In Brandenburg an der Havel begegnen Besucher einem sehr ungewöhnlichen Tier: dem Waldmops. Über die ganze Stadt sind Plastiken des scheuen Tieres zu finden – zu Ehren seines Schöpfers und berühmten Sohnes der Stadt: Loriot.
Es gibt Ereignisse, die sich unauslöschlich ins Bewusstsein der Menschheit eingebrannt haben: der Moment, an dem erstmals ein Mensch den Mond betrat beispielsweise oder der Fall der Berliner Mauer. Auch der 8. März 1972 war so ein Tag, als der berühmte „Zoologe und Verhaltensforscher" Vicco von Bülow, auch bekannt als Loriot, das Ergebnis seiner langjährigen intensiven Forschungen über den seltenen und überaus scheuen wilden Waldmops der Öffentlichkeit vorstellte. Ganz Deutschland war aus dem Häuschen. So sehr, dass die sensationellen Enthüllungen seither immer mal wieder gesendet werden. Zur großen Freude und Erheiterung. Und das, obwohl der Forscher am Beispiel des scheuen Waldmopses den Menschen radikal den Spiegel vorhält, und eindrucksvoll zeigt, wie rücksichtslos, egoistisch und zerstörerisch er mit der Natur umgeht.
„Als Herr des Waldes durchstreifte der Mops einst Europa zwischen Ural und Fichtelgebirge. Heute weiden nur noch wenige wilde Möpse in unbewohnten Waldungen Nordschwedens", doziert der Forscher mit ernster Miene. Und weiter: „Ende des 16. Jahrhunderts galten die mächtigen Mopsschaufeln noch als beliebte Jagdtrophäe. Im Laufe des 17. Jahrhunderts hat man sie jedoch rücksichtslos zurückgezüchtet, da sich Vierzehnender im Schoße älterer Damen als hinderlich erwiesen hatten. Der Mops wurde gefahrlos und damit konsumgerecht. In Deutschland hat lediglich der scheue Waldmops die Würde seiner Vorfahren bewahrt."
Außer dem Forscher hatte jedoch niemand jemals ein Exemplar des Canis pugnax foresta, so der wissenschaftliche Name des wilden Waldmopses, zu Gesicht bekommen. Erst nach Loriots Tod im Jahre 2011 entdeckte eine junge Künstlerin und Jungforscherin einige der etwa 50 Zentimeter großen gedrungenen Tiere und begann sie nach langer Vorbereitungszeit 2015 in Brandenburg an der Havel, der Geburtsstadt des berühmten Zoologen und Verhaltensforschers, auszuwildern. Dort haben sie sich inzwischen prächtig vermehrt, 26 Exemplare wurden bislang in verschiedenen innerstädtischen Revieren gesichtet. Mehr als 30 sollen es allerdings nicht werden, denn „er führt zwar ein zurückgezogenes Höhlendasein, richtet jedoch im deutschen Wald jährlich pro Kopf einen Schaden von rund 40.000 DM an. Auf Nahrungssuche verwüstet er Quadratkilometer wertvollen Waldbestandes, nimmt Vogelnester aus, reißt Rotwild und stellt Singvögeln nach, wobei ihm sein kurzes, aber kräftiges Gehörn wertvolle Dienste leistet."
Doch anders als beim Canis lupus, dem nach Jahrhunderten ins Land Brandenburg zurückgekehrten Wolf, scheiden sich beim Waldmops die Geister nicht: Alle – ob die 70.000 Einwohner oder die rund 75.000 jährlichen Besucher der Stadt – lieben die possierlich wirkenden Tiere, die sich inzwischen so an die Menschen gewöhnt haben, dass sie sich sogar anfassen und fotografieren lassen.
Der Kulturverein der Stadt startete einen Wettbewerb
Dass es Clara Walter, so der Name der Jungforscherin, gelang, den scheuen Waldmops aus seiner Höhle zu locken, ist der gründlichen Vorarbeit des rührigen Kulturvereins Brandenburg an der Havel zu verdanken, der sich seit dem Tod des berühmtesten Sohnes der Stadt, dafür stark machte, Loriot auf ganz besondere Art zu ehren. Sie sammelten Spenden und riefen einen Wettbewerb zur Schaffung eines würdigen Denkmals für Loriot in der Stadt aus. Davon hörte auch eine Professorin der Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Detmold, an der Clara Walter – damals 23 Jahre alt – Innenarchitektur studierte. Die Dozentin animierte ihre Studenten, sich an dem Wettbewerb zu beteiligen. Schnell war für Clara klar, dass man Loriot, der sich so verdient um den Waldmops gemacht hatte, das beste Denkmal setzt, indem man das scheue Tier in dessen Geburtsstadt auswildert. Davon ließ sich die hochkarätige Jury unter Leitung des Vorsitzenden des Kulturvereins, des damaligen Außenministers und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, schnell überzeugen. Unter 92 Einsendungen, darunter Entwürfe namhafter Gestaltungs- und Architekturbüros, entschied sie sich für „Jugend forscht" und gab der Berliner Studentin den Zuschlag.
„An dem Tag, als ich meine Bachelorarbeit verteidigte, erfuhr ich es. Ich war völlig aus dem Häuschen." Viel Zeit zum Feiern des Studienabschlusses hatte Clara nicht, denn es blieb ihr nur ein Jahr, die Waldmöpse zu finden und die ersten acht Tiere pünktlich zur Eröffnung der Bundesgartenschau 2015 in Brandenburg auszuwildern. Außerdem wollte sie das scheinbar unmögliche, nämlich für Loriot ein persönliches Denkmal schaffen, das auch er – der sich immer dagegen wehrte, von irgendwem auf einen Sockel gehoben zu werden – akzeptieren könnte. Was sie sich einfallen ließ, würde ihm garantiert gefallen. Seit 2015 steht das Denkmal am Johanniskirchplatz – ein leerer Sockel, auf dem neben den Lebensdaten nicht mehr zu sehen ist, als die Fußabdrücke des Multitalents. Damit sie auch wirklich echt sind, borgte Loriots Familie Clara ein Paar seiner Schuhe. „Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass Loriot zwar weggegangen ist, sein Werk aber fortlebt", sagt Clara. Einer der Waldmöpse übrigens hat sich gleich neben dem Denkmal angesiedelt und amüsiert sich offensichtlich köstlich über die Interpretationsversuche der Menschen über den nackten Sockel.
Gar nicht weit davon entfernt entstand das ebenfalls von Clara Walter entworfene Waldmops-Informationszentrum. Auf einer hölzernen Plattform informiert eine Tafel darüber, was Loriot über die scheuen Tiere herausgefunden hatte. Besucher haben Gelegenheit, von hier aus einige in der Nähe lebende Waldmöpse zu beobachten, ohne sie zu stören. Einer liegt träge direkt am Weg. Er weiß zwar, dass die neugierigen Zweibeiner ihn im Visier haben, doch die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass er nicht flüchten muss, weil sie ihm wohlgesonnen sind.
Loriot erhielt die Ehrenbürgerschaft
Soll er in Ruhe weiter dösen, machen wir uns weiter auf die Suche nach seinen Artgenossen. Da, im Humboldthain, ist einer zu sehen, doch der gehört ganz offensichtlich zu den scheueren. Nahe der schützenden Sträucher beobachtet er aufmerksam das Treiben der Menschen, wohin er im Notfall schnell flüchten kann. An dieser Stelle einen Waldmops auszuwildern, galt für die Stadtverwaltung angesichts der von Loriots beschriebenen Schäden, die die Tiere anrichten, als riskant. Doch bislang halten sich die Schäden in Grenzen. Zwar ist die Veränderung der Verhaltensweisen noch nicht ganz erforscht, vermutet wird aber, dass das Tier seine Ernährungsgewohnheiten angesichts der reichlichen Fütterung durch Einheimische und Touristen umgestellt hat – auf Bockwurst, Eis und Kuchen statt Baumrinde, Rotwild und Singvögel.
Viel gesundes Wasser ist lebensnotwendig für den Canis pugnax foresta. Rund 80 Liter braucht ein ausgewachsenes Männchen täglich. Schnell hat der Waldmops erkannt, dass das für die Menschen aufbereitete Wasser ihm viel besser schmeckt als das ungefilterte Havelwasser. Zumal in dem Fluss auch der einzig bekannte Feind des Waldmopses lebt, der Havelzander, auf dessen Speisekarte der Gehörnte steht. Einer von denen verteidigt deshalb sein Revier aus Geschmacks- und Sicherheitsgründen am Eingang zum Humboldthain an einer Wasserpumpe energisch. Zum Ärger der anderen, sie müssen sich eine eigene Quelle suchen. Ein ganz gewitzter ist an einem Brunnen vor dem Altstädtischen Rathaus fündig geworden. Von hier aus kann er das Treiben der Menschen gut beobachten und notfalls hinter dem Brunnenrand in Deckung gehen. Besonders interessant findet dieser Waldmops eine 5,35 Meter hohe Menschenfigur vor dem Rathaus. Warum man ihn Roland nennt, ist dem Mops ziemlich egal, ohnehin hält er von dem bewaffneten und grimmig schauenden Riesen lieber Abstand. Dennoch, auf die Idee zu kommen, sein Revier zu verlassen, würde ihm nie einfallen: Ist er doch seinem Entdecker Loriot hier besonders nahe. Denn in dem Rathaus wurde dem am 29. November 1993 die Ehrenbürgerschaft verliehen.
An einem ähnlich exponierten Platz befindet sich ein weiteres Mopsrevier. Das hier lebende Tier hat die Eingangstür zur Gotthardkirche fest im Blick, weiß es doch, dass Loriot sie wenigstens zweimal in seinem Leben passierte. Erstmals am 30. Dezember 1923, als er hier auf den Namen Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow getauft wurde, den er später auf Vicco von Bülow gekürzt hat. Im September 2009 weilte er nochmals hier, um die mit seiner Hilfe restaurierte Nordkapelle, wo heute das Taufbecken steht, einzuweihen.
Die Stadt wurde wunderschön saniert
Seitdem die Tiere in Brandenburg an der Havel ausgewildert wurden, hat sich ihr ursprüngliches Verhalten nicht nur dahingehend geändert, dass sie ihre Scheu gegenüber den Menschen verloren. Auch ihren Wandertrieb legten sie ab. Loriots Forschungen hatten noch Folgendes ergeben: „Den Winter verbringt der Waldmops mit Hunderttausenden seiner Artgenossen in Südafrika, während er im Frühjahr die Wesermündung aufsucht, um sich dort zu paaren." Nun, an der Weser wurde schon lange kein Waldmops mehr gesichtet, in Brandenburg indes kann man ihn inzwischen ganzjährig beobachten. Satt und zufrieden verfällt er im Spätherbst in eine Art Winterstarre, wie man an dem Exemplar an einem Café an der Werft sehen kann. Er hat sein Revier gut gewählt, fallen doch dort ständig ein paar Happen für ihn ab, sodass er sich einen besonders dicken Winterspeck angefressen hat.
Auf einer rund zweistündigen Exkursion, auf die man sich am besten mit einem speziell ausgebildeten Waldmops-Ranger begibt, wird man neben vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt auch die anderen Waldmöpse entdecken. Am Ende aber werden sich die Besucher ganz im loriotschen Sinne wohl einig sein: Die 1990 als Modellstadt der Bundesregierung mit enormen finanziellen Mitteln wunderschön sanierte Stadt zu besuchen, ist immer eine Reise wert. Und dennoch: Brandenburg an der ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos!