Nauders gilt als Italiens Skigebiet der ersten Stunde. Fünf Skigebiete der „Zwei-Länder-Skiarena“ reichen von Nauders am Reschenpass Bergkastel bis nach Sulden im Vinschgau. Und alle können mit nur einem Skipass befahren werden.
Durch die milchigen, leicht verschmutzten Scheiben des Regionalzugs von Innsbruck nach Landeck-Zams wirken die vorbeiziehenden Bergketten unter dem blassblauen Winterhimmel wie Aquarelle. Als der charmant österreichischen Ziel-Ansage der Zugbegleiterin, der gleiche Satz in perfektem italienischen Singsang folgt und das Handy für das EU-Daten-Roaming mehrfach aufblinkt, ist es so weit! Die „unsichtbare Grenze“ ins Dreiländereck im Nauders am Reschenpass ist sanft passiert. „Hier berühren sich zwei der bekanntesten Alpentäler: das Tal der Etsch, das weit in die Alpen herein einen Hauch des Südens trägt, und das Engadin (Schweiz), ein Hochtal mit imposanter Schönheit“, steht es geschrieben im alten Wanderbuch von Volksschullehrer Ludwig Thoma. Das steht – wie eine Bibel des Örtlichen – bei den Alteingesessenen noch im Zirbenholz-Schrein. Die Region tangiert den oberen Vinschgau im vorwiegend italienischen Südtirol. Historisch gesehen ist sie Teil vom Alto Adige, gehört aber heute zum österreichischen Nordtirol. Man ist eng verschwistert, denn die Geschichte, die Sprache und die offenherzige (Gastgeber-)Kultur sind quasi identisch. Feine Mentalitätsunterschiede manifestieren sich über einen lockeren Sprung ins Mediterrane.
Gehobene Küche in Glurns
Alle, die im Nauders ankommen – ob als Zugreisende oder Automobile – haben eines gemeinsam: Sie machen Halt bei einem Zeitzeugen. Am Turm am Reschensee kommt jeder vorbei, der den Pass durchfährt – hält an und staunt. Ein surreales Bild, wie der von der Zeit Vergessene da so aus dem Wasser des Stausees schaut. Der Wind, der sich hier in der Talebene fängt, sorgt für frühe Vereisung. Flaneure können 15 Kilometer um den weiß verschneiten Ring seiner Uferpromenade laufen. Mit dem angrenzenden Natursee Haidersee erläuft man sich 15 Kilometer. Eine Uferpassage mit Fischerhäusern macht die Idylle perfekt. Forelle und Bachsaibling landen ab Mai auf den Tellern in den gehobenen Restaurants wie dem „Gasthaus Flurin“ im ältesten Gebäude der mittelalterlichen Stadt Glurns, Südtirols kleinste Stadt.
Um das denkmalgeschützte Kirchenfragment aus dem 14. Jahrhundert rotiert das Leben: Schlittschuhläufer, Snowkiter, Eissegler und -begeher tummeln sich auf seiner spiegelglatten Fläche. Wassersportlicher Betrieb ist hier das ganze Jahr. Nur zum Baden ist es immer zu kalt, da das Tal auf 1.500 Höhenmetern liegt. Hier geschieht die lebendige Transformation eines eigentlich sehr traurigen Kapitels. Lange wurde der weltweit viel fotografierte Kirchturm von den Einheimischen gemieden, denn 1950 musste hier das Dorf Alt Graun einem Stausee weichen – mit ihm saftige Wiesen, Weiden, Felder, Bauernhöfe und eine über Jahrhunderte verwurzelte Dorfgemeinschaft. Sogar die Toten vom Friedhof wurden verlegt. Heute dient das „pittoreske Überbleibsel“ als Emblem, und man ist stolz auf sein markantes Wahrzeichen. Nur ein dezenter Schaukasten auf dem Parkplatz erinnert noch an seine milde verblassende, dunkle Vergangenheit. Die alten Wunden wurden respektiert, eine neue positive Energie der Folgegeneration ist zu spüren.
Insgesamt 211 Pistenkilometer
Im Nauders liebt man wintersportliche Umtriebigkeit, und die kann sich einen Zeitrekord „auf die Bergkämme“ schreiben. Mal davon abgesehen, dass der 5.500 Jahre junge Ötzi im nahen Ötztal gefunden wurde, erste nachweisliche Besiedlungen bis in die Bronzezeit zurückreichen und die Etsch oberhalb des Reschensees entspringt, gilt das Nauders als eines der ersten Skigebiete Italiens. Winter-Breitensport wurde auf der Haideralm schon nach dem Ersten Weltkrieg 1923 betrieben. Als die alten Liftanlagen renovierfällig waren, hat man sich mit den Vinschgauer Nachbarn zusammengetan und eine Verbindungsbahn gebaut. Heute wirbt die Region mit „grenzenlosem Skivergnügen“ auf 211 Pistenkilometern. Die fünf Skigebiete der „Zwei-Länder-Skiarena“ erstrecken sich von Nauders am Reschenpass Bergkastel bis nach Sulden im Vinschgau und können mit nur einem Skipass befahren werden. Eine glückliche Fusion, bei der sich die Wintersportler auf schneesicheren Abfahrten bis Mitte April freuen können. Denn das Südtiroler Partnerland gilt als Meister des Beschneiens. In 19 Sekunden werden acht Liter Wasser zu einem badewannegroßen Füllvolumen Neuschnee transformiert. Jedes der dicht verbundenen Gebiete hat seinen Charakter: Der Watles ist das sonnenreichste, in Trafoi fühlen sich Ruhesuchende wohl, in Sulden kommen die Gäste von Oktober bis Anfang Mai bis auf 3.000 Meter hinauf und bestaunen das Ortlermassiv. Auf der Panoramaplattform Gueser Kopf, lässt sich auf 2.750 Höhenmetern – umrahmt von 14 Dreitausendern – die gesamte Bergtopografie der Ortlergruppe im Nationalpark Stilfserjoch überblicken. Am besten noch bevor die Seilbahnen ab 8.30 Uhr die Frühaufsteher „aufi“ bringen. Originell: Immer montags und mittwochs kann man zum Sonnenaufgang mit der Schneekatze – der „Gatto delle nevi“ – wie die Italiener den raupenartigen, 450 PS starken Pistenbully betiteln, bis zum Gueserkopf gefahren werden, um die Sonne über dem von zartrosa bis dunkelgelb umrahmten Bergpanorama aufgehen zu sehen. Anschließend geht’s zum Alpenfrühstück auf die Stieralm. Wo in den 60er-Jahren noch bis zu 70 Stiere Testosteron und Stallwärme verströmten, wurden die Original-Stallungen 2015 zu einer gastronomischen Hochburg umgebaut. Die Fotos der Hirten und Stierbändiger an den von der Zeit in allen Schattierungen verfärbten Holzwänden, erinnern neben Haken, Fresströgen und einer imposanten Dachverstrebung noch an ein alpen-archetypisches Leben auf der Alm.
Sehr gefragt ist das Nachtrodeln
Den Winter immer wieder anders erlebbar zu machen, ihn schemenhaft zu erfühlen, zu riechen, einen leichten Wind wahrzunehmen, scheint nachts noch intensiver zu sein. So erfreut sich das Nachtrodeln auf der Naturrodelbahn durch den Lärchenwald von Watles großer Beliebtheit. Zweimal wöchentlich geht es mit der Nauderer Bergbahn hoch, mit dem Schlitten auf 4,5 Kilometer so oft man will wieder runter. Auf der urigen „Plantapatsch-Hütte“ (2.150 Höhenmeter) stärkt man sich gemeinsam mit einer lebendigen, rotwangigen Rodler-Fraktion mit Hirtenmakkaroni oder Kaiserschmarrn. Auf Tirols längster Rodelbahn „Bergkastel“ lässt sich tagsüber acht Kilometer lang rutschen.
Mit weiter Sicht über blaue Berge und kesselartige Täler kann man die Region vielfältig erkunden. Auf 54 Loipenkilometern werden Langläufer auf die Spur gebracht, Pferdeschlitten durchqueren die weißen Flure nostalgisch. Über verschneiten Almwiesen und lichte Waldstücke führen 90 Kilometer Wanderwege, die man sich zu Fuß oder Schneeschuh erlaufen kann. Besonders weit fällt der Blick vom Rescherhöhenweg auf den Reschensee, die markante Klopaierspitze, das Skigebiet und die Ortlergruppe. Die Jause mit Tiroler Speck und Almkäse oder Buchweizen-Knödel hat man sich dann auf der Rescher Alm (2.020 Meter) redlich verdient. Dazu ein großer Schluck Holler-Schorle – und der Flow am Ziel zu sein, ist perfekt.
Wanderführer Andreas Dilitz kennt sein Nauders wie seine Outdoor-Westentasche. Seine Heimat ist da „wo sich die Ausläufer der gletscherreichen Ötztaler Alpen, die letzten Spitzen der Sesvennagruppe und die mächtigen drei Tausender der Samnaungruppe zu einem vielgestaltigen Bergkranz vereinen“, zitiert er gern aus dem alten Wanderführer des Herrn Thoma und zeigt ins Tal, wo der Dreiländer-Grenzstein liegt.
Mit dem Sessellift bis auf 2.220 Meter
Neben Führungen, die er auch mit Lamas anbietet, trifft man ihn bei der Mutzbachtour zum Naturdenkmal „Schwarzen Seen“. Dafür gondelt der sonst stillgelegte Oldschool-Sessellift immer mittwochs in die Stille der Anhöhe von 1.700 auf 2.220 Meter. Von Dilitz erfährt man oben dann geografische und geschichtliche Hintergründe über die Spaltung der Bevölkerung zur Nazi- und Mussolini-Zeit oder wie Schnee aussieht, wenn bei Wind die Flocken zusammenstoßen und verkantete Eiskristalle auf Lawinengefahr hinweisen, dass man Fuchsspuren im Schnee als Schnüren benennt und der rabenartige Tannenhäher für die „Besamung“ der heilsamen Zirbenbäume verantwortlich ist. Unweit des unter der weißen Schneedecke ruhenden Schwarzen Sees wurde vor Urzeiten Getreide angebaut. Vielleicht ja die Geburtsstunde des Paarlbrotes – jenes bei uns als „Vinschgauer“ bekanntem Roggenbrotlaibchen, das mit würzigem Anis und Brotklee gebacken wird. Beim Schneeschuhverleih in St. Valentin konnte man die von der berühmten Traditionsbäckerei Angerer herüberwehenden Duftschwaden erschnuppern. Im Nauders stehen die Zeichen eben auf „grenzenlosen Genuss“, um den Winter in all seinen sportlichen Facetten und Bespielarten zu erleben.