Igor Levit gilt als einer der talentiertesten Pianisten seiner Generation, zugleich tritt er so politisch auf wie kaum ein klassischer Musiker. Ihm wurde der Internationale Beethoven-Preis verliehen. Sein Großprojekt: die Einspielung aller 32 Beethoven-Klaviersonaten.
„Herr Levit, Sie haben mal gesagt: „Ich will mit Beethoven kämpfen.“ Das klingt nach dem Beziehungsstatus „Es ist kompliziert“.
Seine Musik ist ja auch nicht reibungslos. Ganz im Gegenteil. Sie kostet sehr viel Mühe, gibt aber auch sehr, sehr viel zurück. Beethoven schreibt so häufig gegen jeden pianistischen Brauch an, gegen jede Bequemlichkeit, auch bei den Hörern. Gegen manche seiner Stücke kämpfst du entweder an – oder du verlierst.
Welche der 32 Klaviersonaten war am schwierigsten zu spielen?
Die ganze Arbeitsphase an der „Hammerklavier“-Sonate habe ich bis zum ersten Auftritt mit diesem Stück als einen einzigen emotionalen Kriegszustand erlebt. Der letzte Satz wollte einfach nicht gelingen, rein manuell. Ich hab’s versucht und versucht, mittendrin ständig abgebrochen und brutal darunter gelitten. Irgendwann schläfst du drüber, und plötzlich klappt’s. Aber das hat irrsinnig lange gedauert.
Wie lange?
Ein halbes Jahr. Und wir reden hier noch überhaupt nicht vom Ausdruck, der kam noch obendrauf. Ein halbes Jahr reichte nur, um es körperlich zu schaffen, durch die „Hammerklavier“-Sonate zu kommen.
Ist das Sport?
Nein, das ist so, als würde man jemandem sagen: Lies mal „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi. Wie viele Anläufe wird der wohl brauchen? Das sind diese epischen menschlichen Erzeugnisse, mit denen man kaum klarkommt. Die „Hammerklavier“-Sonate ist eine Grenzerfahrung, das seelisch und physisch mit Abstand komplexeste Stück Musik, das ich bis zum heutigen Tag erarbeitet habe. Und es bleibt so schwierig, jedes Mal von Neuem, bei jedem Konzert.
Haben Sie eine Lieblingssonate?
Ich liebe sie alle und möchte keine missen. Aber die „Waldstein“-Sonate bedeutet einfach das allergrößte Musikerglück, das ich mir auf Klavier solo vorstellen kann. Ich habe sie wie im Rausch gelernt. „Waldstein“ ist Liebe, Zweifel, Freude.
Über den zweiten Satz der Sonate Nummer 16 haben Sie mal gesagt, er sei lustig. Welche Rolle spielt Humor in Beethovens Klaviersonaten?
Eine riesengroße. Vielleicht nicht in der „Sturm“-Sonate, aber sonst: beißender Humor, zarter Humor, Schalkhumor, es ist alles drin. Manchmal pikst Beethoven. Manchmal kneift er. Und manchmal tritt er zu.
Es scheint, als umgebe die 32 Klaviersonaten traditionell eher Schwere: Der Pianist Maurizio Pollini arbeitete 40 Jahre lang an seiner Aufnahme der Sonaten. András Schiff sagte mit Anfang 50, die Sonaten seien für ihn „wie ein Anzug“ gewesen, in den er habe hineinwachsen müssen. Da klingt viel Ehrfurcht mit – und die Idee, dass man für Beethovens Klaviersonaten ein bestimmtes Alter erreicht haben sollte.
Ich glaube jedem die Ehrfurcht. Sie ist da, auch bei mir. Aber es ist natürlich auch viel einfacher, eine große Ehrfurcht auszudrücken, wenn man schon lange mit diesen Stücken gelebt hat. Ich finde, niemand sollte sich dafür rechtfertigen müssen, nur zehn Jahre damit gelebt zu haben.
1970, zum 200-jährigen Beethoven-Jubiläum, hat der „Spiegel“ ein Interview mit dem Komponisten Mauricio Kagel geführt. Darin unterbreitete Kagel einen Vorschlag: „Beethoven wird eine Zeit lang nicht mehr aufgeführt, damit die Gehörnerven, die auf seine Musik reagieren, sich erholen können.“ Was halten Sie heute von Kagels Vorschlag?
Wir brauchen kein Beethoven-Moratorium. Doch was wir noch viel weniger brauchen, ist der Kult um ihn. Nur Menschen mit kleinen Charakteren und großen autoritären Bedürfnissen brauchen einen Kult.
Der Geniekult um Beethoven hat Tradition, er zeigt sich auch im Hinblick auf die Klaviersonaten – zum Beispiel im oft gebrauchten Zitat des Dirigenten Hans von Bülow, die Sonaten seien das „Neue Testament der Klaviermusik“.
Beethoven ist das, was er ist: ein Komponist wie kein zweiter. Eines der größten, bemerkenswertesten Genies der Menschheitsgeschichte. Um das zu sagen, brauche ich kein biblisches Vokabular. Und ich bin dagegen, dass wir Lebenden, die mit Beethovens Musik umgehen, ob als Interpreten oder als Hörer, uns kleiner machen, als wir sind. Denn ohne uns gäbe es Beethoven nicht mehr. Wir sind diese Musik.
Zeigt sich der Kult um Beethoven nicht auch an einer Neueinspielung der 32 Klaviersonaten?
Das ist kein Kult, das war mein Wunsch. Ich hatte jetzt einfach die Chance, das zu machen. Auch ohne das Beethoven-Jubiläum hätte ich diese Aufnahme gemacht. Das Wort Kult gehört aus meiner Sicht auf die schwarze Liste. Und was politischer Kult anrichten kann, sollten wir langsam alle wissen.
Beethoven und Politik haben eine lange gemeinsame Geschichte. Eines der bekanntesten Beispiele der jüngsten Vergangenheit ist die Aufführung der 9. Sinfonie in der Hamburger Elbphilharmonie während des G-20-Gipfels vor zwei Jahren, die sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gewünscht hatte.
Wehren kann sich diese Musik nicht, sie ist solchen Entscheidungen ausgeliefert. Aber ich fand das G-20-Konzert perfide.
Wieso?
Staatslenker, von denen ein großer Teil Demokratie höchstens buchstabieren kann, lassen sich in einem abgeschotteten Festungssaal von „Alle Menschen werden Brüder“ berieseln. Draußen spielen sich in kürzester Distanz bürgerkriegsähnliche Zustände ab. Und wie man mittlerweile weiß, halfen sich die Behörden mit schwerst autoritären Mitteln durch diese schlimmen Tage. Beethoven in einem Kontext, bei dem einem das Blut in den Adern gefriert – ich fand das unerträglich.
Weil Beethovens Musik, wie Sie mal über die „Missa solemnis“ getwittert haben, auch ein „universell menschliches Motto“ beinhaltet?
Ach, so weit will ich gar nicht gehen. Musik kann ein Klima des Miteinanders, des Erhabenen oder des Intimen kreieren. Sie kann aber auch misshandelt werden. Und dieses G-20-Konzert ist, glaube ich, ein Paradebeispiel dafür. Es zeigt uns einfach, dass der hehre Anspruch „Musik rettet die Welt“ natürlich Scheißdreck ist.