In den kommenden Jahren entscheidet sich die Zukunft unseres Planeten. Lässt sich der Klimawandel noch eindämmen? Der Klimaforscher Mojib Latif erläutert im Interview, wie unsere Chancen stehen und wer in der Verantwortung ist.
Herr Prof. Dr. Latif, Forscher des britischen Fachmagazins „Nature" sagen, dass die 2020er das alles entscheidende Jahrzehnt sind, um die globale Klimaerwärmung zu begrenzen und damit einen weiteren Temperaturanstieg zu vermeiden. Wie kann uns das gelingen?
Das ist eine Frage, die schwierig zu beantworten ist. Klar ist, dass die Möglichkeiten existieren. Es ist nicht so, dass wir bei null anfangen müssen. Das Hauptproblem ist die Art und Weise, wie wir Energie erzeugen. Man muss viel stärker als bisher versuchen, die erneuerbaren Energien im Markt einzuführen. Deutschland ist das einigermaßen im Strombereich gelungen, aber im Gesamten noch nicht. Wenn man die Energie insgesamt betrachtet, also Strom, Wärme und Verkehr, dann liegt in Deutschland der Anteil an erneuerbaren Energien bei circa 15 Prozent. Der Strombereich hingegen liegt derzeit bei gut 40 Prozent. In den Bereichen Wärme und Verkehr müsste man noch sehr viel mehr machen. Trotzdem darf man nicht vergessen: Deutschland hat seit 1990 den Ausstoß von Treibhausgasen um 35 Prozent verringert. Selbst das 40-Prozent-Ziel bis 2020 ist noch erreichbar, weil 2019 die Emissionen stark gesunken sind. Und zwar deshalb, weil der CO₂-Preis im Rahmen des Europäischen Emissionshandels deutlich angestiegen ist. Das hat dazu geführt, dass Kohle unrentabel wurde und demzufolge Erdgas rentabler. Das hat eine riesige Lenkungswirkung entfaltet. Eine CO₂-Bepreisung ist absolut notwendig, denn so funktioniert die Welt: Wenn Umweltverschmutzung nichts kostet, dann wird sie auch weiter betrieben.
Das heißt, dass das Klimapaket der Bundesregierung ist ein wichtiges politisches Instrument ist, um da einzugreifen und gegenzusteuern?
Das Klimapaket ist schon wichtig, aber ich hätte mir natürlich gewünscht, wenn es ambitionierter gewesen wäre. Immerhin hat man nachgebessert. Der ursprüngliche Preis pro Tonne CO₂ war zehn Euro und soll auf 25 Euro angehoben werden. Der Preis hätte meiner Meinung nach höher sein müssen. Doch hier hätte man auch die soziale Komponente berücksichtigen und eine Klima-Prämie einführen müssen. Jede Bürgerin und jeder Bürger hätte dann zu Beginn eines Jahres einen festen Sockelbetrag erhalten. Dann würde es an einem selbst liegen, ob man am Ende des Jahres etwas übrig hat.
Sie sprechen an, was von der SPD ins Gespräch gebracht wurde.
Wir betreten hier kein Neuland. Andere Länder tun das schon längst. In der Schweiz werden jedem Bürger die eingesparten CO₂ über die Krankenkasse zurückgegeben. Ich persönlich hätte auch nicht jedem die Klima-Prämie gegeben, sondern nur denen, die im Jahr bis zu 100.000 Euro verdienen und allen anderen nicht. Ganz einfach aus dem Grund, weil die, die mehr verdienen, meistens mehr CO₂ ausstoßen und die Prämie ohnehin nicht brauchen.
Zusammenfassend würden Sie also sagen, dass Deutschland auf dem richtigen Weg ist, bis 2050 klimaneutral zu werden?
Die Richtung stimmt, aber nicht die Geschwindigkeit. Das ist der springende Punkt. Die Bundesregierung hat es bedauerlicherweise versäumt, den CO₂-Preis deutlich höher anzusetzen. Der hätte schon bei 50 Euro liegen müssen. Mit der Klima-Prämie wäre es nicht zu Verwerfungen gekommen. Der andere Punkt ist der Kohle-Kompromiss, der völlig unnötigerweise nicht eins zu eins umgesetzt worden ist. Jetzt kommen über 100.000 Tonnen CO₂ mehr zustande, als wenn man den ursprünglich geplanten Kompromiss verwirklicht hätte. Ich finde, das ist ein unfaires Spiel der Bundesregierung. Es ist ein Unding, zuerst die Kohle-Kommission einzusetzen, die dann einen Kompromiss findet, dem die Umweltverbände zähneknirschend zustimmen, und zum Schluss sattelt man oben etwas drauf. Ich finde, das geht nicht, das ist keine gute politische Kultur, die da zum Tragen kommt.
Was halten Sie von den der Kohle-Industrie in Aussicht gestellten Entschädigungen in Milliardenhöhe?
Das war in der Höhe überflüssig. Im Rahmen des europäischen Emissionshandels stieg 2019 der CO₂-Preis auf ungefähr 25 Euro pro Tonne. Er dümpelte vorher immer so bei fünf Euro und hat 2018 begonnen anzusteigen. Dadurch ist letzten Endes die Kohle unrentabel geworden. Der Markt hat eigentlich darauf hingearbeitet, dass die Kohle aus dem Markt fliegt. Und unnötigerweise hat die Bundesregierung der Industrie Geschenke gemacht.
Wo überall müssten sich Forschung, Zivilbevölkerung und Politik anstrengen, damit wieder das Klima ins Lot kommt?
Ich glaube, der Schlüssel ist die Zivilbevölkerung – zumindest in den Industrienationen. Wir sehen immer wieder, dass das funktioniert. Zum Beispiel konnten wir das beim Atomausstieg sehen. Wenn da nicht der Druck aus der Zivilgesellschaft gekommen wäre, dann wäre nichts passiert. Wir haben es auch bei der Deutschen Wiedervereinigung gesehen: Wenn nicht die Menschen auf die Straße gegangen wären, wäre die Deutsche Wiedervereinigung nicht zustande gekommen. Das ist das A und O. Wir brauchen den Druck durch die Zivilgesellschaft – und zwar Druck im positiven Sinne – weil sowohl Wirtschaft als auch Politik derzeit zu träge sind. Also muss man denen Beine machen und sie sozusagen zum Jagen tragen.
Reicht allein der Protest im öffentlichen Raum?
Natürlich nicht. Alle Gruppen müssen etwas tun. Die Politik muss natürlich Rahmenbedingungen schaffen, sodass neue Technologien schneller zum Durchbruch gelangen. Und die Wirtschaft muss natürlich einsehen, das ist zuletzt in Davos deutlich geworden, dass sie den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Wir haben es 2018 in Deutschland gesehen, dass nicht nur die Land- und Forstwirtschaft durch den Hitzesommer betroffen waren, sondern auch die Industrie. Doch die Wetterextreme werden zunehmen. Immer mehr Akteure aus der Wirtschaft sehen, dass auf sie enorme Risiken zukommen werden.
Wie überzeugt man nun die doch eher schwierigen Verhandlungspartner wie die US-Regierung, die erst das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet haben und später wieder einen Rückzieher machten, bei diesem Vorhaben mitzuziehen?
Das wird man auf dem Verhandlungsweg nicht hinbekommen. Ich finde, es muss eine Allianz der Willigen geben, also die was machen wollen, sollen etwas machen und sollen sich auch austauschen. Dazu gehört auch Technologietransfer. Ich glaube, nur so wird man die Verweigerer-Länder dazu bewegen, aktiv zu werden. Denn die verspielen sonst ihre ökonomische Zukunft. Außerdem leidet die Bevölkerung in diesen Ländern auch unter den Wetterextremen. Auch dort wird der Druck stärker werden. Solche Leute wie Trump können natürlich nicht ewig die Menschen für dumm verkaufen. Wir sehen es ja gerade in Australien, das zu den Blockierer-Ländern zählt.
Auch Brasilien zählt dazu.
Genau. Es sind einige: USA, Brasilien, Australien, Saudi-Arabien, um nur vier zu nennen. Man muss sehen, dass man nicht auf den Letzten wartet, denn dann wird es wirklich zu spät sein. Man muss zeigen, dass Wohlstand und Klimaschutz zusammengehen. Deutschland zeigt das seit geraumer Zeit, das dürfen wir nicht vergessen. Wenn wir es schaffen, bis Ende dieses Jahres den CO₂-Ausstoß um 40 Prozent zu reduzieren, wäre das ein tolles Signal. Wobei man nicht verhehlen darf, dass uns dabei die Deutsche Wiedervereinigung geholfen hat. Weil in den ostdeutschen Ländern die Industrie total zusammengebrochen ist, konnten wir enorm viel CO₂ einsparen. Das ist uns gewissermaßen in den Schoß gefallen.
Schon jetzt ist es so, dass die Klimaschäden, beispielsweise durch Extremwetterphänomene, weltweit zu immensen Kosten führen. Wie lässt sich diese Entwicklung am ehesten stoppen?
Indem die Wirtschaft umsteuert. Das war ja der Punkt in Davos. Die Vertreter der Wirtschaft haben gemerkt, dass der Klimawandel richtig viel Geld kostet. Deswegen gilt nach wie vor der Satz der Bundeskanzlerin, den sie vor Jahren gesagt hatte: „Wir sollten nicht fragen, was es uns kostet, wenn wir jetzt etwas tun, sondern sollten uns fragen, was es kostet, wenn wir jetzt nichts tun."
Auf welche unvorhersehbaren Auswirkungen müssen wir uns gefasst machen, wenn die Weltbevölkerung nicht ruhig und reflektiert auf den Klimawandel reagiert?
Im Prinzip sehen wir es schon jetzt. Im Extremfall werden tatsächlich einige Regionen der Erde unbewohnbar werden. Wir haben das sehr eindrücklich in Australien gesehen. Stellen Sie sich vor, dass dort Temperaturen bis an die 50 Grad herrschten. Im Süden Australiens gab es an einem Dezembertag Temperaturen von 49,9 Grad. Es gibt Grenzen der Anpassung für Mensch und Natur, und diese sind während der Brände in Australien tatsächlich erreicht worden. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es hierzulande auch Grenzen der Anpassung gibt. Wir können das immer wieder bei Starkniederschlägen beobachten. Gegenüber denen sind wir machtlos. Im letzten Jahr wurde in Lingen an der Ems 42,6 Grad gemessen, ein neuer deutschlandweiter Temperaturrekord. Jeder kann sich selbst ausmalen, was es bedeutet, wenn die Temperatur um zwei, drei, vier Grad weiter ansteigt.
Ist das Phänomen Klimaflüchtlinge ein ernst zu nehmendes Thema oder reagieren wir da panisch, wenn wir befürchten, dass durch den Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten Millionen Menschen emigrieren?
Natürlich gibt es sehr unterschiedliche Probleme aufgrund des Klimawandels. Die einen sind die rein klimabedingten Auswirkungen, dazu gehören zum Beispiel auch der Meeresspiegelanstieg und nicht nur die Wetterextreme. Hinzu kommt die Migrationsproblematik. Wenn Regionen unbewohnbar werden oder die Lebensbedingungen sich dramatisch verschlechtern, werden die betroffenen Menschen sich aufmachen. Außerdem wird sich die Sicherheitslage auf dem Planeten zum Negativen verändern. Insofern mag ich gar nicht daran denken, was passiert, wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht eingehalten werden.
Denken Sie, dass Deutschland sich darauf einstellen sollte, in zehn, 20, 30 Jahren Klimaflüchtlinge aufzunehmen?
Das weiß ich nicht. Wir dürfen natürlich auch nicht vergessen, dass dabei viele Aspekte eine Rolle spielen, unter anderem die Bevölkerungsexplosion. Insofern, glaube ich, dürfen wir das Klimathema auch nicht isoliert betrachten, sondern müssen alle großen Probleme der Menschheit in den Blick nehmen. Ich glaube, wir können sie nur alle zusammen lösen.
Bis 2050 soll Europa der weltweit erste klimaneutrale Kontinent werden. Halten Sie das für den richtigen Weg, den EU-Mitgliedsstaaten Klimaneutralität per Gesetz vorzuschreiben?
Das kann natürlich nur gelingen, wenn man wirklich solidarisch ist. Ich will mal ein Beispiel nennen: Polen. In Polen beträgt der Kohleanteil im Energiemix fast 80 Prozent. Wenn wir erst 2038 aus der Kohle aussteigen, wie soll Polen das dann bis 2050 schaffen? Da muss es Solidarität geben. Damit meine ich, dass es auf der einen Seite finanziellen Ausgleich zwischen den EU-Ländern geben muss. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben die alten westlichen Industrienationen sehr viel CO₂ in die Atmosphäre entlassen. Der Großteil davon befindet sich noch in der Atmosphäre. Deswegen haben sie eine große historische Verantwortung. Man kann nicht erwarten, dass jetzt andere Länder wegen des Klimaschutzes bankrottgehen. Also muss es da einen Ausgleich geben. Man muss sich überlegen, wie man Gelder umwidmet. Vor allen Dingen muss man wegkommen von nicht-nachhaltigen Subventionen und stärker nachhaltige Investitionen fördern. Deshalb finde ich es sehr gut, dass Frau von der Leyen den Green Deal formuliert hat, aber die Schwierigkeit wird darin bestehen, das Ganze umzusetzen. Aber da lasse ich mich gerne überraschen. Es muss klappen. Sonst sind wir bei Ihrer ersten Frage, ob wir überhaupt noch eine Chance haben oder nicht.