Sie ist das Aufregendste, was deutsche Popmusik gerade zu bieten hat, jubelte der „Spiegel" über Balbina. Herbert Grönemeyer nahm sie bereits mit auf Tour und ist auf ihrem aktuellen Album „Punkt." zu hören. Balbina Monika Jagielska (36) im Interview.
Balbina, das Album „Punkt." ist aus einer tiefen Depression heraus entstanden. Angeblich wollten Sie mit dem Schreiben und Singen aufhören. Was war mit Ihnen passiert?
Bevor ich mit dem finalen Prozess zu „Punkt." begann, war ich in einem Tief. Ich war nicht glücklich als Künstlerin in einem Major-Konstrukt. Ich hatte das Gefühl, den Rahmen neu zusammensetzen zu müssen. Es war eine relativ harte Phase, und ich begann, vieles zu hinterfragen. Das war eine depressive Stimmung, aus der es nur zwei Auswege gab: weiterzumachen oder aufzugeben. Ich entschied mich dazu, aus den Erkenntnissen einen Schlusspunkt zu setzen und schöpfte erst daraus die Kraft für einen Neubeginn.
War das eine schwierige Entscheidung?
Ja, da man als Künstlerin oftmals der Illusion unterliegt, ein Major wäre das Nonplusultra. Wie ein Zuhause, das man endlich gefunden hat. Ich war nun am Scheidepunkt: Würde ich diese Tür schließen, gäbe es erst einmal kein Zurück. Solch eine Entscheidung kann man nicht einfach revidieren. Als ich diesen Entschluss jedoch traf, ging es mir besser. Ich puzzelte mir mein eigenes kleines Team zusammen, das ich nicht mehr ständig von mir überzeugen musste. Dieser zermürbende Prozess fiel einfach weg. Das ist ein Luxus.
Der Albumtitel „Punkt." steht für diesen Wendepunkt in Ihrer Karriere?
Für mich ist der Punkt ein wahnsinnig starkes Symbol auf einer Metaebene. In der Sprache beendet man damit etwas. Aber für mich steht er eher für einen Neuanfang. Für eine Kraft, die sich daraus entwickelt. Er bedeutet, dass man sich getraut hat, etwas abzuschließen und einen Neubeginn zu starten. Wir leben in einer Demokratie, in der ich mich selbst verwirklichen und meinen eigenen Punkt setzen kann, ohne dafür um Erlaubnis zu bitten. Dieses Privileg hat mir Kraft gegeben. Man hält sein Schicksal mehr in der Hand, als man manchmal glaubt.
Was war Ihnen bei dieser Platte in musikalischer Hinsicht wichtig?
Ich habe diesmal versucht, im Studio so zu singen und zu performen, als würde ich live auftreten. Wenn ich live spiele, habe ich immer eine starke Verbindung zum Publikum, ich erzähle die Lieder richtig. Ich wollte es auf Albumlänge schaffen, nicht nur technisch korrekt zu singen, sondern eben auch die Emotion zu transportieren. Deswegen habe ich bei den Aufnahmen oftmals Zuhörer ins Studio eingeladen. Dadurch hat die Musik eine emotionale Schärfe bekommen.
Sie haben Rammsteins „Sonne" auf erfrischend-unheimliche Weise neu interpretiert. Was bedeutet Ihnen dieser Song?
Das Lied „Sonne" steht für die essenziellste Art von Kraft. Die Sonne gibt mir als Mensch mit all meinen Zellen und Knochen sehr viel Energie. Dieses Lied illustriert für mich das Leben: Es ist ein spielerischer Wechsel zwischen Dunkelheit und einer leichteren Aufhellung, wenn die Sonne durch die Wolken bricht. Die Aussicht, dass ins dunkelste Tief doch auch ein Lichtstrahl gelangen kann, motiviert mich. Das hat Rammstein wundervoll ausgedrückt, und durch diese Worte habe ich zu mir selbst gefunden.
Was sagt die Band Rammstein zu Ihrer Version?
Mich hat erreicht, dass die Band die Version mochte. Das ehrt mich sehr, denn ohne ihr Einverständnis hätte ich den Track nicht gecovert.
Herbert Grönemeyer ist auf dem Titel „Machen" zu hören. Hat er Sie als Künstlerin verstanden?
Auf jeden Fall. Er hat mich darin bestärkt, meine Musik konsequent weiter so zu verfolgen, wie ich es tue. Entgegen aller Argumentation seitens der Majors, mich zu verändern. Er hat gesagt, ich sei genau so richtig und solle bloß nichts machen, was mir widerstrebt. Das sei alles keine konstruktive Kritik, sondern Versuche, mich in ein bestimmtes Raster zu pressen. So etwas ist wichtig zu hören von jemandem, der schon viel länger in der Musikindustrie ist.
2015 waren Sie mit Grönemeyer auf Tour durch die größten Hallen des Landes. Ist es wahr, dass Herberts Tochter sie dafür vorgeschlagen hat?
Ich weiß, dass seine Tochter ihm meine Musik zugespielt hat und er wiederum hat sich in meine Welt reingehört. Mich erreichte dann völlig unerwartet ein Anruf. Ich hatte gerade ein Laufturnier in Paris absolviert und mir wurde mitgeteilt, ich wäre als Vorband für die „Dauernd Jetzt"-Tour vorgesehen. Das war ein sehr durchbluteter Augenblick (lacht).
Bei Ihren Konzerten rufen Sie dazu auf, sich zu engagieren. Muss man sich als Künstler heutzutage eindeutig positionieren?
Ja, das muss man. Das demokratische Fundament, auf dem wir uns bewegen, wird langsam durchtränkt von rechtspopulistischem Gedankengut. Es gibt heute viele diskriminierende Aussagen und Handlungen, die vor zehn Jahren noch nicht salonfähig waren. Es ist sehr wichtig, dies als falsch darzustellen, weil es sich in die Gesellschaft hineinschleicht. Rechtspopulismus propagiert gefährliche Werte, die mit unserer Demokratie nicht vereinbar sind. Jeder Mensch, der eine gewisse Position in der Öffentlichkeit hat, hat die Verantwortung, darauf hinzuweisen und dagegen zu agieren.
Wie kann man dagegen agieren?
Wenn man kein politischer Akteur ist, sondern einfach nur ein Bürger, kann man wählen gehen und mit seinem Gegenüber das Gespräch suchen, wenn man den Eindruck hat, er ist auf der falschen Fährte. Ich möchte keine Zuhörer haben, die rechts denken oder handeln. Meine Musik soll ein Ort sein, an dem nur Menschen willkommen sind, die andere mit Respekt behandeln und nicht diskriminieren. Das ist unser kleinster gemeinsamer Nenner. Ich glaube, viele Künstler sind sich nicht bewusst, dass wir das momentan inflationär artikulieren müssen. Jeder sollte seine Reichweite nutzen, damit sich der Fremdenhass nicht noch weiter in die Fundamente einschleicht.
Sie haben Ihre Wurzeln in Warschau und sind in Berlin-Neukölln aufgewachsen. Sind Sie als Migrantenkind in der Schule diskriminiert worden?
Das erste Jahr in Deutschland war für mich eine Katastrophe, weil ich im Kindergarten kein Wort verstanden habe. Ein Horror. Aber trotzdem habe ich die Sprache schnell gelernt. Neukölln ist schon immer ein Bezirk gewesen, in dem viele Gegensätze aufeinanderprallen. Dennoch habe ich in den 1990er-Jahren viel Akzeptanz erfahren. Die Grenzen in Europa sind gefallen, wir wurden zu einer Einheit. Polen öffnete sich der Welt, wollte ein Teil der EU werden. Vielfalt war ein Geschenk. Nun regieren dort Rechtspopulisten, und die Ideen und Träume der 90er sind wie weggeblasen. Hier in Deutschland könnte das genauso kippen. Deshalb spreche ich das Thema auch immer wieder an.
Was ist das polnische Element an Ihrer Musik?
Ich habe einen ausgeprägten Hang zu melancholischer Dramatik. Ich mag den Dur-Moll-Wechsel sehr gerne. Da bei uns daheim viel gelesen wurde und ich viele Kinderbücher besaß, faszinierte mich, welche Kraft ihnen innewohnt. Ich war beeindruckt, welche Phantasmen man bauen, wie man sich in andere Welten hineindenken kann. Und das mithilfe von Sprache.
Beim Texten arbeiten Sie viel mit Assoziationen und Wortspielen. Hatten Sie von Anfang an eine klare Vision von Ihrer Kunst?
Nein. Ich mache schon seit 17 Jahren Musik. Meine Vorlieben sind über einen sehr langen Prozess hinweg gewachsen.
Welche Beziehung haben Sie zu Ihrer Stimme?
Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Wenn ich in irgendwelchen Schulchören vorgesungen habe, hieß es, sie sei nicht so schön. In den tiefen Tönen klänge ich zu männlich und in den hohen irgendwie auch. Früher war ich immer überrascht, wenn jemand meine Stimme mochte. Ich habe mit der Zeit gelernt, meine Andersartigkeit zu mögen. Ich stehe dazu, dass ich meine Emotionen auf diese Art und Weise präsentiere.
Hatten Sie in Ihrem Leben ein Aha-Erlebnis mit Musik?
Ja, und zwar mit Queen. Freddie Mercury hat wahnsinnig abwechslungsreiche Kompositionen geschrieben. Bei „Bohemian Rhapsody" etwa gibt es unglaubliche Tempo- und Tonartwechsel. So abwechslungsreich und gefühlvoll, wie er komponiert hat – das ist für mich die Meisterklasse.
Sie sind die erste deutschsprachige Künstlerin, die einen Song zu einem Werbespot des Sportartikelherstellers Nike beigesteuert hat. Wie kam es dazu?
Nike hat letztes Jahr einen sehr emotionalisierenden und eindrucksvollen Spot herausgebracht. Er zeigt erfolgreiche Sportlerinnen dabei, wie sie trotz Emotionalität erfolgreich sind. Dieser Clip ging viral und bewegte mich und viele andere Frauen sehr, da ein Konzern seine kommunikative Kraft dazu nutzte, mit Vorurteilen aufzuräumen. Als Nike mich im Sommer 2019 ansprach, einen Song für deren neue Kampagne beizusteuern, wurde mir das Konzept um den Film über Zeina Nassar präsentiert. Erneut ein Statement gegen Diskriminierung und Vorurteile. Mir war sofort klar, dass ich dieses Vorhaben unterstützen möchte. Diese Athletin wurde aufgrund von Äußerlichkeiten verwehrt, an Boxwettkämpfen teilzunehmen. Sie hat dann für sich und alle Generationen an Boxerinnen erkämpft, dass man sich ungeachtet der Bekleidung qualifizieren darf. Diese Geschichte sollte symbolisch beleuchtet werden, und ich dufte ihr musikalisch eine Stimme verleihen.
Wie lässt sich ein kommerzieller Werbespot mit Ihrem künstlerischen Ethos vereinbaren?
Die Welt ist nicht nur schwarz oder weiß. Und wenn ein weltweit erfolgreicher Millionenkonzern seine Kanäle dafür nutzten möchte, um eine Message gegen Diskriminierung rauszusenden, ist das erst mal super. Ich finde sogar, jeder Konzern sollte sich seiner Verantwortung bewusst werden. Denn das sind die Akteure, die weltweit das meiste Geld dafür aufwenden, um Aufmerksamkeit zu generieren. Warum dann eben nicht seine geschäftlichen Ziele mit gesellschaftlich relevanten Zielen verbinden? Dieser Spot mit Zeina zum Beispiel ist keine Produktwerbung, sondern ein Zeichen Pro-Empowerment, das der Konzern Nike mit seinem Namen unterstützt und sich so eindeutig positioniert seitens der Boxerin im Hijab. Zeina Nassar hat sich im jungen Alter einer Diskriminierung nicht gebeugt und für Gleichberechtigung gekämpft – und einen Sieg errungen. Diese Geschichte soll die ganze Welt hören. Wenn ich mithilfe von Nike helfen kann, dann tue ich das mit Leidenschaft.
Planen Sie eine gemeinsame Tour mit dem Babelsberger Filmorchester?
Wir machen eine kleine Tour durch Knotenstädte, spielen dort aber in größeren Konzerthallen. Darauf freue ich mich sehr, denn ich kann die Albumproduktion in Gänze umsetzen und wieder in Orchesterklängen baden. Wir spielen ein Programm aus neuen und alten Liedern. Da ich auf der Bühne aber meist sehr emotional performe, weiß man nie, wie der Auftritt sich am Ende gestaltet. Wenn Gefühle eskalieren, kann es schon mal sein, dass der Rahmen gesprengt wird.