Unser Wirtschaftssystem überfordert den Planeten. Dieser Meinung ist Christian Felber, einer der Initiatoren der Gemeinwohlökonomie in Deutschland. Zertifizierte Betriebe und Kommunen nach den Kriterien der nachhaltigen Ökonomie gibt es bereits.
Um die Folgen unseres Wirtschaftssystems zu veranschaulichen, stellt sich Christian Felber schon mal auf den Kopf – und wieder zurück auf die Füße. Denn das ist es, was der Aktivist für die Gemeinwohlökonomie im Grunde mit der Wirtschaft vorhat. Ein Grund dafür: die wachsende Zerstörung der Umwelt.
Das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos erkennt die Umweltzerstörung 2020 erstmals als größte Bedrohung der Weltwirtschaft. Die Botschaft: Es ist Zeit zu handeln – indem die Wirtschaft umdenkt. Zum Beispiel, indem Geld anders gedacht wird. „Geld", sagt der Autor, Attac-Mitgründer und Wirtschaftstheoretiker Felber, sei „vom Mittel zum Zweck immer mehr zum Selbstzweck" geworden. Unternehmen gelten als erfolgreich, wenn sie ihren Gewinn steigern. Kosten für mittelbare Auswirkungen „externalisieren" sie: Wasserverbrauch, Luftverschmutzung, Artenschwund, Unfallopfer oder Folgekosten der Erderwärmung tauchen in keiner Unternehmensbilanz auf. Die Rechnung geht an die Allgemeinheit. „Diejenigen, die verantwortlich wirtschaften, haben Wettbewerbsnachteile und diejenigen, die unserer Gesellschaft und Umwelt schaden, haben Preis- und Wettbewerbs-Vorteile. Das ist pervers", so Felber. Deshalb hat Felber mit einigen Mitstreitern schon vor Jahren die Gemeinwohlökonomie entwickelt. Schon mehr als 600 Unternehmen, Städte und Gemeinden haben sich dazu bisher von unabhängigen Auditoren nach 20 Gemeinwohlkriterien bewerten lassen. Maßstäbe sind Achtung der Menschenwürde, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz. Die Auditoren prüfen, ob diese Grundwerte in Beziehungen zu Mitarbeitern, Lieferanten, Kunden, Nachbarn und Konkurrenten eingehalten werden. Punkte gibt es zum Beispiel für Mitarbeiterbeteiligung, sparsamen Einsatz von Rohstoffen, umweltfreundliche Mobilität, veganes Essen aus regionalen Zutaten in der Kantine, Spenden an gemeinnützige Organisationen, Solaranlagen, langlebige, reparierbare Produkte, Verträge mit Ökostrom-Anbietern. Oder eine geringe Lohnspreizung. Der oder die Bestbezahlte soll höchstens fünfmal so viel Gehalt bekommen wie der- oder diejenige mit dem geringsten Lohn. „In der Wirtschaft soll es zugehen wie in einer gelingenden Beziehung. Man begegnet einander mit gegenseitigem Respekt und hört einander zu", ist der Wunsch von Christian Felber.
Im Wettbewerb setzen sich aber derzeit Unternehmen durch, die sich nicht um die sozialen und ökologischen Folgen ihres Wirtschaftens kümmern, so die Kritik. Beispiel Landwirtschaft: Wer seine Tiere in enge Ställe sperrt, sie gegen Krankheiten vorbeugend mit Antibiotika füttert oder Böden überdüngt, liefert die scheinbar billigsten Lebensmittel. Gleichzeitig muss Deutschland für zu viel Nitrat im Grundwasser demnächst fast 800.000 Euro pro Tag Strafe an die Europäische Union bezahlen. Die Aufbereitung des Trinkwassers wird für die Wasserwerke immer aufwendiger und teurer. Der Preis des Antibiotika-Einsatzes in den Ställen: resistente Bakterien. „Märchenökonomie" nennt Reinhard Raffenberg unser Wirtschaftssystem. In Detmold betreibt er mit einer Partnerin ein vegetarisches Restaurant und arbeitet für die Stiftung Gemeinwohlökonomie NRW. Diese wirbt für das Konzept von Christian Felber. Sie baut für rund 1,2 Millionen Euro im benachbarten Steinheim eine stillgelegte Möbelfabrik zu einem nachhaltigen Gewerbeobjekt um: erneuerbare Energien, Co-Working-Space, Büros, viel Raum für die gemeinsame Arbeit an einer zukunftsfähigen Wirtschaft. Das Gebäude hat der Apotheker Albrecht Binder gestiftet, der seine beiden Apotheken nach der Gemeinwohlökonomie bilanziert hat.
„Geld ist immer mehr zum Selbstzweck geworden"
455 von 1.000 mögliche Punkten erreichte er im ersten Durchlauf. „Eine ganze Menge", findet der 58-Jährige und nennt die Vorteile: „Die Mitarbei-tenden meldeten sich seltener krank und identifizierten sich noch mehr als bisher mit dem Betrieb." Die erste Gemeinwohlbilanz habe gezeigt „was wir schon alles für mehr Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen tun, ohne uns dessen im Detail bewusst zu sein." Erstaunt war Binder, dass er trotz Elektroauto und sparsamem Umgang mit Ressourcen beim Thema „ökologische Nachhaltigkeit" nicht so gut abschnitten hat. Vor der zweiten Bilanzierung erstellte er eine CO2-Bilanz für die Apotheken und verdoppelte schon damit seine Punktzahl im Feld Ökologie. Auch bei der geforderten Transparenz hat Binder nachgelegt: Seine Filialleiter wunderten sich, als er sie um Vorschläge für die Verteilung des Gewinns bat. Als Apotheker dürfe er die Angestellten nicht am Unternehmen beteiligen. Doch in zahlreichen Gesprächen legten sie zusammen fest, wie viel der Chef jeden Monat verdienen soll. Der verbleibende Gewinn wird reinvestiert oder an gemeinnützige Vereine im Ort gespendet. Dazu hat Binder in seinen Apotheken für jeden möglichen Empfänger eine Schachtel aufgestellt: Wer in der Apotheke einkauft, kann Holztaler hineinwerfen und damit mitbestimmen, an wen die nächsten Spenden gehen.
Auch als Marketinginstrument und für das sogenannte Arbeitgeberbranding taugt die Gemeinwohlbilanz. Aus zahlreichen Studien geht hervor, dass vor allem junge Hochqualifizierte einen Job mit Sinn suchen. Das Portal Goodjobs.eu vermittelt solche Stellen vor allem in gemeinnützigen Organisationen und besonders nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen. Die Betreiber berichten, dass sich die Zahl ihrer Seitenbesuche seit der Gründung 2016 jedes Jahr verdoppele, ebenso die Menge der angebotenen Jobs.
Im Kreis Höxter unterstützt die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Unter-nehmer wie Binder und Gemeinden bei der Gemeinwohlbilanzierung. Aus dem „Leader"-Programm der Europäischen Union gibt es dafür Zuschüsse. Neun der zehn Städte des Kreises wollen für ihre Kommune ebenfalls Gemeinwohlbilanzen erstellen. Hermann Bluhm, CDU-Bürgermeister des Städtchens Willebadessen (8.300 Einwohner) sieht, „dass immer mehr Menschen das aktuelle Wirtschaftssystem als ungerecht empfinden", weil die wachsende Produktivität nur wenigen zugutekomme. Seine Stadt habe ihren Brennstoff-Verbrauch schon um 90 Prozent verringert, heize Schwimmbad, Schulzentrum und Rathaus mit der Abwärme einer Biogasanlage. Die Reinigungskräfte sind weiterhin bei der Stadt angestellt. Hier würden sie anständig bezahlt. Bluhm geht es vor allem um die Veränderung in den Köpfen. Das Umdenken werde lange dauern: „Das ist mindestens ein Jahrhundertwerk."
Kriterien passen nicht auf jedes Unternehmen
Wie mühsam die Umstellung auf eine nachhaltigere Wirtschaftsweise ist, hat auch Axel Meyer erlebt. Vor rund 30 Jahren gründete er in Detmold Taoasis, einen Hersteller von Duftstoffen und ätherischen Ölen aus Bio-Zutaten. Inzwischen erwirtschaftet das Unternehmen mit rund 50 Vollzeit-Beschäftigten etwa zehn Millionen Euro Umsatz im Jahr. In seiner ersten Gemeinwohlbilanz hat Taoasis 642 Punkte erreicht. Von der Gemeinwohlökonomie ist Meyer „absolut überzeugt", doch „viele Kriterien passen nicht für jedes Unternehmen". Fortbildungen und Mitarbeiterbeteiligung, die Punkte bringen, habe er den Beschäftigten ebenso angeboten wie Elektro-Fahrräder und eine Ladestation auf dem Gelände. Beides sei in der Belegschaft aber auf wenig Interesse gestoßen. Auch wundert er sich, dass sich die CO2-Bilanz seines Unternehmens nicht deutlicher niederschlägt. Weil Taoasis alle pflanzlichen Abfälle kompostiert, entziehe der Betrieb der Atmosphäre mehr Kohlendioxid als er produziere.
Tatsächlich kann man sich über die Gemeinwohl-Kriterien streiten. Die Frage ist, wer sie wie festlegt. Felber verweist ebenso wie Reinhard Raffenberg von der Gemeinwohlstiftung auf einen „demokratischen Prozess", in dem diese laufend weiter entwickelt werden sollen. Schließlich beschlössen Parlamente auch gelegentlich neue Gesetze, an die sich die Wirtschaft halten müsse. Durchsetzen wird sich die Gemeinwohlökonomie jedoch nur, wenn die Politik nachweislich gemeinwohlorientierten Unternehmen Vorteile einräumt. Christian Felber empfiehlt für solche Betriebe zum Beispiel Steuerermäßigungen oder günstigere Kredite. Damit würden schließlich nur einige Nachteile ausgeglichen, die sie für ihre Rücksichtnahme auf die Allge-meinheit auf sich nehmen.