Sie hat kein Handy, kein Fernsehgerät, keinen Eisschrank und keinen Trockner – und lebt trotzdem nicht in einer Höhle. Landschaftsökologin Lucia Jochner-Freitag ist Mitgründerin der Initiative „100xklimaneutral" und hat es sich mit ihren Mitstreitern auf die Fahne geschrieben, die Welt ein Stück zu verbessern.
Die erste Frage, die man ihr in Pressegesprächen in der Regel stellt, dreht sie mittlerweile gerne mal um: „Warum leben Sie heute noch nicht klimaneutral?" Dr. Lucia Jochner-Freitag ist Landschaftsökologin und sieht genau dies zunehmend mit Unverständnis. Bequemlichkeit sei oftmals mit im Spiel. In Gesprächen mit Umweltpsychologen kam zudem zur Sprache, dass scheinbar auch die „zeitliche und räumliche Entkoppelung zwischen dem eigenen Tun und dem, was es auslöst" eine Rolle spiele. Sprich: Die Auswirkungen sind ausgelagert in Länder, die heute schon besonders betroffen sind, etwa auf dem afrikanischen Kontinent. Hinzu kommt der zeitliche Aspekt: Den Klimawandel werden wohl unsere Kinder und Enkelkinder noch stärker zu spüren bekommen als wir jetzt. Man schiebt es also vor sich her.
Was also tun? Im November 2018 gründeten sechs Inzellerinnen und Inzeller die Initiative „100xklimaneutral", um ein deutliches Statement zu setzen, Lucia Jochner-Freitag und ihr Mann Martin Jochner sind Gründungsmitglieder. Auf ihrer Internetseite bezeichnen sie sich als Fachleute und versierte Laien, die sich seit Jahren mit dem Klimawandel beschäftigen. Sie seien engagierte Christen zwischen 14 und 70 Jahren, Schüler, Selbstständige, Beamte und Angestellte. „Nein", beantwortet sie aber lachend und ganz klar die Frage, ob man tatsächlich Christ sein müsse, um mitzumachen.
Dementsprechend breit gefächert ist die muntere Gruppe aus 38 Personen nun. Die sechs Initiatoren stammen aus der bayerischen Gemeinde Inzell, weitere Mitstreiter unter anderem aus Cottbus, Burghausen, Heidenheim oder Mettlen in der Schweiz sind inzwischen dazu gekommen.
„Wir sind genau wie der Klimawandel nicht räumlich begrenzt", erklärt sie. Sollte sich bald der 100. Mitstreiter anschließen, werde eine Party gefeiert – natürlich klimaneutral. Und es wird Musik geben. Denn – ob Zufall oder nicht – viele der Mitstreiter, die sich zur Selbstverpflichtung auf der Internetseite www.100xklimaneutral.com
eingetragen haben, machen selbst Musik oder sind anderweitig kreativ tätig. Froh sei sie, wenn man das Fest noch in diesem Herbst feiern könne, einen genauen Zeitplan für das Erreichen der 100 gebe es aber nicht.
Viele Christen und Musiker in der Initiative
Doch wie will die Initiative weitere Menschen mit der Idee anstecken? Sie verspüre eine gewisse Lähmung bei Mitmenschen, gibt sie unumwunden zu. Das sei vor allem der wenigen Zeit zuzuschreiben, die noch bleibt, um die Klimakatastrophe abzuwenden. „Da ist es an uns zu sagen: Es ist möglich, jetzt und hier, für jeden und jede, in unserem Land und in anderen Ländern, klimaneutral zu leben." Kurz: Der Sprachlosigkeit vor dem Unbekannten, das monströs auf uns zukommt, eine Stimme entgegenzusetzen.
Lucia Jochner-Freitag lacht und sagt „Ja" auf die Frage, ob ihr nicht die Leugner eines von Menschen gemachten Klimawandels auf die Nerven gehen. Immerhin pflegen mehr als 90 Prozent der Fachleute den Konsens, dass genau dem so ist. Es gebe Menschen, die aus Unwissenheit und Naivität etwas nachplappern würden. Gefährlicher sei jedoch der Menschenschlag, der aus anderen Interessen, meistens Bezahlung, den Klimawandel leugnet. Nichtsdestotrotz versucht sie, diese Menschen in Diskussionen zu überzeugen. „Ich kann’s ja nicht lassen."
Lassen kann sie es auch nicht, für ein klimaneutrales Leben einzutreten, das auch andere ganz einfach umsetzen könnten. „Es sind zwei Schritte", erklärt sie, „im ersten Schritt den eigenen CO₂-Ausstoß zu vermindern, soweit es unter den momentanen persönlichen Gegebenheiten geht." Im zweiten Schritt soll der verbleibende Rest kompensiert werden, sodass keine zusätzliche CO₂-Freisetzung durch das eigene Leben verursacht wird. Ein ambitioniertes Ziel von „100xklimaneutral" sei es, weg von der Privatinitiative zu gehen und sozusagen eine gesellschaftliche Bewegung zu werden. Es solle schließlich eine „faktische Entlastung" für die Umwelt werden und nicht nur eine öffentlichkeitswirksame Kampagne sein.
Seit rund 30 Jahren beschäftige sie sich fachlich mit der Thematik. Kleinere Initiativen habe es da immer schon gegeben. Doch gerade im vergangenen Jahr hätten sich ihres Wissens nach zahlreiche Organisationen gegründet. „Einfach aus dem Bewusstsein heraus, dass noch viel zu wenig passiert." Sie selbst habe spätestens mit Beginn ihres Studiums versucht, umwelt- und somit klimafreundlich zu leben. Die Entscheidung, komplett klimaneutral zu leben, habe sich tatsächlich erst mit Start der Initiative vor rund anderthalb Jahren eingestellt.
Ziel ist, gesellschaftliche Bewegung zu werden
Ihr derzeitiger ausgerechneter CO₂-Ausstoß betrage etwa 4,5 Tonnen pro Jahr – die Pro-Kopf-Emission betrug 2018 in Deutschland laut dem Online-Portal Statista 8,6 Tonnen pro Jahr. Der Wert sei demnach, seit er 1990 12,5 Tonnen betrug, ziemlich konstant jedes Jahr gesunken. Unter anderem auf der Seite des Bundesumweltamtes kann man sich seinen Verbrauch ausrechnen. Dort ist jedoch mit 11,61 Tonnen auch ein deutlich höherer durchschnittlicher Pro-Kopf-Ausstoß angegeben. Auf jeden Fall sei die Berechnung interessant, weil sie aus Gesprächen wisse, dass sich viele Bürger falsch einschätzen würden – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Es könne also nicht nur ein Frustgefühl entstehen, weil man über dem Schnitt liegt, sondern es könne aus dem genau anderen Grund auch ermutigend sein, seinen Weg fortzusetzen. Es gebe verschiedene Systeme, mit denen man sich seinen Verbrauch ausrechnen könne, sogar runter bis auf den täglichen Kleinstverbrauch. Das sei aber nicht unbedingt alltagspraktikabel und nehme auch etwas den Spaß am Leben, wie sie selbst anfügt.
Der Verzicht auf Fleischkonsum wird von Experten immer wieder empfohlen. Lucia Jochner-Freitag selbst ist seit ihrem 20. Lebensjahr Vegetarierin. Da hat sie in der Vergangenheit manch obskure Begebenheit mitbekommen. Wenn sie mitunter auf Seminaren zu spät beim vegetarischen Essen war, war dies schon aus. Der Grund? „Viele, die Fleisch bestellt hatten, sahen das vegetarische Essen und dachten sich: Das schaut aber lecker aus." Auf ihrem Grundstück baut sie mit ihrem Ehemann selbst Obst und Gemüse an. Teilweise ernähren sie sich auch von Wildpflanzen.
Der heutige „irrsinnige Energieverbrauch im Ernährungssektor" habe sich aus natürlichen Zusammenhängen vollkommen entkoppelt. Jochner-Freitag benennt als Beispiele die Mast von Massentierhaltung, klinische Synthese von Düngemitteln, den Import von Soja als Futter. „Das hat ja nichts mehr mit dem natürlichen Kreislauf zu tun." Dies müsse man sich immer wieder bewusst machen: Dass es sich dabei um eine Entwicklung der Industrialisierung handelt. Doch sie weiß auch, dass nicht jeder Lust und Zeit hat, sich einen Nutzgarten anzulegen. Doch auch hier helfe immer wieder: regional, saisonal und biologisch kaufen.
„Grundlegender Wandel muss in allen Bereichen erfolgen"
Wer keinen Garten hat, weil er beispielsweise in der Stadt wohnt, habe andere Möglichkeiten zum Rückfahren seines CO₂-Ausstoßes. „Es ist in München kein Problem, heute ohne Auto zu leben", argumentiert sie. Der ÖPNV sei recht gut ausgebaut, dann gebe es verschiedene Anbieter für Carsharing. Auf dem Land sei das hingegen noch „sehr ausbaubedürftig", wie sie es betont zurückhaltend formuliert. Hierbei übt sie an sich selbst auch Kritik, da sie selbst noch ein Auto besitze. Aber zumindest ist es ein elektrisch angetriebenes und wird unter drei Fahrern aufgeteilt. „Das ist nicht die große Lösung, aber im Moment das geringste Übel." Auf jeden Fall habe bei ihr die Mobilität eine Reihenfolge. An erster Stelle steht für sie zu Fuß gehen und Radfahren, dann der ÖPNV, dann das Auto.
Geflogen ist sie zum letzten Mal vor mehr als 20 Jahren. Heute gebe es bei Fernreisen auch durchaus Anbieter, die umweltbewusster agieren als andere. Nichtsdestotrotz habe das Fliegen einen extrem hohen CO₂-Ausstoß. Es gelte also, dass jeder sich selbst hinterfragt. Wenn etwa viele Wähler von Bündnis 90/Die Grünen nachgewiesenermaßen einen hohen Reiseanteil haben und dennoch diese Partei wählen, die ja für andere Ziele steht, halte sie das „für kontraproduktiv".
Sie habe mitunter den Eindruck, dass manche Menschen die ökologischen Zusammenhänge vor ihrer Haustür nicht realisieren würden oder auch einfach nicht kennen. Dies würden sie sozusagen mit Fernreisen kompensieren wollen.
Nun ist aber nicht jeder Weg so einfach mit dem ÖPNV umzusetzen oder man hat auch nicht immer die Zeit, teils deutlich längere Strecken zurückzulegen. Man denke nur daran, von Ballungsgebieten in entferntere ländliche Gebiete zu kommen. Was tun? Hier müsse man massiv fordern, die Angebote auszubauen und die Preise zu senken. In Städten mit Modellcharakter wie Augsburg oder Wien sei dies auch bereits mit Erfolg umgesetzt worden. „Der ÖPNV muss so interessant und attraktiv werden, sowohl vom zeitlichen als auch vom preislichen Angebot, dass es viel schwieriger wird, ihn nicht zu nutzen."
Mit dem Wirken von Initiativen wie „100xklimaneutral" soll auch die Politik in die Pflicht genommen werden. „Es muss ein grundlegender Wandel erfolgen und zwar in allen Bereichen." Auf die Frage, ob in Einzelbereichen auch Verbote vonnöten seien, erinnert sie an die Diskussionen im Vorfeld des Rauchverbotes, welches mittlerweile vom Großteil der Bevölkerung sogar begrüßt werde. Genauso bedeute klimaneutral zu leben nicht nur Verzicht, sondern in vielen Bereichen sogar eine Erhöhung der Lebensqualität.