Die Berlinerin Else Edelstahl organisiert Partys im Stil der 20er-Jahre – überschwänglich, auch mal exzessiv und mit viel Liebe zum Detail.
Für ein bisschen Alkohol sind 150 Millionen Reichsmark ein stolzer Preis, doch das schreckt hier niemanden ab. So ist das eben in einer Inflation: Da gibt man sein Geld lieber gleich aus, bevor es am nächsten Tag gar nichts mehr wert ist. Also wird gefeiert, als ob es kein Morgen mehr gibt – der Absinth fließt in Strömen, während auf der Tanzfläche zu Swing, Lindy Hopp oder Charleston geschwoft wird. Willkommen in den 20ern. Auf den Partys der „Bohème Sauvage" wird diese wilde Zeit der Weimarer Republik neu zum Leben erweckt, und das mit viel Liebe zum Detail. Der Rahmen ist auf das Sorgfältigste abgestimmt. Bis hin zur passenden Währung von früher, die jeder Gast am Eingang überreicht bekommt.
„Für mich als Veranstalter ist es sehr wichtig, dass es nicht einfach nur eine Mottoparty ist, sondern auch sehr viel Hintergrund dabei ist", sagt Else Edelstahl, die Initiatorin der Reihe. Sie hat sogar schon Etikettenkurse gegeben, wie man sich in den 20ern als Gast einer solchen Veranstaltung verhalten hat. Aber: „Am Ende bleibt es eine Party und kein Kultursalon", sagt Edelstahl. „Es geht hauptsächlich um Tanz, Musik und Vergnügen, aber eben auf einem anderen Niveau."
Die erste „Bohème Sauvage" fand im Mai 2006 in Berlin statt. Mittlerweile gibt es die Partys in verschiedenen Städten – außer in Berlin auch noch in Hamburg, Köln, Wien und Zürich. Bis zu 1.000 Gäste sind dabei – weltweit gibt es wohl kein größeres Event dieser Art. Auch beim Dresscode darf bei der „Bohème Sauvage" gern dick aufgetragen werden. „Zu viel gibt es bei uns nicht", meint Else Edelstahl. Hier eine Stola, da eine Perlenkette, Gamaschen und spitzer Schnäuzer: „Man darf gern auch paradiesvogelmäßig übertreiben", sagt sie. Nur eines ist verpönt: Mit einer einfachen Jeans kann man gleich wieder gehen.
Sie gibt auch Kurse in Etikette
„Wir wollen die Besucher auf eine Zeitreise mitnehmen", sagt Else Edelstahl. Sich zu verkleiden und in eine andere Rolle zu schlüpfen, machte sie schon als Kind gern, auch wenn es damals eher die Zeit der Ritter war, die sie faszinierte. Später organisierte sie Maskenbälle und Rock-’n’-Roll-Partys im Stil der 50er. Auf die 20er-Jahre kam sie eher durch Zufall. „Ich wollte so gern einmal selbst einen privaten Salon geben. Ich hatte zu Hause ein Buch über die Salonkultur, die in Frankreich schon Mitte des 18. Jahrhunderts anfing. Aber so eine Party im Rokoko-Kleid wäre wohl ein bisschen schwierig geworden, und das hätte meine Wohnung auch gar nicht hergegeben. Ich habe ja kein Schloss", sagt sie. Über eine Freundin stieß sie schließlich auf die 20er-Jahre, in denen die Salonkultur eine weitere Blüte erlebte. Im März 2004 lud sie ihre Freunde zur privaten Party, die genau 80 Jahre vorher angelegt war, im März 1924. Jeder der Gäste schlüpfte in eine Rolle; die meisten waren Bohemiens, also Künstler, Schriftsteller, Theaterleute oder Journalisten. Und jeder wählte dafür auch einen neuen Namen für seinen Charakter.
Bei ihr war es Else Edelstahl. Mittlerweile steht der Name offiziell als Künstlername in ihrem Personalausweis. Wie sie wirklich heißt, verrät die 38-Jährige nicht. Und vielleicht tut es auch gar nichts zur Sache, weil die Grenzen zwischen Fiktion und Realität längst verschwimmen. „Man muss die Zeit leben und lieben, von innen heraus. Es ist ein fließender Übergang von Else auf der einen Seite zu mir als Privatperson auf der anderen. Sie liegen beide nicht sehr weit auseinander", sagt sie. Ein bisschen etwas erzählt sie dann aber doch über sich. Geboren wurden die echte Else Edelstahl in Düsseldorf, aufgewachsen ist sie in der Eifel. Mit 18 zog sie dann nach Berlin, wo sie kurzzeitig Germanistik studierte, bevor sie zunächst bei einer Musikagentur und in einem Aufnahmestudio arbeitete und sich mit 23 Jahren schließlich selbstständig machte.
Erst nachdem die erste private 20er-Jahre-Party ein großer Erfolg wurde, fing Else Edelstahl an, sich intensiver mit dieser Epoche auseinanderzusetzen. „Was mich am meisten fasziniert, ist, wie schnell sich in dieser kurzen Zeit alles verändert hat. Es war ein Sprung in die Moderne, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat: die Kultur, die Mode, die Emanzipation der Frau", sagt sie. „Und genauso faszinierend ist natürlich, was danach passiert ist und wie schnell in den 30er-Jahren alles wieder umgeschwenkt ist."
Berlin war damals der kulturelle Nabel der Welt. Natürlich gab es auch in New York, Paris und London ein ausschweifendes Nachtleben, „aber Berlin war noch einmal eine Spur schneller, wilder und verrückter", sagt Edelstahl. Für sie gehört diese Epoche zu den prägendsten in der Geschichte der Stadt. „Die 1920er sind Teil der Berliner Identität", meint sie – allerdings sei dieses Bewusstsein erst in den vergangenen Jahren wieder langsam gereift. Veranstaltungen wie die „Bohème Sauvage" tragen sicher ihren Teil dazu bei.
„Man muss die Zeit leben und lieben"
Wer nun neugierig geworden ist und selbst einmal in das Nachtleben von vor 100 Jahren eintauchen will, für den hat Else Edelstahl einige Anziehtipps parat. „Für den Herren ist das einfachste sicherlich der klassische Smoking mit Schleife. Ansonsten kann man sich auch für ein Dandy-Outfit entscheiden – da ist man ein bisschen freier in der Farbwahl und kann statt Schleife auch einfach ein schönes Tuch tragen", sagt sie. „Bei den Damen finde ich es ebenfalls sehr schick, wenn sie in Herrenkleidung kommen, im sogenannten Garçon-Stil. Oder natürlich ein Flapper-Dress: die typischen Kleider jener Zeit, die an den Hüften nicht so eng anliegen, sondern relativ lose am Körper hängen. Wobei es nicht immer unbedingt Pailletten, Fransen und Perlen sein müssen, sondern gern auch ein bisschen schlichter und elegant sein darf."
Die Partys sind allerdings nicht Else Edelstahls einziges Projekt. Die Berlinerin organisiert auch Firmenveranstaltungen zum Thema 20er-Jahre und stellt das Berlin Burlesque Festival sowie das Hamburg Burlesque Festival auf die Beine. Außerdem ist sie Co-Produzentin des „Kabaretts der Namenlosen" – einer Show, die ebenfalls zu jener Zeit spielt, sehr düster und sehr erotisch.
„Im Kabarett zeigen wir die dreckige Seite Berlins in den 1920ern. Es geht um Exzesse, Drogen und Nacktheit", erklärt Edelstahl, „so in die Richtung von Anita Berber." Die Tänzerin galt als die wildeste Frau der Weimarer Republik. Es sind genau diese Facetten, die für Else Edelstahl die besondere Faszination der 1920er-Jahre ausmachen. „Ich kann das nicht mehr hören – die ,Goldenen Zwanziger‘, dieses glamouröse Great-Gatsby-Ding", sagt sie mit Blick auf den berühmten Roman von F. Scott Fitzgerald, in dem die Feiern ebenfalls äußerst opulent ausfallen. „Ich finde es ein bisschen schade, dass viele ausschließlich das Glamouröse sehen. Für mich persönlich sind in dieser Epoche andere Dinge viel spannender", sagt sie. Roaring Twenties, die Wilden Zwanziger, treffe es deshalb viel besser.