Tea Master Roland Pröh führte vor zwei Jahren im „Regent Hotel" den Viktorianischen Afternoon Tea ein. Die von Lady Anna Maria Stanhope erfundene, ursprüngliche Version des geselligen Teetrinkens bietet bei Tee, Sherry und Häppchen Muße für den Genuss und den gepflegten „Gossip" im kleinen Kreis.
Ein Afternoon Tea im „Regent" am Gendarmenmarkt ist wie ein Spa-Besuch. Man entschwindet im Hotel in eine Welt, die nur wenig mit der „da draußen" zu tun hat. Drei, vier Stunden später tritt man entschleunigt und erholt wieder heraus, und das geschäftige Leben darf weitergehen. Gut, das heiße Wasser wird in Form von Tee gereicht und innerlich genossen. Und auch die eleganten Kleinigkeiten auf den Etageren sind erheblich köstlicher als das, was üblicherweise in badebetonten Wohlfühloasen serviert wird.
Zum Zeitsprung ins 19. Jahrhundert, in die Epoche von Lady Anna Maria Stanhope, der Duchess of Bedford und Erfinderin des Afternoon Tea, trägt das Ambiente mit der bordeauxrot gehaltenen Tea Lounge außerordentlich bei. Der Raum ist mit Marmor, Spiegeln, Gemälden und Biedermeier-Möbeln eingerichtet. Sherry-Karaffe, Kaminfeuer und Klaviermusik im Hintergrund tun ein Übriges für die noble Atmosphäre. Tea Master Roland Pröh heißt uns zum Viktorianischen Afternoon Tea formvollendet willkommen und umhegt uns mit allumfassendem Tee- und historischem Wissen.
Diese ursprüngliche Form des Afternoon Tea, die Pröh vor gut zwei Jahren an den Wochenenden etablierte, ist eine schöne Angelegenheit für eine allenfalls mittelgroße Runde. So entsteht genau die Intimität, die für die schönste Begleitung einer guten Tasse Tee unabdingbar ist: den „Gossip", den gepflegten Klatsch und Tratsch über Gott und die Welt. Das habe ich zuvor schon mit einer Freundin à deux bei einer „Royal Tea Time" mit Champagner sowie herzhaften und süßen Häppchen vor dem Kamin getestet. Funktioniert bestens!
Unter der Woche ist die Tea Lounge gut besucht, am Wochenende häufig ausgebucht. Reservieren ist empfehlenswert, beim Viktorianischen Afternoon Tea unabdinglich. Denn das Regent ist einer der wenigen Orte in der Stadt, an dem seit zehn Jahren der Afternoon Tea täglich zelebriert wird. Sogar mitten im Sommer: Dann sitzen die Gäste auf der Terrasse, nippen am Eistee und nehmen fruchtige Kleinigkeiten zu sich. Das hat sich herumgesprochen.
Die Viktorianische Tea Time für drei oder mehr Personen funktioniert etwas anders als die „normale", erläutert Roland Pröh. Es werden ebenfalls Sandwiches, Scones, Küchlein und herzhafte Häppchen gereicht. Aber es gibt einen Sherry dazu, so wie es von Lady Anna Maria Stanhope überliefert ist. Anstelle des Services am Platz kommen eine große Kanne Tee und die Speisen direkt zusammen auf den Tisch. Denn schon bei Lady Anna Maria Stanhope blieben die Diener vor der Tür. „Die Duchess schenkte ihren Gästen selbst ein", erläutert Roland Pröh. Eigentlich wollte sie die lange Pause zwischen frühem Mittag- und spätem Abendessen mit einer Mahlzeit in ihren Privatgemächern überbrücken. Das war ihr allein dann wohl doch zu langweilig. Sie lud Freunde dazu ein. Die waren angetan; ein neues gesellschaftliches Ereignis und Ritual, der Afternoon Tea, war entstanden.
Von herzhaft bis süß genüsslich hinaufessen
Jeder trinkt heute wie damals denselben Tee, die Blätter bleiben in der Kanne. Der Tee wird durch ein kleines Handsieb abgegossen. Deshalb ist es sinnvoll, eine Sorte zu wählen, die nicht zu bitter nachzieht. Wir lassen uns von Roland Pröh einen zarten Darjeeling Second Flush empfehlen. Damit der Tee heiß bleibt, wird die Kanne in einen „Tea Cosy", einen „Stoffmantel", gehüllt. „Sollte der Tee im Laufe der Zeit zu bitter werden, wird mit heißem Wasser aufgegossen." Das kommt in der Tea Lounge aus einem großen, goldenen Samowar, der auf einem Buffet zahlreichen Teedosen Gesellschaft leistet. Ronnefeldt sowie Fortnum & Mason werden vorrangig aufgegossen. Mit Tregothnan ist sogar der einzige auf der Insel, in Cornwall, gewachsene Tee im Angebot.
Vom Geschirr bis zu den schwarzen Servietten hat alles auf dem Tisch seine eigene Bedeutung und Geschichte. Anders als bei der Duchess of Bedford wurde das Streublümchen-Geschirr für das „Regent" aus einzelnen Sammeltassen-Gedecken zusammengestellt. Roland Pröh kaufte das Porzellan teils auf dem Flohmarkt, teils stellten es Mitarbeiter und ein Stammgast zur Verfügung. Die Ausstattung ist geradezu eine Familienangelegenheit: Pröhs Mutter stiftete die Kristallkaraffe „als Dauerleihgabe" für den Sherry, sein Ehemann, „ein gelernter Herrenschneider", nähte die Tea Cosys aus einer cremefarbenen Tagesdecke. Eine Hotel-Mitarbeiterin brachte von Oma gehäkelte Deckchen als Tassen-Untersetzer mit. Die schwarzen Stoffservietten wiederum sollen an den früh verstorbenen Prinzgemahl Albert erinnern, nach dessen Tod Queen Victoria nur noch Schwarz trug.
Gilt beim Afternoon Tea eigentlich die Regel, sich durch die Etagere vom herzhaft Soliden zum süßen Tüdelüdelüt hinaufzuessen, geht es bei uns deutlich legerer zu. Wer mag, pickt sich ein Schokomousse-Tütchen von oben weg, nascht zuerst eine Pistazienecke oder ein Lemon-Maracuja-Tartelette. Ich freue mich dennoch in der ersten Runde auf ein klassisches Gurken- und Lachs-Sandwich vom unteren Teller. Ein Eiersalat-Sandwich und eines mit Schinken-Käse möchten ebenfalls verspeist werden. Ich fühle mich ladylike.
Vielleicht weil ich mit der Tea-Time-Expertinnen-Freundin aus Asien unterwegs bin? Sie hat sich dort schon durch einige Afternoon Teas der Hotels hindurchgetrunken. Sie legt mit der Silberzange vor und verspeist die Sandwich-Streifen mit Messer und Gabel. Aber keine Bange: Alles ist in Fingerfood-Größe portioniert, und keiner Lady fällt ein Stein aus dem Diadem oder die Haube vom Kopf, wenn ein Tramezzino mit Sour Cream und Wildkräutern oder ein „Coronation Chicken" aus der Hand gegessen werden. Wir sind ja unter uns.
Nur eine Regel ist ehern: Die Scones werden mit der Hand aufgebrochen! Ich freue mich auf das warme Hefegebäck, das in der Serviette auf uns wartet. Jetzt noch den einen oder anderen Löffel von der Cornish Clotted Cream und von der hausgemachten Erdbeerkonfitüre aufgehäufelt – so lässt sich’s vollgültig teatimen. Der dicke Rahm aus unpasteurisierter und unhomogenisierter Milch ist von ziemlicher Dichte und hierzulande kaum erhältlich. So ist alles ein umso größerer Genuss. Die Erdbeerkonfitüre ist kompakt eingekocht und hat kleine Säurespitzen – delicious!
Leidenschaftlicher Teetrinker auch privat
Scones-Liebhaber hingehört: Tee mit Scones und Marmelade gibt’s in der Kleinausgabe auch als „Cream Tea" für 19 Euro. Das ist eine gute Alternative für die Tage, an denen es nicht das ganz große Tea-Time-Kino für 54 Euro pro Person werden soll. Der Teekuchen mit eingelegten Früchten und Mandelkruste kann sich ebenfalls sehen und schmecken lassen. Er ist rundum saftig und kuschelt vorzüglich mit dem Darjeeling. Mein herzhafter Favorit ist das „Coronation Chicken". Einst zur Krönung von Elizabeth II. gereicht, verweist das Curry-Huhn auf Pumpernickel-Kreis spicy und cremig auf seine indischen Wurzeln.
Alles im Regent wird elegant und stilbewusst inszeniert, aber vergnügt und leichtfüßig ausgeführt. Ein Afternoon Tea dort erzieht, anders als das pompöse Ambiente vermuten lässt, die Gäste nicht und fordert keinen heiligen Ernst an der Teetasse. Wer allein kommt, setzt sich durchaus mit Pad und Kopfhörern an den Tisch. Die Gäste fotografieren sich begeistert gegenseitig vor dem riesigen Lilienbouquet im Entree oder in der Tea Lounge. Leonhard Baumert am Flügel oder Roland Pröh in seinem Cutaway sind ebenso beliebte Motive.
Wir glauben es kaum, aber es war keineswegs Roland Pröhs Plan, Teekenner zu werden. Als das Hotel von der Regent-Gruppe übernommen wurde, suchte der damalige Direktor nach einer neuen Nutzung für den Raum. Barchef Pröh schlug vor, einen Afternoon Tea zu etablieren. Ihm war klar: „So etwas muss eine Person verkörpern." Er schlug eine seiner Mitarbeiterinnen für den Job vor. Der Direktor antwortete: „Sie machen das selbst." So wurde aus Pröh erst einmal ein geprüfter „Tea Master Gold" und anschließend Herz und Auge der Tea Time. Der Porzellan-Manufaktur Meissen etwa, auf deren weißem Geschirr der „normale" Afternoon Tea serviert wird, widmete Pröh eine selbst kreierte „Meissen Blend" aus Grüntee, Rosenblättern und Rosinen aus den Weinbergen an der Elbe.
Die Teekannenbrosche mit Rosen-Bemalung am Revers, ein historisches Stück, das Pröh bei einem Besuch in der sächsischen Porzellan-Manufaktur entdeckte, darf wohl als sein persönlicher Tee-Orden gelten. „Wenn man Tee so lebt, dann hat man die Augen überall", sagt Pröh. Längst ist auch privat aus ihm ein leidenschaftlicher Teetrinker geworden: „Mein erstes Getränk am Morgen ist eine Tasse Earl Grey ohne Milch und Zucker." Kaffee kommt erst später. Nichts anderes hätten wir und die Duchess of Bedford erwartet.