Für das Tanzfestival Saar vom 5. bis 10. März haben Ballettdirektor Stijn Celis und Kompaniemanager Klaus Kieser vom Saarländischen Staatstheater internationale Ensembles eingeladen, um die Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes zu zeigen.
Saarbrücken, die Hauptstadt des kleinsten Flächenlandes in der Bundesrepublik, setzt auf den Tanz. Das liegt nicht allein am Saarländischen Staatsballett, der Ballettkompanie des Saarländischen Staatstheaters, das seit 2014 unter der Leitung von Stijn Celis höchst erfolgreich in Rede steht. Während die deutsch-französischen „Perspectives" neben Tanz allgemein die Bühnenkünste einbeziehen und eine lange Tradition haben, findet das biannuale Tanzfestival Saar erst zum dritten Mal statt. Ins Leben gerufen wurde es von Ballettdirektor Celis und Kompaniemanager Klaus Kieser. Ein erweitertes Bild vom Tanz entwerfen, seine Vielfalt zeigen, neue Entwicklungen vorstellen, das, sagen beide, sei die Vision des Festivals. Und sind stolz auf Kompanien, die dem Ruf an die Saar bereits gefolgt waren: Rosas aus Brüssel, Introdans aus Arnheim, Jant-Bi Jigeen unter Leitung von Germaine Acogny aus dem Senegal, der Grande Dame des afrikanischen Tanzes, Abou Lagraas Gruppe La Baraka aus Annonay. Dass die sechs Tage des diesjährigen Festivals dem nicht nachstehen, davon sind Stijn Celis und Klaus Kieser überzeugt.
Was aber gibt es im diesjährigen Tanzfestival Saar zu sehen? Erst im Nachhinein, so bekennt das Kuratorenduo, habe sich eine inhaltliche Klammer für das dritte Tanzfestival Saar ergeben: Es geht um starke Frauen in und hinter den Werken. Den Anfang macht jedoch Stijn Celis. Im Eröffnungsabend „Future World" stellt er im Großen Haus des Staatstheaters die Uraufführung „Clara" vor. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der düsteren Erzählung „Der Sandmann" des Romantikers E. T. A. Hoffmann: Sein Advokat Dr. Coppelius forscht nach der perfekten Kunst-Frau. Celis fragt in seiner abstrakten Traumvision, was geschieht, wenn die Welt durch Avatare überschwemmt wird. Dies zu Musik des japanischen Elektroniktüftlers Isao Tomita und bulgarischen A-cappella-Gesängen sowie Lounge-Musik von Max Richter und Peder Mannerfelt. Komplettiert wird der Premierenabend durch ein Werk des amerikanischen Ex-Forsythe-Tänzers Richard Siegal, eines der interessantesten Choreografen der Gegenwart. Er überlässt dem Saarländischen Staatsballett sein 2014 für das Staatstheater Darmstadt kreierte Stück „Liedgut": ein Gesamtkunstwerk aus elektronischer Musik von AtomTM (ein Pseudonym des DJs und Komponisten Uwe Schmidt), Lichttechnologie und Spitzentanz in einer futuristischen Ästhetik.
Auch der Franzose Noé Soulier, in Kanada klassisch, in Brüssel zeitgenössisch ausgebildet, ist ein international geschätzter Choreograf. Zudem hat er an der Sorbonne einen Master in Philosophie erworben. In die Alte Feuerwache bringt er „The Waves" von 2018 mit, eine Arbeit für sechs Tänzer und in ganz freier Bewegungssprache, die der Zuschauer entschlüsseln muss. Begleitet zur Percussion vom Ensemble Ictus, können Kontakte zwischen Umarmung und Würgegriff changieren. Ab Juli 2020 wird Soulier seine originelle Recherche am Centre national de danse contemporaine in Angers fortsetzen.
Eröffnung mit „Future World"
Das Gastspiel des Ballett Theaters Basel im Großen Haus gilt wieder einer starken Frau, einer von Weltgeltung: „Carmen". Und auch der Schöpfer dieses Tanztheaters trägt einen großen Namen. Der Stockholmer Johan Inger, 20 Jahre älter als Noé Soulier, gehört – nach seiner Karriere als Tänzer beim Nederlands Dans Theater und künstlerischer Direktor des schwedischen Cullberg-Balletts – zu den aktuellen Fixsternen der Choreografie. Für seine sinnlich glühende „Carmen", 2015 uraufgeführt in Madrid zu einer Musikmixtur von Georges Bizet, Rodion Schtschedrin und Marc Álvarez, hat er den als Tanz-Oscar gehandelten Prix Benois de la Danse gewonnen. In einer Arena der verschiebbaren Spiegel doppeln sich die dramatischen Konfrontationen der Akteure, ob in Glitzerkostümen oder als Todesgestalten unter grotesken Masken, alles in dynamischem, harmonisch rundem Tanz. Im Trio von Carmen, Don José und dem Toreador entladen sich dann die gestauten Emotionen.
Den Schwestern Kristina und Sadé Alleyne aus London, die seit 2014 als Alleyne Dance firmieren, gehört mit „A Night‘s Game" die Alte Feuerwache. Das Duo mischt, dem künstlerischen Credo folgend, Einflüsse von athletischem Furor und afrokaribischer Lockerheit über Hip-Hop und indischen Kathak bis zum Feuer Lateinamerikas und zu zirzensischen Elementen. Worauf es hinausläuft, wenn sich eine der Schwestern auf einem Stuhl als einzigem Requisit rhythmisch Brust und Oberschenkel schlägt und ihre Partnerin erwartet, das sollte man selbst sehen.
Die Spannung des Ungewöhnlichen verspricht auch Ambra Senatores Einladung zu einer überraschenden „Promenade au Musée". Damit erlebt die Man-Ray-Ausstellung der Modernen Galerie im Saarlandmuseum ein unerwartet tänzerisches Finale. Die Italienerin Ambra Senatore, seit 2004 Trägerin eines Doktortitels in zeitgenössischem Tanz, leitet seit 2015 das Centre chorégraphique national in Saarbrückens Partnerstadt Nantes und liebt Events an besonderen Orten. Getanzt hat sie unter anderem bei ihrem französischen Kollegen Jean-Claude Gallotta.
Auch ihn, eine der prägenden Figuren des modernen Tanzes nicht nur seiner Heimat, begrüßt das Tanzfestival Saar. Im Großen Haus präsentiert er mit „My Ladies Rock" von 2017 seine Hommage an weibliche Heroen der Rockmusik. Sie alle haben mit Klartext und Courage die Gesellschaft attackiert. Das Spektrum reicht von Wanda Jackson und Brenda Lee über Janis Joplin, Aretha Franklin, Laurie Anderson, Patti Smith, Nico und Joan Baez bis Nina Hagen und Tina Turner. Deren Song „Proud Mary" etwa bietet ebenso Anlass zu einem fröhlich-verrückten Rocker-Porträt wie andere Evergreens der Musikgeschichte, stets in zeitgemäßen Kostümen vom Kurzkleidchen bis zu Jeans. Formiert hat Gallotta seine Groupe Émile Dubois nach einem Aufenthalt in New York Ende der 70er, beeinflusst von Merce Cunningham und dem postmodernen Tanz. Im Maison de la Culture von Grenoble begann 1981 eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. 1984 wurde Gallottas Zentrum als eines der ersten in Frankreich zum Centre chorégraphique national erhoben. Seine gut 90 Stücke behandeln Kino, Video, Literatur, getanzt auch zu Musik etwa von Bach. Wenn nach dem Gastspiel von „My Ladies Rock" Aino Laos im Mittelfoyer zum Solokonzert lädt, dann setzen sich die Rock-Ladys bis in die Gegenwart fort.
Das Gastspiel des Balletts Basel huldigt einer starken Frau
Tanz zum Greifen nah bietet am Theater im Viertel das Solo „The Manufactured Series: Duet #2: Made in China". Choreograf Fabrice Mazliah offeriert eine Entdeckungsreise, auf der sich Tilman O‘Donnell in Dialog mit einer Teetasse begibt. Durch vielfältige Nutzung des China-Porzellans, immer eng am Körper, entstehen Bodenskulpturen, verschmelzen Tasse, Untertasse und Akteur zunehmend zu einem Gesamtwesen. O‘Donnell, Ex-Tänzer am Saarländischen Staatstheater und der Forsythe Company, zeigt damit eine weitere Facette als Performer. Fragen rund um das Thema Zeit gehen die Mitglieder der Staatstheater-Jugendtanzgruppe iMove in der Alten Feuerwache mit ihrem Stück „zeitwärts" nach und bereichern damit das Festival.
Seinen fulminanten Schlusspunkt erhält es durch ein weiteres Gastspiel aus Frankreich. Im Theater am Ring feiern Kader Attou und Mourad Merzouki Marokkos größte Stadt Casablanca. „Danser Casa" verstrickt zu wiegenden arabischen Klängen sieben Männer und eine Frau in der drangvollen Enge der quirligen Hafenmetropole, dass man die Wärme, den Trubel der Straßen zu spüren vermeint. Wie die Choreografen dabei Hip-Hop und zeitgenössischen Tanz verbinden, gehört mittlerweile zum Markenzeichen der beiden Mittvierziger und ist ihr Beitrag zum weltweiten Trend, den Hip-Hop von der Straße auf die Bühne zu holen, ihn zum Erzählen zu bringen.
Mit einem Film über die amerikanische Tänzerin und Choreografin Anna Halprin, die im Juli 100 wird und sich intensiv mit dem Thema Bewegung und Gesundheit beschäftigt hat, und einem weiteren, über den israelischer Tänzer und Choreograph Ohad Naharin lockt das Kino achteinhalb. Zum Workshop lädt Sadé Alleyne fortgeschrittene Tanzbegeisterte in den Ballettsaal des Staatstheaters ein.
Und was empfiehlt Stijn Celis den Lesern? Alles lohne sich, sagt er: „So viele interessante Handschriften bekommt man selten innerhalb so kurzer Zeit zu sehen." Auf denn zum Festival!