Der Biodiversitätsforscher Gregor Hagedorn tritt Klimaskeptikern entgegen. Vor gut einem Jahr hat er den Anstoß für Scientists for Future gegeben. Seither haben sich Wissenschaftler in die Politik eingemischt wie selten zuvor.
Herr Dr. Hagedorn, Klimaaktivistinnen und -aktivisten schlägt Häme und Hass entgegen. Ihnen seit einem Jahr auch, weil Sie die Scientists for Future initiiert haben, ein Netzwerk mit rund 27.000 Forschern?
Bei mir sind es nur einige nervige Verschwörungstheoretiker, die mich im Netz angreifen. Die blocke ich. Dann ist das erledigt.
Vorbehalte von Kolleginnen und Kollegen werden Sie nicht so schnell los. Die Frage: Wie politisch darf und kann die Wissenschaft sein, ohne im Dienste der Sache zu stark zu vereinfachen?
Die junge Generation geht auf die Straße und fordert: „Mutter, Vater, Oma, Opa schaut mir in die Augen! Ich bin eine von denen, die in dieser Welt künftig leben wollen. Wie stellt ihr Euch das vor?" Die Schüler und Studenten sorgen sich um ihre Zukunft, aus fachlicher Sicht auch zu Recht. Ihnen wollen wir Rückendeckung geben. Vor allem zu Beginn wurde viel zu wenig über ihre Anliegen geredet. Stattdessen ging es zu oft darum, ob man sich politisch äußern darf, wenn man erst 15 ist, wenn man aus Plastikschalen isst oder schon um die halbe Welt geflogen ist.
FDP-Chef Christian Lindner empfahl den Schülern, die Klimapolitik „den Profis" zu überlassen.
Diese neue Jugendbewegung bezieht sich auf die Wissenschaft. Sie liest die Studien korrekt. Wenn das Polit-Establishment dann erklärt „Ihr habt doch keine Ahnung!", haben wir eine Pflicht zur Aufklärung.
Sollten Wissenschaftler nicht eigentlich nur die Fakten liefern, sich dann raushalten – weil die Gesellschaft entscheidet?
Entscheidungen müssen politisch getroffen werden. Aber Wissenschaftler arbeiten für Unternehmen, sitzen in ihren Aufsichtsräten, die Bundesregierung hat 94 wissenschaftliche Beratungsgremien. Warum ist es ausgerechnet dann aktivistisch, wenn Wissenschaftler die junge Generation beraten? 2014 bis 2019 waren weltweit die wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Die Lage ist dramatisch.
Das ist sie beim Kampf gegen Malaria auch, rund 500.000 Menschen pro Jahr sterben daran.
Mir ist aber nicht bekannt, dass wir seit Jahren Lösungen kennen, sie aber nicht ausprobieren.
Was ist mit dem Versagen der gängigen Antibiotika? Viele Keime sind resistent, die klassische Medizin bringt das in Gefahr.
Tatsächlich wissen wir da auch mehr als wir tun. Biologen und Mediziner warnen seit langem, dass Antibiotika zu sorglos verabreicht werden. Sie helfen zum Beispiel nicht bei Virusinfektionen, werden aber dennoch verschrieben. Auch in der Fleischproduktion werden sie in viel zu großem Umfang eingesetzt.
Warum finden Wissenschaftler kein Gehör?
Beim Klimawandel ist das nicht einfach eine Sache von nicht gehörten Wissenschaftlern. 1982 hat der Ölkonzern Exxon die Entwicklung der CO₂-Konzentration in der Atmosphäre und der Temperaturen bis 2100 abgeschätzt. Das war gute Arbeit, nah dran an der heutigen Entwicklung. Und 1988 hat die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" des Deutschen Bundestags – die CDU hatte den Vorsitz, alle im Bundestag vertretenen Parteien waren beteiligt – vor einem Temperaturanstieg gewarnt. Da stand fast alles drin, es wurde nur nicht umgesetzt.
Es gibt keine unumstößlichen Wahrheiten, und das Klima ist ein komplexes Ding.
Der Vorwurf, der Klimawandel sei nur Theorie, wird häufig gemacht. Aber mit Theorien sind die Menschen erfolgreich zum Mond geflogen. Wissenschaft muss nicht unumstößlich sein, um sehr zuverlässig zu sein.
Andere Wissenschaftler warnen vor Panikmache, erinnern an die 80er-Jahre und die Sorge um das Waldsterben, das sich auch nicht bewahrheitet habe.
Da haben wir aber was getan. Betreiber von Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen mussten Filter in ihre Schlote einbauen, Autos bekamen Katalysatoren. Auch im Kampf gegen das Ozonloch hatten wir Erfolg.
1988 wurde mit dem „Montrealer Protokoll" ein bis dahin einmaliges weltweites Produktionsverbot für bestimmte FCKW verhängt …
… und Kühlschränke wurden zum Beispiel ausgetauscht. Nur war das im Vergleich einfach. Jetzt müssen wir den Kohlendioxidausstoß stoppen. Das betrifft die gesamte Industrie, jeden Verbraucher, die Ernährung, das Heizen, die Mobilität. Die Größenordnung dieses Problems und der notwendigen Lösungen ist in der Gesellschaft noch nicht richtig angekommen.
Sie sitzt es aus?
Viele Menschen sind in den 70er-Jahren stecken geblieben. Damals lautete die Frage: Wann gehen der Wirtschaft die fossilen Brennstoffe aus? Seit den 80er-Jahren weiß die Wissenschaft aber, dass das gar nicht das Problem ist. Das Problem ist, dass wir die Atmosphäre als Mülldeponie für Treibhausgase nutzen. Und dort ist der Platz inzwischen extrem knapp geworden. Wer in der Schule oder im Studium ist, lernt die neuesten Erkenntnisse. Denjenigen, die in der Wirtschaft oder den Parlamenten das Sagen haben, fehlt derweil häufig ein Update, und sie operieren mit 50 Jahre altem Wissen.
Politik ist ja nicht nur eine Frage von Information.
Natürlich kann man mit richtigem Wissen auch falsche Entscheidungen treffen. Politik ist aber vor allem eine Frage des Wollens. Wir haben ja Pläne für den Klimaschutz. Das ist derzeit so, als hätten wir alles schon für einen Hausbau, Pläne, Bauplatz, Steine, Mörtel, Balken, Sand. Wir wissen aber auch: Es kostet was, und es wird anstrengend. Und da reden wir uns alles Mögliche ein. Dass wir das Haus nicht brauchen, weil der Winter vielleicht nicht kommt. Dass man Roboter erfinden könnte, die eines Tages das Haus von alleine bauen. Dass wir ganz sicher sein müssen, dass der Plan keine Fehler hat. Würden wir so Häuser bauen, hätten wir keine. Bei jedem Hausbau passieren Fehler, die dann erst in Ordnung gebracht werden.
Sprechen Sie gerade als Wissenschaftler?
Nein. Einsichten, Informiertheit, Bürgerrolle – das kommt auch bei Wissenschaftlern zusammen. Absolut neutrale Wissenschaftler in einer politischen Gesellschaft gibt es nicht. Als Bundeskanzler Konrad Adenauer die Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen forderte, wandten sich 18 hochangesehene Atomforscher um Carl Friedrich von Weizsäcker in ihrer „Göttinger Erklärung" dagegen. Sie waren darum aber alle keine Aktivisten. Ich bin es auch nicht.
Schaden Sie trotzdem Ihrer Glaubwürdigkeit?
Die Glaubwürdigkeit einer Wissenschaftsgemeinschaft ist wenig wert, wenn sie seit 40 Jahren größte Risiken beschreibt, aber die Zuhörenden beschließen, darauf nicht reagieren zu wollen. Ich muss als Wissenschaftler aber immer meine Aussagen hinterfragen lassen, wissenschaftlichen Widerspruch aufnehmen und diesen abarbeiten. Dem sind wir verpflichtet.
Was ginge Ihnen zu weit?
Die Welt bricht in zehn Jahren zusammen und wir verhungern alle – das ist für mich Alarmismus, unwissenschaftlich und ideologisch. Was wir wissen: Die Risiken werden umso größer, je länger wir abwarten. Mein Vorschlag ist darum: Wir arbeiten an einer Welt, die vielleicht nicht ideal ist, aber in die alle gerne Kinder setzen möchten und in der diese Kinder auch wieder Kinder haben wollen.
Wann gehen Sie wieder demonstrieren?
Das mache ich gar nicht so oft, wie Sie glauben. Das kann ich mir zeitlich einfach nicht leisten mit Beruf und Familie. Aber Scientists for Future werden sich weiter einmischen, wir versuchen das Wissen, das wir haben, mit allen Bürgerinnen und Bürgern zu teilen.