Der seit fast 80 Jahren anerkannte Kneipp- und Luftkurort Füssen im Allgäu entwickelte jetzt auf Basis der traditionsreichen Kneipptherapie eine neue Präventionskur für besseres Schlafen. Das Programm wurde von der Kurärztlichen Vereinigung offiziell als Kompaktkur anerkannt.
Der Tag neigt sich. Sanft legt der Himmel sein schönstes Licht auf den Hopfensee. Der Zauber der blauen Stunde. Eine vertraute Stimmung, die Claudia Ziegler an ihre Kindheit erinnert. „Als Kinder gingen wir abends mit der Mutter an den See, um den Tag ausklingen zu lassen und im kalten Nass mutig den Storchengang zu üben. Ein Gewohnheit, die uns wie eine Gute-Nacht-Geschichte auf den Schlaf einstimmen sollte." Später praktizierte Claudia Ziegler mit ihren eigenen Kindern dieses Ritual und schwört seitdem auf das heilende Wasser für einen gesunden Schlaf. Die Gesundheitspädagogin gehört zum Therapeutenteam eines Schlafnetzwerkes in Füssen.
War Füssen bisher vor allem für das verträumte Märchenschloss Neuschwanstein bekannt, steht die Stadt heute für das hochaktuelle Gesundheitspotenzial Schlaf. Selbst der für die Region bekannte Märchenprinz Ludwig II. machte schon die Nacht zum Tag, wenn er durch seine Gemächer wandelte und damit gegen seine innere Uhr lebte. Heute ist gestörter Schlaf ein Massenphänomen mit hohem Gesundheitsrisiko. „Erholsamer Schlaf ist essenziell für die Funktion von Immunsystem, Stoffwechsel und Hormonen, und beeinflusst in hohem Maße die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden der Bevölkerung", betont Professorin Angela Schuh von der Ludwig-Maximilian Universität in München. Gemeinsam mit Wissenschaftlern der LMU hat der Kneippkurort Füssen herausgefunden, wie sich die Schlafqualität verbessern lässt. Aus ihrer Studie „Gesunder Schlaf durch Innere Ordnung" schloss sich eine dreiwöchige Vorsorgekur zur Prävention von nicht-organisch bedingten Schlafstörungen an. Diese legt den Fokus auf den Lebensstil und daraus ableitende Beeinträchtigungen des Schlafes. Betroffen seien besonders Menschen, die ein chronisch überfordertes und „übermüdetes" Leben führten.
Ausgangspunkt des Präventionsprogramms ist die Idee der „inneren Ordnung" – das Kernstück der ganzheitlichen Gesundheitslehre von Sebastian Kneipp. War doch der Allgäuer Pfarrer längst nicht nur der „Wasserdoktor", der seinen Patienten kalte Güsse und Bäder verordnete. Über die „innere Ordnung" wollte Kneipp den Menschen einen gesunden Lebensstil näherbringen. Das sei auch das Ziel des Füssener Präventionsprogramms, die Balance zwischen den inneren Ressourcen und den Anforderungen von außen wieder herzustellen. Denn die Zahl der Patienten mit lebensstilbedingten Schlafstörungen nehme deutlich zu, meint Dr. Hans-Martin Beyer, der das täglich in seiner Praxis erfährt. Der Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin führt die Aufnahmegespräche für das Programm und hört von verschiedensten seelischen Nöten im Lebenskontext der Menschen. „Bei Schlafstörungen handelt es sich um eine komplexe Situation mit einem komplexen Problem. Häufige Ursache ist massive Überforderung. Im Zeitalter von Multitasking, Reizüberflutung, hohem Arbeitstempo und digitalem Stress wird den Menschen oft alles zu viel. Dem Spagat zwischen Beruf, Familienmanagement und Kindererziehung zu genügen, alles unter einen Hut zu bekommen, belastet vor allem Frauen", so Beyer.
„Das Kopfkissen sollte sorgenfrei sein", sagt eine chinesische Volksweisheit. Sascha Maurer nahm seine Sorgen mit ins Bett. Er stand kurz vor einem Burn-out. „Aufgrund extremer Arbeitsbelastung, ständiger Dienstreisen und Erreichbarkeit war ich emotional völlig erschöpft und habe nur noch funktioniert." Gerade noch rechtzeitig erkannte er seine Lage. Der Diplom-Psychologe und freiberufliche Berater und Coach änderte sein Lebenskonzept grundlegend und baute eine lokale Coaching-Praxis auf.
Ordnung ist nicht nur das halbe, sondern das ganze Leben. Kneipps Gedanke von der Inneren Ordnung meint die Lehre vom geregelten Leben mit einem strukturierten Rhythmus und dem Maß halten mit Stress und Überforderung. Seine Erkenntnisse baute er auf fünf Säulen auf, dem Zusammenspiel von Wasser, Bewegung, Ernährung, Heilpflanzen und Balance.
Schon vor über 100 Jahren mahnte er: „Kaum irgendein Umstand kann schädlicher auf die Gesundheit wirken als die Lebensweise unserer Tage: ein fieberhaftes Hasten und Drängen aller im Kampfe um Erwerb und sichere Existenz. Es muss das Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Lebensweise und dem Verbrauch an Nervenkraft."
Erkennen der eigenen chronobiologischen Gesetze
Sascha Maurer hat sich die Kneippsche Lehre zu eigen gemacht und fand zurück zu seinem Schlaf. Er leitet das ordnungstherapeutische Seminar im Rahmen des Füssener Schlafprogramms. Das Erkennen der inneren Uhr, der chronobiologischen Gesetze, die naturgemäß in uns angelegt sind, das Achtgeben auf den eigenen Rhythmus, praktizierte Rituale und Regelmäßigkeit beim zu Bett gehen, hält er für sehr wichtig. „Lebe ich beispielsweise gegen meinen Chronotyp als Eule oder Lerche oder überschreite ich mein optimales Schlaffenster, dann komme ich aus dem Takt", erklärt Maurer. „Wie lange sehe ich abends noch fern oder arbeite am Computer? Wie gestalte ich das Umfeld meines Bettes? Dunkle ich den Schlafraum mit Vorhängen ab, achte ich auf gedämpftes Licht? Wie bereite ich mich auf den Schlaf vor? Signalisiere ich meinem Körper, meinem Geist, dass sie nun nichts mehr zu leisten haben, dass sie den Schlaf begrüßen und willkommen heißen dürfen. Alles Fragen, die Einfluss auf die Schlafqualität haben."
Um „Runterzukommen", macht Gesundheitspädagogin Claudia Ziegler gern einen Abendspaziergang. Gute Erfahrungen hat sie auch mit schlaffördernden, pflanzlichen Heilmitteln gemacht wie ätherische Öle, Heiltees mit der beruhigenden Wirkung von Baldrian, Hopfen, Melisse, Lavendel oder Johanneskraut.
„In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist und umgekehrt", predigte Sebastian Kneipp. „Ihm ging es auch darum, Achtsamkeit uns selbst und anderen gegenüber zu schulen, unsere Körperhaltung, unsere Sprache, unseren Geist. Was fühle und was denke ich, worüber und wie spreche ich? Nehme ich mich und meine Körpersignale wahr? Wie steuere ich meine Emotionen?", so Sascha Maurer. Er rät, den Tag wirklich abzuschließen, angespannte Erregung wie Wut, Aggression, Ärger vor dem Zubettgehen einen Ausdruck finden zu lassen. Ebenso würden Affirmationen oft stärkend wirken. Auf die höre der Körper und verhalte sich entsprechend, beispielsweise wenn man ihm sagt: „Am Tag löse ich Probleme. In der Nacht löse ich mich von den Problemen." Problematisch sei es, nachts auf die Uhr zu schauen, dann könne es passieren, dass die innere, geistige Affenbande außer Rand und Band gerät und das Gedankenkarussel sich sofort wieder drehe. So sei ein Teufelskreis vorprogrammiert: „Immer wenn ich wach werde, schaue ich auf die Uhr. Immer wenn ich auf die Uhr schaue, bin ich wach. Immer wenn ich wach bin, ist es vorbei mit dem Schlaf." Die Teilnehmer erlernen konzentrierte Achtsamkeitsübungen, Atem- und Meditationsverfahren sowie Entspannungstechniken. Auch geführte Traumreisen oder Glaubenssätze können das Einschlafen erleichtern: „Ich lasse den Geist ruhen" oder „Ich werde gut und ausreichend schlafen."
Allerdings sollten hochgradige Schlafstörungen, hervorgerufen durch schwere Belastungssymptome, erschütternde Erlebnisse von Unfall, extremer Gewalt oder Terror psychotherapeutisch aufgearbeitet werden. Die Geschehnisse seien tief im Körper, in den Zellen abgespeichert und die Schlaflosigkeit Ausdruck einer ständigen Alarmbereitschaft. Menschen, die auf Gefahr und Bedrohung lange konditioniert sind, könnten dennoch versuchen, versöhnlich mit ihrem Körper zu sprechen, rät Hans-Martin Beyer. „Was mir geschah, ist schlimm. Heute schütze ich mich. Ich genese durch vertrauensvollen und erholsamen Schlaf."
Mit Wassertherapie zu besserem Schlaf
Der Physiotherapeut und Kneipp-Bademeister Andreas Eggensberger leitet das Biohotel in Hopfen am See mit dem dortigen Therapiezentrum. Als er vor zwölf Jahren in Heidelberg an einer Weiterbildung für Mitarbeiter medizinischer Berufe teilnahm, war er schockiert. „Krankenschwestern klagten über massive Schlafstörungen, verursacht durch den Schichtdienst", erzählt Eggensberger. „Sie nahmen in ihrer Verzweiflung aus dem Medizinschrank Valium zu sich, wodurch sich erst recht kein erholsamer Schlaf einstellte." An solchen Leidensdruck erinnert sich auch Andreas Eggenberger sehr genau, als finanzielle Sorgen ihm den Schlaf raubten. Er setzte auf Kneipp, experimentierte und praktizierte konsequent die Wasser-Anwendungen. Und es funktionierte mit dem Schlaf. Andreas Eggensberger wollte die Kneippsche Idee wieder aufleben lassen und dabei herausfinden, welchen Einfluss die Wassertherapie auf die subjektive Schlafqualität habe und auf das vegetative Nervensystem.
„Ein wenig verrückt muss man schon sein, als Hotelier eine Studie zur Hydrotherapie zu betreiben", meint Andreas Eggenberger. Er initiierte eine dreimonatige Studie. „Wir analysierten zunächst die Schlafhygiene über Fragebögen und nahmen viele Messwerte auf bei strengem Einhalten der Maßnahmen. Zum Beispiel den Zeitpunkt, wann der Proband zu Bett geht. Typischer Fall bei Männern: Man ist müde, setzt sich vor den Fernseher, schläft ein, wacht auf und hat dann meist schon die erste Tiefschlaf-Phase hinter sich. Kein Wunder, wer dann im Bett nicht mehr einschläft." Weiterhin wurde die vegetative Ausgangslage eines Probanden geprüft, indem er einen Fuß in kaltes Wasser stellte, zwei Minuten bei 16 Grad oder drei Minuten bei 18 Grad. Im Anschluss erfolgte ein Test im Minutenabstand über die Wiedererwärmung des Fußes ohne jegliche Bewegung. „Bei Rauchern beispielsweise dauerte die Wiedererwärmung sehr lange, mitunter schon mal bis zu zwei Stunden.
Auch der Menschentyp spielt eine Rolle. Ist jemand ein „Pükniker" meist vollschlank, tendenziell ein bisschen der „Hochdruckler", dann erwärmt er sich sehr schnell wieder. Dem ist schnell warm, ein Frischluftfanatiker. Den Leptosomer Typ friert es hingegen. Er hat zu wenig Naturwärme. Und diese Naturwärme gelte es zu trainieren, indem man Wechselgüsse macht und die Natur anregt, sich selbst zu erwärmen, betont Andreas Eggensberger. „Bei warmem Wasser öffnen sich die Poren und die Muskeln erwärmen sich. Das kalte Wasser hingegen schließt die Poren, der Körper produziert Eigenwärme und fördert sie effektiv dahin, wo sie gebraucht wird", so Eggensberger. „So verursachen die Kneippschen Anwendungen von innen heraus durch die Regulationsfähigkeit des Körpers die Erwärmung." Um diese „Naturwärme", wie sie Kneipp nannte, zu erreichen, werde dieses Auf und Ab von warm und kalt trainiert. Die Reize des Wassers senden über die Haut Signale an das Gehirn, die wiederum verschiedene Organe stimulieren.
Nachhaltig positive Effekte
Um herauszufinden, welchen Einfluss Hydrotherapie auf das Nervensystem und den Schlaf hat, führte Andreas Eggensberger mit den Probanden drei Wochen lang jeden Tag Wechselgüsse durch, die sukzessive gesteigert wurden, um das Vegetativum anzutriggern. „Wir schießen das Vegetativum im Bezug auf den Sympathikus, der sich bei kaltem Wasser noch mal entfaltet, nach oben. Die Idee ist, sich rasch wieder umzustellen, dass wir es dann wieder nach unten bekommen, weil unten kann man nicht gleichzeitig aktiv sein, sodass der Parasympathikus jetzt seinen Auftritt hat. Der drückt auf die Bremse, lässt uns zur Ruhe kommen. Ruhe bedeutet Entspannung, im besten Fall auch Schlaf."
Es gäbe aber auch Menschen, deren Körper sich den Temperaturunterschieden zwar gut anpassen könne, die jedoch nicht in der Lage seien, sich im Schlaf zu erholen. Bei Störungen der Nachtruhe empfiehlt Andreas Eggensberger Wassergüsse oder Kaltwaschungen, da sie auf das vegetative Nervensystem und damit auch auf das Schlafzentrum einen harmonisierenden, beruhigenden Einfluss hätten. „Deshalb sollte wer nachts aufwacht und nicht mehr einschlafen kann, es mit einem kalten Kniebad, einer kalten Unterkörper- oder Bauchwaschung, einem Knieguss oder einem kalten Halbbad versuchen. Danach das Wasser auf der Haut nur abstreifen und sofort wohlig ins Kissen sinken."
In einem sind sich die Schlafexperten aus den unterschiedlichen Fachbereichen einig. Nichts in der westlichen Medizin sei so ganzheitlich wie die Kneippsche Gesundheitslehre. „Sie ist keine Pillenverordnungstherapie, keine Eins-zu-Eins-Wissenschaft, sondern setzt die Funktionskreise im menschlichen Körper in ständige Bewegung", erklärt Hans-Martin Beyer. „Wir wollen mit den Kurgästen individuell und sinnvoll Lebensstile korrigieren, den Kern eines inneren Friedens wiederentdecken, und ihnen etwas Handwerkszeug im Umgang mit ihrem Alltagsstress an die Hand geben."
Die Ergebnisse des Füssener Kneipp-Präventionsprogramm in Hinblick auf nicht-organische, lebensstilbedingte Schlafstörungen konnten sich sehen lassen. Nachhaltig positive Effekte bezüglich Schlafqualität, Wohlbefinden, chronischer Stressbelastung und weiterer Zielgrößen konnten wissenschaftlich nachgewiesen werden. Das Programm wurde von der Kurärztlichen Vereinigung offiziell als Kompaktkur anerkannt. Das nächste Kneipp-basierte Präventionsprogramm „Gesunder Schlaf durch innere Ordnung" findet in diesem Jahr vom 8. bis 29. März statt, darauf folgend im September 2020.