Mitte März wählt Frankreich seine Kommunalparlamente neu. Viele Bürgermeister lassen sich nicht mehr aufstellen. Die Gründe: Zuständigkeitsgerangel und mangelnde Anerkennung – ein Phänomen, das auch deutsche Rathauschefs umtreibt.
Am 15. und 22. März finden in Frankreich Kommunalwahlen statt. Dann sind rund 47 Millionen wahlberechtigte Franzosen und rund 1,5 Millionen EU-Bürger mit erstem Wohnsitz in Frankreich aufgefordert, ihre Vertreter in die Stadt- beziehungsweise Gemeindeparlamente zu wählen. Doch die Kommunen haben ein Problem: Mehr als 40 Prozent der derzeitigen Bürgermeister in den etwa 36.000 Kommunen wollen nicht mehr antreten und weitere sechs Jahre einer Institution vorstehen, die von Staatswegen auf das Abstellgleis geschoben wurde. „Zwölf Jahre reichen, jetzt müssen andere ran", sagt der scheidende Bürgermeister Pascal Andres der 700-Seelen-Gemeinde Meisenthal in den nördlichen Vogesen. Altersgründe, Zeitprobleme und die zunehmende Respektlosigkeit gegenüber dem politischen „Ehrenamt" Bürgermeister sind die eine Seite. Ein Phänomen, das mittlerweile auch deutsche Rathauschefs umtreibt und auf deutscher Seite sogar Morddrohungen mit einschließt, wie jüngst im Saarland, in der Oberpfalz oder in Sachsen-Anhalt. Doch was die französischen Bürgermeister zunehmend nerve, sei die schleichende Kompetenzbeschneidung der Kommunen, so der noch amtierende Bürgermeister Joël Niederlaender aus Grosbliederstroff unweit der deutsch-französischen Grenze. Auch er tritt nicht mehr an.
Nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein" geben die Kommunen immer mehr Zuständigkeiten an die nächstgrößere Gebietskörperschaft ab – an die sogenannten Communautés des Communes. Diese Gemeindeverbände vereinen zunehmend kommunale Kompetenzen, angefangen bei der Straßenbeleuchtung und dem Straßenbau über die Wasserver- und Abwasserentsorgung bis hin zu Kinderkrippen und dem Bauwesen. Größere Einheiten gelten zwar als durchschlagskräftiger und effizient, aber kleine Gemeinden haben es schwer, sich ausreichend Gehör im Konzert der Großen zu verschaffen. So besteht zum Beispiel der Gemeindeverband Bitscher Land aus 46 Kommunen. „Will ein Bewohner Meisenthals auf seinem Grundstück beispielsweise eine Garage errichten, reichen wir das Dossier einfach nur noch weiter", sagt Bürgermeister Andres. „Wir entscheiden immer weniger, und das bedeutet im Klartext: weniger Befugnisse gleich weniger Geld. Und das sorgt eben für Frust in den kommunalen Parlamenten und bei den Bürgermeistern." Als wesentliche Einnahmequellen bleiben den Städten und Gemeinden die Grund- und Wohnsteuer sowie die finanziellen Zuweisungen vom Staat zur kommunalen Aufgabenwahrnehmung.
Kommunen verlieren Zuständigkeiten
Politisch ist dieser schleichende Kompetenzverlust der Kommunen aber durchaus gewollt. Seit der Reform der Gebietskörperschaften unter Macrons Vorgänger François Hollande wurden größere Verwaltungseinheiten, 13 Mega-Regionen, geschaffen und Gemeindeverbände gestärkt. Scheibchenweise wurden die Kompetenzen verschoben, sehr zum Leidwesen der Départements und auch der Kommunen. So ganz abschaffen wollten die Franzosen ihre seit Napoleon bestehenden Strukturen dann aber wohl doch noch nicht. „Wir ticken einfach anders als die Deutschen, die beschlossene Änderungen zu einem festgelegten Tag X umsetzen. Wir Franzosen machen das eben häppchenweise", sagt Niederlaender.
Ein Sterben auf Raten der französischen Kommunen oder der kommunalen Selbstverwaltung? Da wundert es kaum, dass es immer schwerer wird, geeignete Kandidaten für die Gemeinderäte oder Bürgermeister zu finden. Das gilt insbesondere für die Minikommunen mit weniger als 100 Einwohnern. Mit Ach und Krach gibt es dort gerade mal eine Kandidatenliste, auf der die Wähler sogar nach Herzenslust bereitwillige oder ihnen unliebsame Bewerber einfach durchstreichen können. In Deutschland wäre der Wahlzettel sofort ungültig, in Frankreich nicht. Die Kandidaten müssen noch nicht einmal ihre politische Gesinnung oder Parteizugehörigkeit angeben. Doch in den kleinen Dörfern kennt man sich und weiß, welchem politischen Lager jemand angehört. Gewonnen haben die Kandidaten mit den meisten Stimmen, die dann in den Gemeinderat einziehen und aus ihrer Mitte den Bürgermeister wählen. Wenn es denn überhaupt einer machen will. In Meisenthal habe man ihn regelrecht angefleht, den Job zu machen, erzählt Pascal Andres. „Abends an meiner Haustür", erinnert er sich, „haben sie mich überredet." Er kenne sich doch aus mit Verwaltungsaufgaben.
Es gibt aber auch die Unentwegten wie Francis Sidot. Seit 1977 steht er an der Spitze der Gemeinde Montbronn bei Bitsch. Die Alten können es eben nicht lassen. Und selbst jetzt überlegt er, vielleicht ein weiteres Mal anzutreten, denn eine Altersbeschränkung gibt es nicht für den Job des Bürgermeisters.
Auch in der bei Deutschen so beliebten grenznahen Wohngemeinde Alsting – dort leben 20 Prozent Deutsche – will Bürgermeister Jean-Claude Hehn noch einmal sechs Jahre dranhängen. „Zwar sind auch bei uns die finanziellen Mittel arg begrenzt, aber ich möchte die angestoßenen Projekte dieser Legislaturperiode noch zu einem guten Ende bringen, zum Beispiel das Gesundheitszentrum, die längst fällige Sanierung der Sporthalle und die Erneuerung einiger Straßen." Danach sei aber endgültig Schluss, sagt der heute 60-Jährige, der seit 1995 amtierender Bürgermeister ist. Auch er gibt unumwunden zu, dass es um geeignete Nachfolger schwer bestellt sei. „Wir hatten Schwierigkeiten, unsere Liste vollzukriegen. Viele Jüngere interessieren sich nicht für Politik."
Ausufernde Bürokratie
Ein weiterer Grund für die mangelnde Motivation ist die zunehmende Komplexität der Verwaltungsvorgänge. Noch-Bürgermeister Andres zeigt ein Dossier aus den 70er-Jahren, ein paar Seiten dünn, über den Bau einer neuen Straße. „Heute füllt das gleiche Projekt gleich drei bis vier Aktenordner, und das im digitalen Zeitalter." Einspruchsfristen, Anträge, Bedarfsplanungen, Änderungen, Finanzierungspläne, Gutachten. Das schreckt ab, vor allem diejenigen, die als gewählte Vertreter des Volkes nicht vom Fach sind. Hinzu kommen die Klagefreudigkeit einiger Mitbürger, die Beleidigungen im Internet oder die gewachsene Respektlosigkeit und das Beharren auf das eigene Recht. Warum soll man sich das freiwillig antun, fragt sich so mancher Bürgermeister. Früher habe man Streitigkeiten bei einer Flasche gutem Rotweins geklärt, im Rathaus und zur Zufriedenheit aller Beteiligten, sagt Andres. Heute werde direkt geklagt, wenn man nicht sofort Recht bekomme.
Außerdem fällt die Aufwandsentschädigung der Bürgermeister und Räte im Gegensatz zu Deutschland nicht gerade üppig aus. Sie richtet sich nach der Größe der Kommune, sodass zum Beispiel für eine 3.000-Einwohner-Gemeinde gerade mal 1.300 Euro rüberkommen. Davon muss die Hälfte noch versteuert werden. Deswegen ist der Bürgermeisterposten in den meisten Kommunen mehr oder weniger eine Ehrenamtsaufgabe, abends und an Wochenenden. Ohne zusätzliche Arbeitsstelle sei der Job nicht zu machen, um finanziell über die Runden zu kommen, heißt es. Und das, obwohl der Chef der Verwaltung Personalverantwortung trägt. Üppige Pensionen für das Amt des Bürgermeisters sind ebenfalls Fehlanzeige, es sei denn, man ist Bürgermeister einer großen Stadt und hat vorher schon in der Verwaltung oder im öffentlichen Dienst gearbeitet, was zugegebenermaßen oft der Fall ist: Nicht selten sind Bürgermeister in ihrem Hauptberuf Staatsbedienstete wie Lehrer oder Angestellte im öffentlichen Dienst.
Besonders die an Frankreich angrenzenden Bundesländer Saarland, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg blicken mit Spannung auf die französischen Kommunalwahlen. Denn in vielen grenzüberschreitenden Gremien auf kommunaler Ebene dürften demnächst neue Gesichter erscheinen. Jean-Claude Hehn: „Früher wäre es eine Ehre gewesen, im Gemeinderat tätig zu sein." Heute werde das für viele Amtsträger zunehmend zur Last.