Die Musikjournalistin Dr. Eleonore Büning beschäftigt sich schon lange mit Beethoven. Sie publizierte „Sprechen wir über Beethoven", und sprach über den Komponisten, den alle Welt zu kennen glaubt.
Frau Dr. Büning, Sie moderierten 2015 eine Radiosendung beim RBB, auf deren Grundlage „Sprechen wir über Beethoven" entstand. Im ersten Kapitel kommen Sie direkt auf die Klaviersonaten zu sprechen. Vielleicht, weil die Sonaten im Schatten der Symphonien stehen?
Ja, die Symphonien stehen heute an allererster Stelle, jedenfalls im öffentlichen Unterbewusstsein, die Klaviersonaten sind nicht ganz so präsent, allerdings präsenter als die Streichquartette, Klaviertrios oder Lieder. Mir ging es damals darum, gleich mit der ersten Sendung ins Zentrum der Beethovenrezeption zu zielen und einen Rahmen abzustecken. Ich befasse mich mit den relativ unbekannten ersten Sonaten des 13-jährigen Beethoven, den drei „Kurfürstensonaten", und mit den rätselhaften letzten drei. Beethoven bleibt mit sich identisch, das heißt, es gibt Parallelen zwischen dem Früh- und Spätwerk. Das Klavier war sein Instrument. Er war die erste Hälfte seines Lebens erfolgreich als Klaviervirtuose, und nicht als Komponist.
Wir erkennen Beethoven als Komponisten-Genie. Galt das auch für seine Zeitgenossen?
Nein, nicht alle. Die meisten waren wohl eher irritiert. Sofern sie professionelle Musiker waren, haben die Zeitgenossen schon erkannt, dass dieser Mensch aus der Reihe tanzt. Sowohl seine Lehrer und Mäzene als auch das Publikum sahen Beethoven als einen Künstler, den sie nicht recht begreifen konnten. Man fand ihn „bizarr" und „außergewöhnlich". Haydn zum Beispiel nannte ihn den „Großmogul", was vor dem Hintergrund der Türkenopern sicher ein bisschen hämisch gemeint war: als eine Witzfigur und gleichzeitig etwas Fürchterliches.
Mozart und Beethoven hätten einander begegnen können. Weiß die Forschung, ob es so war?
Man kann es nicht beweisen, aber es ist sehr wahrscheinlich.
Sie berichten in ihrem Buch, dass Beethoven aus Themen von Mozart-Opern Variationen komponiert hat. Warum, weil er Mozart bewunderte?
Beethoven bewunderte vor allem die Klavierkonzerte von Mozart. Er versuchte, sie in seinem frühen Werk nachzuahmen. Die Opern haben ihn nicht so beeindruckt. Mit dem Komponieren von Variationen über Mozart’sche Opernthemen, Melodien von Mozart-Opern, die jeder kannte, hat Beethoven, in der Tradition der damaligen Tonsetzer, öffentlich den Hut gezogen. Auch geschäftlich eine gute Sache, aber mit echter Bewunderung für die Komposition darf man das nicht vergleichen, das wäre eine Überinterpretation.
Sie schreiben: „Beethoven sehnte sich ein Leben lang zurück in die sichere Position einen Hofmusikers." Aber er konnte doch als Freiberufler gut leben?
Nein, das konnte er nicht. Beethoven gilt heute als Prototyp eines freien Künstlers, der nur für seine Kunst lebt – und von seiner Kunst. Man darf aber nicht vergessen, dass das Verlagswesen erst im Aufblühen war. Verkaufte ein Musiker ein Werk an einen Verlag, bekam er einmalig Geld dafür. Es gab kein Urheberrecht. Eines der größten Probleme war, dass es sofort Raubdrucke gab, wenn etwas erfolgreich war. Die Musikwissenschaftler können an der Anzahl der Raubdrucke ablesen, wie populär ein Werk war. Er stand zeitlebens auf der Payroll des Adels und versuchte, als freier Musiker zu leben – beides!
Beethoven war ein Womanizer, schreiben Sie. Woher wissen Sie das?
Ja (lacht). Es gibt viele Zeugen, die davon berichten, Freunde und Schüler. Es gibt viele Frauen, die ihn verehrten. Erst seit Kurzem weiß man, dass die „unsterbliche Geliebte" aus dem berühmten Brief, den er nie abschickte und verwahrte, Josephine Brunsvik war. Beethoven war wohl nicht so hübsch, aber er muss eine unheimliche Ausstrahlung gehabt haben. Die Schönlinge unter den Männern sind nicht unbedingt die erfolgreichsten bei den Damen. Dass er unverheiratet und ohne Nachkommen geblieben ist, ist allen möglichen Zufällen geschuldet, aber an Gelegenheiten hat es nicht gefehlt.
Beethovens „Heiligenstädter Testament" von 1802 wird häufig als Zäsur beschrieben. Worum handelt es sich dabei?
Das Heiligenstädter Testament ist ein erschütterndes Dokument der Krise. Beethoven schrieb es nach einer neuerlichen erfolglosen Wunderkur, die sein Gehör hatte retten sollen. Er verteilt seine Habe, trägt sich mit Selbstmordgedanken. Er muss erkennen, dass er tatsächlich irreversibel ertauben wird oder ertaubt ist. Wenn man sein Werkverzeichnis betrachtet, dann kann man feststellen, dass sich von dem Zeitpunkt an eine unglaubliche Kreativität Bahn bricht. Er komponierte wie ein Wahnsinniger, geradezu explosionsartig. Durch tiefste Verzweiflung zum höchsten Triumph – dieses Denkmuster wurde aber erst lange nach seinem Tod entworfen. Dadurch wurden viele Werke, die Beethoven vorher komponiert hatte und die nicht in dieses Denkmuster passten, ausgegrenzt. Ich bin kein Freund dieser Theorie „Beethovens neuer Weg".
Die 9. Symphonie gilt in seinem Werk als etwas Besonderes. Warum?
Die Popularität der Neunten gründet sich vor allem auf den letzten Satz mit der „Ode an die Freude", nach Schiller. Dieser Chorsatz ist einprägsam, im Grunde handelt es sich um eine Schlagermelodie. Dahinter steht ein Wunsch, eine Vision: „Alle Menschen werden Brüder"… So etwas rührt die Herzen vieler, das ist schon ein mehrheitsfähiger Satz. Die ungeheure Popularität der Neunten, ich glaube, dafür gibt es gar nichts Vergleichbares. Sagen Sie mir irgendetwas aus der Musikgeschichte, das diese Wirkung hatte …
… Stille Nacht, heilige Nacht.
Ja, ein komponiertes Weihnachtslied! Ich vermute, es gibt für die Popularität der Neunten keine musikalischen, sondern politische, historische und soziale Gründe.
Beethoven hat eine Oper geschrieben, von der drei Fassungen existieren. Blieb es beim „Fidelio", weil er sich damit schwer tat?
Er selbst hat gesagt, dass diese Oper sein „Schmerzenskind" sei. Aber das hat er auch von anderen Stücken gesagt. Er hat unglaublich gefeilt an seinen Werken, er war ein Perfektionist. Und er litt an diesem Schaffensprozess. In Kenntnis der ersten Fassung, der „Ur-Leonore" von 1804, muss ich sagen: Das ist die dramaturgisch und musikalisch beste Fassung. Die Entwicklung der ersten bis zur dritten Fassung ist keine Geschichte der Vollendung gewesen. Ich würde mich freuen, wenn die Opernhäuser sich aufraffen könnten, anstelle des „Fidelio" diese „Leonore" zu spielen.
Einem Musiker, der sich beklagte, soll Beethoven gesagt haben: „Was schert mich deine elende Fidel, wenn der Geist zu mir spricht." Komponierte Beethoven Unspielbares?
Ja, auch Unsingbares, das tat er manchmal. Beethoven wollte immer das Unerreichbare erreichen, das ist eines der Merkmale seiner Musik. Er wollte immer bis an die Grenze gehen. Wenn es kompositorisch wichtig war, etwa in der „Missa Solemnis", hat er die technischen Möglichkeiten des Machbaren ignoriert. Aber das sind Einzelfälle. Der zitierte Satz ist höchstwahrscheinlich erfunden, er taucht jedenfalls erst lange nach Beethovens Tod in der Literatur auf und wird dem Geiger Ignaz Schuppanzigh zugeschrieben. Bis zu Beethovens Tod waren sie gute Freunde. Der lustige Satz hat, auch wenn er erfunden ist, ein Körnchen Wahrheit.
Bitte geben Sie einem Beethoven-Einsteiger und einem fortgeschrittenen Beethoven-Hörer einen Tipp, um sich der Klangwelt zu nähern oder sie weiter zu erkunden.
Ich glaube, wir hätten alle mehr davon, wenn wir nicht immer nur die üblichen Repertoire-Renner hören. Es gibt wunderschöne Kammermusik und Klaviersonaten, die sowohl für den Beethoven-Fachmann als auch für den Beethoven-Anfänger eine Bereicherung wären. Zum Beispiel das Streichquartett op. 18/4, oder die Serenade für Streichtrio D-Dur, op. 8. Auch die Klaviertrios von Beethoven werden selten aufgeführt. Es gibt einen ganzen Kosmos an traumhaft schönen, aber unbekannten Werken zu entdecken! Sie öffnen uns die Ohren für innere Prozesse der Erkenntnis.