheiten unterteilen könne, die Phoneme. Die Vokale gehören dabei eher zu den mittleren und tiefen Tonlagen. Die Zischlaute der Konsonanten haben einen sehr hochfrequenten Schallanteil. „Wenn dieser abhandenkommt, fehlt eben ein Teil der akustischen Information. Dann haben Sie zunehmend ein Problem zu verstehen." Einen gewissen Teil könne man noch intellektuell kompensieren – man hat schlicht die Erfahrung, welches Wort in einem gewissen Kontext korrekt ist.
Mit einer Hörhilfe ist der Prozess teilweise reversibel
Übrigens geht die Schwerhörigkeit an sich nicht mit einem Verlust des Gleichgewichts einher. Zum Innenohr gehöre zwar neben der Hörschnecke auch das Gleichgewichtsorgan, jedoch: „Das ist organisch getrennt." Balancestörungen seien komplexer Natur und sogar nicht nur auf das Gleichgewichtsorgan zurückzuführen. Vor allem habe das Einbüßen des Hörvermögens etwas mit dem Nachlassen der Haarzellen im Innenohr zu tun. Die äußeren Haarzellen sind hochempfindlich und für das sehr gute Hören verantwortlich. „Die sind extrem empfindlich, was Lärm angeht", erläutert der Facharzt.
Er erklärt: „Wenn Schall auf unser Innenohr einwirkt, dann geht eine Wanderwelle durch den mit Flüssigkeit gefüllten Innenohrraum. Der adäquate Reiz für die Haarzellen ist, dass sie bewegt und abgeschert werden, und dann geben sie einen elektrischen Impuls ab. Das ist ein mechanischer Prozess. Wenn dieser Schall, die konkrete kinetische Energie, hoch ist, hat er eine große Amplitude. Das bedeutet, dass die Haarzelle entsprechend bewegt wird. Dieses Bewegen kann dermaßen rabiat sein, dass die Haarzelle geschädigt wird. Wenn Sie über kurze Zeit erheblichem Schall ausgesetzt sind – etwa weit über 100 dB – kann das bereits zu einem irreversiblen Hörschaden führen."
Eine langjährige Dauerbeschallung von 85 bis 90 dB könne ebenfalls zu Hörschäden führen. Zur Veranschaulichung: Ein Rasenmäher verursacht einen Pegel von rund 70 dB. Ein Pkw mit 50 km/h im Abstand von einem Meter hat etwa 80 dB, ein Auto mit 100 km/h in gleicher Entfernung bereits 90 dB. „Je lauter das wird, umso größer sind die Schädigungsmuster und umso kürzer sind die Wirkzeiten, nach denen diese Muster einsetzen können." Im Berufsleben gebe es seit einigen Jahren gute Schutzmaßnahmen gegen Lärm. So müssten Arbeitsbereiche gegebenenfalls als Lärmschutzbereich ausgewiesen werden und Arbeitnehmer Infos zum Schallschutz bekommen und regelmäßig untersucht werden. „Seitdem ist die Anzahl der berufsbedingten Schwerhörigkeit drastisch zurückgegangen." Obwohl sie immer noch die häufigste Berufskrankheit sei. Dafür gebe es im Freizeitbereich aber noch keine adäquate Regelung, beispielsweise bei Rockkonzerten.
Übrigens kann die Schwerhörigkeit, vor allem im Alter, weitere sehr negative Folgen haben: Unsicherheit im Straßenverkehr oder in sonstigen alltäglichen Situationen und somit sozialer Rückzug. „Das ist ein ganz wichtiges Thema", sagt Michael Deeg. Um dem entgegenzuwirken, gebe es die Möglichkeit einer Versorgung mit Hörgeräten. Hierfür sei in den „Heil- und Hilfsmittelrichtlinien", geregelt, ab wann jemand Anspruch auf ein oder zwei Hörgeräte habe, sodass die Kosten von der Krankenversicherung übernommen werden. „Ab einem bestimmten Punkt X ist die Schwerhörigkeit so ausgeprägt, dass die Sinneszellen und Nervenstrukturen nicht mehr genügend angesprochen werden, weil das periphere Organ (das Ohr) das nicht mehr kann."
Trage also eine betroffene Person früh genug eine Hörhilfe, könne man nicht nur eine „gewisse Hör-Rehabilitation leisten, sondern auch den Degenerationsprozess verhindern". Als Beispiel zieht er zwei 65-Jährige mit vergleichbarer Ausgangssituation heran, denen beide zu einer Hörhilfe geraten wird. Der eine ist vernünftig und trägt eine. Zehn Jahre später komme diese Person in der Regel noch auf ein Sprachverstehen von 100 Prozent – während die Degeneration bei der anderen Person natürlich weiter fortgeschritten ist. Leider könne man immer noch sagen, dass die persönliche Eitelkeit noch immer viel zu häufig über einer höheren Lebensqualität steht.
Und das, obwohl moderne Hörgeräte ausgesprochen gut und technisch hoch ausgereift seien. Es gebe nur noch digitale Systeme mit mehreren Programmen und Kanälen, die Geräte seien auch deutlich kleiner und somit unauffälliger geworden. Früher seien die Geräte weitaus klobiger gewesen und hätten wegen Anfälligkeit für Rückkopplungen häufig gepfiffen. Es gibt sie in verschiedenen Formen und Farben. Auch ein anderer Aspekt sei wichtig: Bei viel mehr Menschen als früher sei ein „Knopf im Ohr" zu sehen – MP3-Spieler, Kopfhörer vom Mobilgerät, Bluetooth-Freisprechanlagen. „Das gehört jetzt dazu. Deswegen ist jetzt auch der Mensch mit Hörgerät gar nicht mehr das große Ausnahmephänomen." Das habe viel zur Akzeptanz beigetragen. Zudem gebe es Geräte, die komplett im Ohr zu versenken seien oder auch welche, die man implantieren kann.
Es gibt auch immer wieder Patienten, die beklagen, dass Geräte schlecht sitzen oder dass man laute Geräusche als unangenehm empfinde. Hier verweist Michael Deeg erneut auf den zeitlich langen Prozess, der der Schwerhörigkeit vorausgeht. Wenn jetzt das Hörgerät so eingestellt wird, dass man alles wieder genauso laut wie früher wahrnehme, könne das schon einen negativen ersten Effekt auslösen. So könne man das Umblättern der Zeitung oder das Kauen beim Essen als viel zu laut empfinden – das hatte man vorher vielleicht einfach ausgeblendet. „Ein guter und einfühlsamer Hörgeräteakustiker wird die Hörfähigkeit deswegen nicht von Anfang auf 100 Prozent korrigieren."