Literaturkritiker Denis Scheck hat mit „Schecks Kanon" eine ungewöhnliche Zusammenstellung von 100 Literaturempfehlungen vorgelegt.
Herr Scheck, im Vorwort von „Schecks Kanon" bezeichnen Sie schon in der Überschrift das Vorlegen Ihres literarischen Weltkanons als „frivoles Unternehmen". Was meinen Sie damit?
Es ja hat durchaus etwas von Größenwahn, als einzelner Literaturkritiker einen Kanon vorzuschlagen. Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, mein Unternehmen mit Lindgrens größenwahnsinnigem Karlsson vom Dach zu beginnen. Und natürlich ist mir auch klar, dass die einzigen kanonisierenden Instanzen die Zeit und die Gesellschaften sind, in denen wir leben. Insofern ist so ein Kanon ein Spiel, wenn man so will, ein frivoles Spiel. Aber wenn man sich auf das Kanonspiel einlässt, lassen sich damit sehr schöne Erkenntnisse gewinnen.
Eines der Märchen, das mein Vater gern vorlas, war: „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren". Weshalb war Ihnen wichtig, dass ein Grimm-Märchen vertreten ist?
Märchen stehen nicht nur am Anfang unserer individuellen literarischen Sozialisation, sondern am Anfang der Weltliteratur überhaupt. Und wenn man dann noch so ein schönes Märchen wie das vom „Teufel mit den drei goldenen Haaren" hat, in dem der Teufel von seiner Ellermutter wie ein kleines Kind geschurigelt wird, macht das natürlich doppelt Freude.
Gewünscht hätte ich mir in Ihrem Kanon „Die Wand" von Marlen Haushofer. Ein Text, der mich in seiner Radikalität mit Wucht getroffen hat. Nach der Lektüre war „mein Blick auf die Welt nachhaltig verändert": Ein Kriterium, das Sie einem Werk, das zur Weltliteratur zählen sollte, abverlangen. Hätte das Buch in „Schecks Kanon 2" eine Chance?
Unbedingt. Auf Haushofer verzichtet zu haben, schmerzt mich genau wie der Verzicht auf Günter Grass und Hanna Ahrendt, Max Frisch und Joan Didion, Friedrich Schiller und Friedrich Dürrenmatt. Ganz zu schweigen von Asterix …
Als weitere Kriterien nennen Sie „Repräsentativität", „Relevanz" und „Überzeitlichkeit". „Harry Potter" hat unzweifelhaft eine Generation von Kindern zum Lesen animiert, aber: Relevanz und Überzeitlichkeit für „Faust", aber: „Harry Potter"?
Allein schon für ihre Idee der bissigen Bücher, die man streicheln muss, ehe man sie öffnen kann, gebührt Rowling Einzug in meinen Kanon. Aber im Ernst: J.K. Rowling hat um die Jahrhundertwende bewiesen, dass dem Medium Buch immer noch die Macht innewohnt, die Weltbevölkerung dem Fortgang einer Geschichte entgegenfiebern zu lassen, wie das früher Charles Dickens oder Alexandre Dumas geschafft haben.
Etliche Namen von Autoren und Autorinnen Ihres Kanons kenne ich nicht. War es vielleicht auch Absicht, den Kanon zu nutzen, um diese Autorennamen beim Publikum bekannt zu machen?
Natürlich ist so ein Buch immer auch der Versuch, zu neuen Entdeckungen einzuladen. Der Anteil der Frauen an der Weltliteratur etwa wurde jahrhundertelang kleingerechnet. Da empfinde ich es als Selbstverständlichkeit, Totgeschwiegene, ja Totgeschlagene wie etwa Hypatia wieder ins Scheinwerferlicht zu rücken.
„Franz Kafka ist der Maßstab aller Literatur", schreiben Sie. In Ihren Kanon setzten Sie die „Tagebücher", aber keinen Roman. Erklären Sie damit Kafkas „Tagebücher" posthum zur Literatur?
Natürlich zählen Kafkas Tagebücher zur Literatur. Und mir bedeuten Sie fast noch mehr als seine Prosa, weil man darin dem lebendigen Kafka begegnet, dem unausrechenbaren und unberechnenden.
„Lolita" von Vladimir Nabokov findet sich in Ihrem Kanon. Manch weibliche Leserin lehnt dieses Buch ab. Können Sie sich vorstellen warum?
Manch männliche Leserinnen sicher auch. Wie Schiller wusste, kämpfen gegen Dummheit selbst die Götter vergeblich. Die größte Stärke der Literatur ist ja, uns aus unseren Komfortzonen herauszulocken, uns dem Widerspruch, dem Dreck und auch dem Abscheulichen auszusetzen und so unsere Selbstgewissheiten zu erschüttern.
Kürzlich erhielt ich als Buchgeschenk Giuseppe Tomasi di Lampedusa „Der Leopard", den Sie in den Kanon aufgenommen haben. Was erwartet mich?
Einer der schönsten Romane über den Untergang einer Familie der Weltliteratur. Und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass sich alles ändern muss, wenn alles so bleiben soll, wie es ist.
Sie waren schon im Saarland. Was hat Ihnen gefallen?
Als Literaturkritiker weiß ich natürlich, dass Erkenntnis immer in Grenzregionen entsteht. Und als Kölner ist mir zudem mit Nonchalance im Alltag ausgelebte Korruption bestens vertraut …
Denis Scheck beantwortete per E-Mail übermittelte Fragen. Nachfragen waren, wie bei einem mündlichen Interview, nicht möglich.