Großartige Tempelpyramiden künden auf Yucatán bis heute von der einzigartigen Kultur der Mayas. Ihre Spur führt auch ins größte Höhlenwasserlabyrinth der Welt. Beim Baden, Schnorcheln oder Tauchen kann man es erleben.
Luís Fernández ist ein aufmerksamer Fahrer. „Ein wilder Truthahn", kommentiert der 24-Jährige und bremst das Lastendreirad, auf dessen Schutzblech das Wort Taxi steht. Der junge Maya in Jeans und Sportshirt hat gemerkt, dass sich sein Fahrgast für den gar nicht scheuen Waldbewohner interessiert. Der große Hühnervogel mit gold-grün-blau metallisch glänzendem Gefieder und nacktem, blauem Hals schaut kurz in die Kamera und verschwindet wieder zwischen den gefleckten Stämmen hoher, alter Chacas.
Viele dieser Gummibäume wachsen in den Trockenwäldern Yucatáns. Wie ungeschützte Haut nach einem starken Sonnenbrand blättert ihre Borke ab. „Wir nennen sie Touristenbäume", verrät Luís und grinst schadenfroh. Mit seinem dunklen Teint muss er sich nicht vor zu viel Sonne fürchten. Die meist lichtsensibleren Besucher Mexikos dagegen schon. Jetzt am Morgen ist es weder heiß noch voll in der Ruinenstadt Cobá. Bevor die Hitze und die Ausflugsbusse von den großen Küstenorten kommen, teilt man die alte Mayametropole nur mit wenigen. Merkwürdig eigentlich, dass man Plätze wie diese am liebsten allein und still genießen möchte – selbst, wenn es sich wie in diesem Fall um die Überbleibsel einer Großstadt handelt. Die 50.000 Menschen, die einst hier lebten, machten sicher mehr Lärm als die Touristen heute. Das war zwischen 600 und 900 nach Christus – in einer Zeit, als die meisten Städte in Europa noch gar nicht existierten. Als die Spanier 1519 kamen, um Yucatán für drei Jahrhunderte zu kolonialisieren, war Cobá bereits verlassen und vom Dschungel überwachsen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte man es wieder. Vom Dickicht gut getarnt sind seine imposanten Bauten heute noch.
Menschenopfer wurden betäubt
Luís tritt in die Pedale. Das Fahrradtaxi rollt durch die Ruinenstadt im Wald. Immer wieder blitzen graue Wände ganz unterschiedlicher Steinstrukturen durch die Bäume: Tempel, Zeremonienplätze, Pyramiden – darunter endlich auch der „Große Hügel": Nohoch Mul. Von dichtem Grün umgeben, kann ihn erst wirklich sehen, wer direkt davorsteht. Wie ein riesengroßes greises Urzeitwesen, das kaum noch die eigene Körperlast tragen kann, schlummert der antike, 42 Meter hohe Steinberg vor sich hin. Hier und da ist er schon etwas krumm, die welke graue Haut zerfurcht von Narben, Falten, Rissen. Doch immer noch reckt er sich würdevoll zum Himmel, zu stolz, sich kampflos dem Verfall zu überlassen.
Die Pyramide des Kukulcán in Chichén Itzá (30 Meter hoch) mag besser erhalten sein, die namenlose in Muyil (17 Meter) ruhiger und malerischer gelegen, doch diese ist die höchste weit und breit und eine der letzten, die man als Tourist besteigen darf.
„Grüß die Götter", sagt Luís, der mit seinem Dreirad unten warten wird. Der steile Aufstieg über 120 teils recht hohe Stufen ist mühsam, doch das entsprach der Absicht der Erbauer. Diente der eigentliche Pyramidenkörper doch lediglich als Sockel für den klitzekleinen Tempel obendrauf. Er bot gerade soviel Platz, dass man darin jemand feierlich enthaupten konnte. Kopf und Körper ließ man hinterher effektvoll die Pyramidenstufen runterrollen.
Um dem Menschenopfer seine Fahrt ins Jenseits zu versüßen, betäubte man es vorsorglich mit Honigmet. Die Priester schmierten sich – wie offenbar bei allen Ritualen – den Honig selbst ums Maul und sogar wörtlich. Bei großen Festen aß man kleine Götter, geknetet und gebacken aus Maismehl, Wasser, Honig. Das wohlschmeckende und heilungskräftige Lebensmittel war so wichtig für die alten Mayas, dass sie es über alles stellten. Ihr Wort dafür war „kaab". Und das bedeutet sowohl Honig als auch Biene als auch Welt.
Der Weltenschöpfer Ah Muken Kaab, dem der Pyramidentempel geweiht wurde, taucht an dessen Fassade gleich zweimal als Relief auf. Dargestellt ist er – genauso wie an „seinem" Tempel in Tulum –
mit dem Kopf nach unten als „Herabstürzender Gott" mit Insektenflügeln, denn er gilt zugleich als Herr des Honigs und der stachellosen Bienen.
„Sie konnten nicht stechen, aber beißen", weiß Luís über die zwei kleinen einheimischen Arten, die seine fernen Vorfahren in ausgehöhlten, mit flachen Steinen verschlossenen Baumstammstücken hielten, um Honig zu gewinnen. „Später übernahmen wir von den Spaniern die europäischen Methoden und auch ihre Bienen", erzählt der junge Maya, dessen Vater Imker ist.
Geblieben sei die einzigartige Qualität des Yucatán-Honigs. Sein kräftiges Aroma wird im Frühjahr von Goldaugen (kleinen Sonnenblumen-Verwandten), später von dem nach Flieder duftenden Ts’its‘ilche‘-Strauch dominiert. Insgesamt ist es ein Blütennektar-Mix von rund 800 Pflanzenarten. „Das schmeckt man", versichert Luís, der dem einen oder anderen Taxigast eine Kostprobe verkauft. Wie die meisten hier lebt seine elfköpfige Familie sowohl vom Tourismus als auch von Imkerei und Landwirtschaft.
Doch wie kann in dieser trockenen Region überhaupt etwas gedeihen? Im ganzen Norden Yucatáns gibt es nicht einen Fluss – zumindest keinen, den man sehen kann. Das Geheimnis ist unterirdischer Natur. Auf die Spur kommt man ihm etwa in Dos Ojos (spanisch für „Zwei Augen"), ganz in der Nähe von Tulum. Ein Felsenhügel, bedeckt von Bäumen, Sträuchern, Farnen. Darunter, parallel zum Boden, schneidet ein rund zwei Meter hohes Schattenband die kleine Landschaft in zwei Hälften. Läuft man darauf zu, erkennt man in dem schwarzen Riss die breite Öffnung. Man tritt hindurch und steht in einer Grotte.
Genau genommen, handelt es sich dabei um eine Cenote (vom Maya-Wort ts’ono’ot für „heilige Quelle"), eine eingestürzte Höhle mit Süßwasserreservoir. Die meisten sind um die 15, manche über 100 Meter tief. Tausende davon gibt es in Yucatán, denn vor Jahrmillionen war die Halbinsel ein kilometerdickes Korallenriff. Durch chemische Prozesse zwischen Regen, Luft und Salzen löst sich der weiche Kalk. So entstanden und entstehen Löcher, Höhlen, Tunnel, Gänge.
Mythenhafter „Strom der Maya"
Dass letztlich fast alle dieser Hohlräume miteinander verbunden sind und damit ein gigantisches unterirdisches System bilden, weiß man erst seit ein paar Jahren. Die Forschungen dazu hatten hier in Dos Ojos begonnen. Das bekannte Streckennetz des unsichtbaren „großen Stroms der Maya" ist mittlerweile über 1.000 Kilometer lang. Leider wird er aus Bequemlichkeit und Ignoranz vielerorts zur billigen Abwasserentsorgung missbraucht. Obwohl es in der ersten der zwei Götteraugen-Höhlen ziemlich hell ist, muss sich der Menschenblick erst an das Licht im Inneren gewöhnen. Je schärfer er wird, umso mystischer und zauberhafter scheint dieses Wunder der Natur, das in der Maya-Religion den Eingang in die Unterwelt bedeutete: bizarre Kalkgebilde, die in allen Formen von der Decke wachsen, darunter strahlend blaues Wasser, so klar, dass man trotz respektabler Tiefe den Grund erkennen kann. „Die Ursache dafür ist eine dicke Schicht von feinstem Sedimentgestein. Das Regenwasser, das nach hier unten sickert, wird dabei extrem gefiltert", erklärt Oliver Valls von Koox Diving aus Tulum.
Der 30-Jährige aus Katalonien und der Schweiz hat als geprüfter Höhlentauchlehrer seinen Traumberuf gefunden. Daheim in Zürich schmiss er dafür eine Managerkarriere. Statt feinem Zwirn und elegantem Leder trägt er seit einem Jahr entweder Taucherkluft oder T-Shirt, Shorts und Flip-Flops und fühlt sich damit pudelwohl. Wissen, Können wie auch seine gute Laune machen Oliver zum begehrten Guide – heute für ein Schnorchelabenteuer.
Los geht’s mit der Taschenlampe. Gebraucht wird diese erst in den Höhlenkammern ohne Tageslicht. Das konstant 25 Grad warme Wasser wirkt verblüffend kühl bei knapp 40 Außenhitzegraden. Die Unterwassersicht ist grandios. Sie reicht bis zu 100 Meter weit. Man schwimmt vorbei an Stalagmiten aus frühen Trockenperioden, die nun vom Grund emporzuwachsen scheinen. Dagegen reichen manche Stalaktiten von der Höhlendecke bis zur Wasseroberfläche und darunter. Auch komplette Tropfsteinsäulen sind entstanden.
Klar, dass man in diese Anderswelt Mythen, Märchen und Legenden projizierte. Die Menschenknochen, die hier gefunden wurden, belegen einen weiteren grausigen Opferkult der alten Mayas. In der Hoffnung auf Regen schickten sie junge Frauen und Männer in das Reich des Gottes Chaak, indem sie sie ertränkten. Die blinden Höhlenfische mussten das zum Glück nicht sehen. Eine Art davon lebt heute noch in den Cenoten von Dos Ojos. Die fehlende Sehfähigkeit dieser Salmler hat die Natur mit einem besseren Geschmacksinn kompensiert. Wer weiß, wo sie gerade speisen – für die Schnorchler haben sie wohl heute keine Zeit. Dafür tummelt sich ein ganzer Schwarm von aufgeweckten Fledermäusen über deren Köpfen.
Nach noch mehr Tieren klingt das nächste Ausflugsziel: Cenote Manatí. „Leider ist es lange her, dass man hier friedlich grasende Seekühe treffen konnte", bedauert Oliver das Fernbleiben der liebenswerten Meeressäuger. Das nach ihnen benannte Kalkloch – auch bekannt als Casa Cenote – lohnt dennoch den Besuch. Da die Höhlendecke längst verschwunden ist, präsentiert sich das türkise Wasser völlig offen. Durch einen etwa 50 Meter langen Tunnel ist es direkt mit dem Meer verbunden. Der Laie sieht nur einen hübschen See am Strand, umringt von üppigem Mangrovenwald. Genau der macht den Unterwasserausflug spannend. Denn da, wo eben in der Luft noch dichtes, leuchtend grünes Laub war, ragen unterhalb der Wasseroberfläche dunkelbraune Stelzenwurzeln wie Tentakeln oder umgedrehte Dornenbüsche in den Schwimmkanal. Umringt von Felsenwänden, fühlt man sich an den engsten Stellen wie in einem Canyon.
Ein Spitzkrokodil liegt am Ufer
Oliver winkt und zeigt bedeutungsvoll nach unten, wo sich plötzlich Spiegelbilder zeigen. Obwohl man selbst im Wasser ist, schaut man auf eine reflektierende Fläche. „Dieses Phänomen heißt Halokline", erklärt der Tauchexperte später. Besonders gut könne man es in der Regenzeit beobachten. „Die tollen optischen Effekte entstehen bei der Überlagerung von leichtem Süß- auf schweres Salzwasser", sagt Oliver – und streckt abermals den Zeigearm, diesmal Richtung Ufer. Nur wenige Meter hinter ihm liegt dort ein mittelgroßes Krokodil und nimmt ein Sonnenbad. „Es lebt schon eine Weile hier, jagt Nasenbären in der Nacht und liegt am Tag nur faul herum", berichtet Geronimo Ely Salazar, dessen Familie das Grundstück gehört. Panchito, so sein Name, ist ein vierjähriges männliches Spitzkrokodil, eine gefährdete Art, die als vergleichsweise harmlos gilt. „Wer es nicht ärgert, wird keine Probleme mit ihm haben", sagt der 33-Jährige. Wenn man bedenkt, wo überall man in der Gegend Abenteuer erleben kann, ist klar, dass es abends in den Bars und Kneipen von Tulum jede Menge zu erzählen gibt. Der „Herabstürzende Gott", dem man in Tulums Ruinenstadt direkt am Meer einen großen Tempel weihte, scheint in seiner Kopfüber-Position der ideale Schutzpatron zu sein für alle Unterwasseraktivisten – sowohl beim Tauchen als auch danach beim „Absturz".