Rund einen Monat nach seiner überraschenden Verpflichtung wird es für den neuen Handball-Bundestrainer ernst. Im einzigen Testspiel vor der Olympia-Qualifikation im April in Berlin werden gleich erste Verbesserungen gegenüber dem EM-Auftritt seines neuen Teams erwartet.
Alfred Gislason also. Mit dem Starcoach als neuem Bundestrainer auf der Bank soll die deutsche Handball-Nationalmannschaft auf den letzten Drücker doch noch die Qualifikation für die Olympischen Spiele im Sommer in Tokio schaffen. Einzige Gelegenheit für einen Test auch für das Zusammenspiel zwischen dem Team und seinem neuen Trainer vor dem Olympia-Qualifikationsturnier (17. bis 19. April) in Berlin ist das Länderspiel am 13. März in Magdeburg gegen die Niederlande.
Gislasons Verpflichtung durch den Deutschen Handballbund (DHB) kurz nach der durchwachsenen EM mutete wie eine Lebensversicherung an. Tatsächlich erscheint der renommierte Isländer – der erst mit dem SC Magdeburg und bis zum vergangenen Sommer über elf Jahre mit dem THW Kiel insgesamt dreimal Champions-League-Sieger und mehrfach Deutscher Meister wurde – als lebendiger Gegenentwurf zu seinem farb- und obendrein bei gleich drei Versuchen seit 2017 auch glücklosem Vorgänger Christian Prokop.
„Wir rechnen uns mit Alfred die besseren Chancen aus, in Zukunft erfolgreich zu sein und haben einen Philosophiewechsel", erläuterte DHB-Vizepräsident und Ligaverbandschef Uwe Schwenker die Aspekte für den nach durchaus glaubhaft wirkenden Treueschwüren recht unerwarteten Rauswurf von Prokop. „Wir hatten einen jungen Systemtrainer, jetzt haben wir einen erfahrenen, souveränen, charismatischen Trainer, der wie ein Fels in der Brandung steht. Wir haben im Vergleich zur Weltspitze keinen Unterschiedsspieler, jetzt haben wir einen Unterschiedstrainer."
Die Angst vor dem Scheitern ist beim DHB groß
Den markantesten Unterschied von Gislason zu Prokop macht vor allem die Erfahrung des alten Haudegens aus. Der 60-Jährige fordert allein durch seine Aura Respekt ein, die durch zahlreiche Erfolge in den wichtigsten Wettbewerben massiv verstärkt wird. Nicht von ungefähr gilt sein Coaching-Stil aufgrund seines selbstbewussten Auftretens auch als „breitbeinig". Prokops Autorität hingegen litt stillschweigend sicherlich auch darunter, dass der fast 20 Jahre jüngere Leipziger in seiner noch kurzen Trainerkarriere eben noch nichts gewonnen hat. Nunmehr folgt dem vielsprechenden Coaching-Talent einer, der schon mit allen Wassern gewaschen ist, mithin praktisch alles erlebt und eben auch fast alle großen Titel geholt hat.
Eine Handball-Revolution durch das deutsche Team, das bei der EM zu Jahresbeginn auf Platz fünf besonders bei den entscheidenden Pleiten gegen Spanien und Kroatien noch erheblichen Rückstand zur Weltspitze offenbarte, ist allein aufgrund von Gislasons Amtsantritt nicht zu erwarten. Die großen Probleme im Angriff lassen sich nicht durch Handauflegen lösen, so dass auch Gislason auf gute Torhüter, eine robuste Abwehr und auf Tempogegenstöße setzen dürfte.
Auch Nationalmannschafts-Kapitän Uwe Gensheimer von den Rhein-Neckar Löwen rechnet vorerst nicht mit umwälzenden Neuerungen durch den Personalwechsel auf der Kommandobrücke: „Viel umstellen kann man in der kurzen Zeit nicht", beschreibt der frühere Frankreich-Legionär die begrenzten Einflussmöglichkeiten des Coaches aufgrund des weitgehend feststehenden Kaders.
Dennoch dürfte einiges anders werden beim deutschen Team. Gislason paart auf eine bemerkenswerte Weise Gradlinigkeit, Aufrichtigkeit, Empathie, Fairness und Loyalität mit Pragmatismus, akribischen Taktikfähigkeiten und an Besessenheit grenzenden Perfektionismus. „Ich werde nicht alles auf den Kopf stellen, aber ich werde versuchen, eine Dynamik zu entwickeln", kündigte Gislason an.
Kapitän Gensheimer glaubt an Kontinuität beim Personal
Abwehrchef Hendrik Pekeler, der schon in Kiel unter Gislason spielte, verspricht sich von seinem ehemaligen Vereinscoach jedenfalls einige belebende Impulse für das Spiel des zweimaligen Weltmeisters: „Alfred hat unglaublich viel Erfahrung, ein sehr gutes Ansehen in der Handball-Welt und dazu die fachlichen Kompetenzen. Ich glaube, Alfred ist der Richtige für diese Aufgabe."
Auch bei der früheren Handball-Großmacht Russland hielten die mächtigen Funktionäre Gislason für den richtigen Mann für die Rückkehr an die Weltspitze. Der im vergangenen Sommer nach elf Jahren in Kiel etwas ausgebrannt in ein Sabbatical gegangene Coach führte Anfang Februar sogar scheinbar sehr positive Gespräche in Moskau und benötigte eigentlich nur noch die Zustimmung seiner Ehefrau für ein Engagement bei der „Sbornaja". Doch unmittelbar nach der Landung in Deutschland klingelte Gislasons Mobiltelefon. „Wir müssen reden", sagte Schwenker am anderen Ende der Leitung. Damit nahm Prokops während der EM durchaus zu erwartende, nach dem Turnier aber nicht mehr für möglich gehaltene Entlassung ihren Lauf.
Schwenker, einst als THW-Manager Gislasons kongenialer Partner in der Führung von Rekordmeister Kiel, hatte von den Comeback-Plänen seines Trauzeugen Wind bekommen und witterte dadurch im DHB-Machtkampf mit seinem Vizepräsidenten-Kollegen Bob Hanning die Gelegenheit zu einem vorentscheidenden Schlag. Angesichts der mäßig befriedigenden Bilanz von Hannings Schützling Prokop nutzte Schwenker Russlands Angebot für Gislason als Druckmittel und setzte dem Verbandspräsidium, das seinem Favoriten in der Vergangenheit vergeblich schon mehrere Angebote unterbreitet hatte, praktisch Daumenschrauben an: Gislason war plötzlich zu bekommen – aber eben nur jetzt oder nie. Die Mehrheitsentscheidung der Verbandsspitze bei der Hauruck-Abstimmung verdeutlichte dann sowohl den entgegen allen Beteuerungen großen Mangel an Vertrauen in Prokops Fähigkeiten als auch den Machtverlust des seit Langem fast nur noch mit schriller Selbstinszenierung beschäftigten DHB-Paten Hanning.
Der kleine Gernegroß, der Prokop für eine Ablösesumme von 500.000 Euro als Nachfolger von Erfolgscoach Dagur Sigurdsson geholt hatte und nach Ansicht vieler Beobachter nur aus persönlicher Eitelkeit eine frühere Trennung von seinem Protegé und damit eine Korrektur seiner Fehlentscheidung verhindert hatte, erkannte die Zeichen. Nur einen Tag nach der Inthronisierung von Gislason kündigte Hanning für 2021 seinen Rückzug aus der Verbandsspitze an.
Zweiter Platz beim Turnier ist Pflicht
Doch für deutsche Handball-Größen wie Christian Schwarzer ist selbst das noch nicht ausreichend. „Vielleicht sollte nicht nur der Trainer gehen, sondern auch derjenige, der ihn installiert hat. Eigentlich sollte der gehen, dessen Projekt das war, der das damals initiiert hat, mit Ablöse und allen anderen Nebengeräuschen. Prokops Scheitern ist auch ein Scheitern von Hanning. Das eine hängt mit dem anderen zusammen", sagte der Weltmeister von 2007.
Schwenker, der nach dem EM-Misserfolg von 2018 mit seiner Kritik an Prokop wegen Hannings Widerstand noch keine Mehrheit für die Ablösung des Coaches gefunden hatte, ging denn auch auf die denkbar größtmögliche Distanz zu seinem internen Gegenspieler. Seine süffisanten Sticheleien mit Seitenhieben auf Hannings in den letzten Monaten auffällig extravaganten Kleidungsstil spiegelten die neuen Kräfteverhältnisse im DHB: „Bob war als Motor die treibende Kraft, um den DHB in eine bessere Situation zu bringen. Wenn eine Sache aber extrem wird, wird sie sicherlich oftmals auch schnell kontraproduktiv", sagte Schwenker über seinen ausgestochenen Rivalen.
Gislason konzentriert sich unterdessen schon auf die Vorbereitung seines Debüts als Bundestrainer und plant eine „Deutschland-Tour". Vor dem Test gegen Oranje praktisch vor seiner Haustür will der Coach, der in der Nähe von Magdeburg lebt, seinen Spielern schon durch Visiten bei den Vereinen „in Einzelgesprächen oder auch in Gruppen" erste Vorstellungen von seinen Plänen vermitteln.
Ob Gislason seine neuen Spieler mit seiner Philosophie erreichen kann, wird sich bei der Olympia-Ausscheidung in Berlin zeigen. Im Turnier mit Slowenien, Schweden und Algerien muss die deutsche Mannschaft für ein Ticket nach Tokio mindestens Rang zwei erreichen. Das hatten allerdings schärfste Kritiker selbst Prokop auch noch zugetraut.