Lange Zeit lebten viele Berliner Anwohner einfach mit ihrer Adresse. Jetzt sorgen Initiativen für Unruhe, in manchen Stadtteilen sollen missliebige Straßennamen neuen weichen. So sollen auch die Preußen verschwinden, sagen die Grünen und wollen eine Debatte anstoßen.
Wer künftig im „Belle-Alliance-Café“ sein Chimichurri Lammkarree genossen hat, um anschließend vom Mehringdamm mit der U-Bahn zur Yorckstraße zu fahren, wird sich in Zukunft möglicherweise schwer umstellen müssen. „Belle Alliance“ geht gar nicht, das ist eine Herberge bei Waterloo, wo General von Blücher zusammen mit dem englischen Herzog von Wellington 1815 Napoleon vernichtend schlug. Franz Mehring (1846 – 1919), Sozialdemokrat und Antisemit, warf den Juden vor, den Kapitalismus durch dick und dünn zu verteidigen. Und General Yorck von Wartenburg führte die preußischen Truppen in den Befreiungskriegen siegreich gegen die französischen Besatzer. Natürlich müssten auch das gleichnamige Kino und das „Yorck-Schlösschen“, eine Jazzkneipe, umbenannt werden.
Doch so weit will selbst Werner Heck nicht gehen. Der Grünen-Bezirksverordnete hat mit einem Antrag in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg zur „Entmilitarisierung des öffentlichen Raums“ durch Straßenumbenennungen einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Von „grünem Säuberungsfuror“ und „totalitärem Irrglauben“ war die Rede, von „Wichtigtuerei“ und Geschichtsvergessenheit. Dabei wollte er – sagt Heck – nur eine Debatte anstoßen, die darauf abzielt, eine „mögliche Umbenennung aller nach Generälen und Schlachten benannten Straßen und Plätze im Umfeld des sogenannten Generalszugs (eine Reihe von nach Militärs benannten Straßen und Plätzen, Anm. d. Red.) im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg grundsätzlich“ zu diskutieren und gegebenenfalls Vorschläge für potenzielle neue Namensgeberinnen zu entwickeln, mit Betonung auf der weiblichen Form. Denn in Berlin gilt: Jede neue Straße soll so lange nach einer Frau benannt werden, bis Parität zwischen weiblichen und männlichen Straßennamen hergestellt ist.
Neue Straßennamen sollen weiblich sein, bis Parität herrscht
Alle diese Blücher-, Horn-, Gneisenau- oder Hagelberger Straßen bekamen einmal durch Kabinettsorder vom 9. Juli 1864 ihre Namen zum Gedenken an Schlachten und bedeutende Militärs der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 gegen Napoleon. 150 Jahre später, vor dem Hintergrund der europäischen Einigung und der tiefen Partnerschaft mit Frankreich seien diese Namen nicht mehr angebracht, meinen die Grünen.
Dort, wo sich türkische Dönerbuden an äthiopische, griechische, indische Lokale reihen, arabische Händler Shisha-Pfeifen und exotische Gewürze verkaufen, passten Namen wie Blücher oder Wrangel einfach nicht mehr. Das ist im Grunde genommen der Kern der beiden Bürgeranträge, auf die sich die Grünen berufen. Werner Heck argumentiert bei der strittigen Wrangelstraße genau so: „Für Audre Lorde, schwarz, lesbisch, Feministin, Mutter, Dichterin, Kriegerin, wie sie selbst über sich sagt, die nach Beschluss der BVV mit einer repräsentativen Straße gewürdigt werden soll, muss eine solche noch gefunden werden. Da wäre die Wrangelstraße durchaus passend, weil in unmittelbarer Nähe ihres Wirkens in SO 36.“ Es sei „schon ein wenig abstrus, dass ein Kiez, der heute für lebendigen Widerstand gegen Gentrifizierung und für zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt steht, immer noch den Namen dieses preußischen Generalfeldmarschalls trägt. Er war nicht nur ein Vertreter ‚patriarchaler Kriegskultur‘, sondern maßgeblich an der Niederschlagung der Deutschen Revolution beteiligt, führte im November 1848 als Oberbefehlshaber die Truppen gegen das revolutionäre Berlin, verhängte das Kriegsrecht über die preußische Hauptstadt und wurde zum Gouverneur von Berlin ernannt.“ Bei der Yorckstraße dagegen wäre er dafür, den Namen des preußischen Generals nicht zu tilgen. Denn die Straße könnte so an einen seiner Nachfahren, Peter Graf Yorck von Wartenburg, erinnern, der zum Kreisauer Widerstandskreis gegen Hitler gehörte. Außerdem assoziiere man mit dem Namen gerne die erfolgreiche Besetzung der Yorckstraße 59.
Immerhin hat man in Friedrichshain-Kreuzberg bereits Erfahrung mit Umbenennungen: 2008 wurde auf Initiative der „taz“ ein Stück der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt. 2009 beschloss die Bezirksversammlung, das Gröbenufer an der Spree nach der antirassistischen Aktivistin und Dichterin May Ayim (1960 – 1996) umzubenennen, weil Otto Friedrich von der Groeben durch die Gründung Groß Friedrichsburgs 1683 Preußen eine Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel ermöglicht hatte. 2013 wurde aus der Gabelsberger Straße, einer Seitenstraße der Frankfurter Allee, die Silvio-Meier-Straße. Sie erinnert an den Hausbesetzer und Antifa-Aktivisten Silvio Meier, der 1992 in Ost-Berlin von Neonazis ermordet wurde. Im September 2020 wird aus dem Heinrichplatz an der Oranienstraße der nach dem Frontmann der Gruppe Ton Steine Scherben getaufte Rio-Reiser-Platz. Weitere Umbenennungen sind geplant: Als Nächstes stehen Inge Meysel und Maria Gräfin von Maltzan (Tierärztin und NS-Widerstandskämpferin) auf der Agenda. Auch den Hindenburgdamm soll es treffen – bereits 2014 stellten die Linken einen Antrag auf Umbenennung. Vielleicht hilft’s, dass der alte Reichspräsident seit Februar 2020 nicht mehr Ehrenbürger von Berlin ist.
Für Rio Reiser statt für den Preußen-Prinz
Wo es in Kreuzberg die preußischen Generäle sind, die Anstoß erregen, sind es in Neukölln, Mitte und Wedding die deutschen Rassisten der Kolonialzeit. Auch hier tobt die Umbenennungsdebatte zum Teil schon seit 30 Jahren.
Vor lauter Schreck hat sich eine Fußballkneipe am Moritzplatz, die immer „Zum kleinen Mohr“ hieß, auf einmal in „Zum kleinen Moritz“ umbenannt. Eine Fernwirkung der „Decolonize Berlin“-Kampagne, die ihren Ausgangspunkt an der Mohrenstraße in Mitte nahm? Bis heute sind sich Historiker nicht einig, warum diese Straße 1706 so benannt wurde – ob es um Sklavenhandel oder eine afrikanische Delegation am Hofe des preußischen Kurfürsten ging, ist unklar. Immerhin musste der Sarotti-Mohr dran glauben, er existiert nur noch in der Erinnerung. Der Pralinenmeister Hugo Hoffmann, der in der Mohrenstraße 10 Pralinen herstellte und 1894 die Marke Sarotti anmeldete, hatte den Mohr 1918 zu seinem Firmen-Emblem gemacht.
Ernster zu nehmen ist die Kritik der Black Community in Deutschland an der Namensgebung von drei Straßen im Afrikanischen Viertel im Wedding. Geballt werden hier berühmt-berüchtigte Mitgründer ehemaliger deutscher Kolonien geehrt. So erinnert die Lüderitzstraße an Adolf Lüderitz, der die Einheimischen in Deutsch-Südwestafrika (von 1894 bis 1915 deutsche Kolonie) beim Landerwerb systematisch übers Ohr haute und sich als Großunternehmer die Bodenschätze unter den Nagel riss. Carl Peters, dem die Nazis 1939 die Petersallee widmeten, war in den 1880er-Jahren als Reichskommissar in Ostafrika für seine brutalen Herrschaftsmethoden bekannt. Er war ein Rassist und hat sich durch Terror gegen die schwarze Bevölkerung hervorgetan.
Der Nachtigalplatz schließlich soll in Manga-Bell-Platz umbenannt werden, nach einem Sohn des Königs der Duala, der in Kamerun in den Widerstand gegen die Kolonialherren gegangen ist und dann verhaftet und exekutiert wurde. Doch hier zeigt sich, dass die Kampagnen übers Ziel hinausschießen können: Gustav Nachtigal ist nicht in eine Reihe mit Carl Peters zu stellen. Er war Afrikaforscher und leidenschaftlicher Gegner des Sklavenhandels. Er ließ sich trotzdem von Bismarck zum Reichskommissar für Togo und Kamerun einspannen, übte das Amt aber nur ein Jahr aus. 1885 raffte ihn die Tuberkulose hin.
Die Umbenennungen sind noch nicht rechtskräftig, da die Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen sind, teilt der Bezirk mit. Erst dann können die Straßenschilder ausgetauscht werden. Für Verwirrung hat gesorgt, dass das Straßenschild noch hängt, aber auf manchen Apps die Lüderitzstraße verschwunden ist und stattdessen der neue Name Cornelius-Fredericks-Straße auftaucht.
Im Falle der Peters-Allee hat man eine salomonische Lösung gefunden: Unter dem Straßennamen wird eine Tafel darauf hinweisen, dass hier der NS-Widerstandskämpfer, CDU-Politiker und Mitautor der Berliner Verfassung Hans Peters geehrt wird. Einen ähnlichen Vorschlag hat auch der Grüne Werner Heck für Friedrichshain-Kreuzberg in petto: Der Blücherplatz könnte statt des vorwärtsstürmenden Generalfeldmarschalls den gleichnamigen antistalinistischen Kommunisten, Philosophen und kosmopolitischen Intellektuellen Heinrich Friedrich Ernst Blücher ehren, der gemeinsam mit Hannah Arendt, die er 1940 heiratete, vor Nazis und deren französischen Kollaborateuren ins amerikanische Exil floh.
Keine Straßennamen, die an die Opposition in der DDR erinnern
Man sieht, das mit Straßennamen ist nicht so einfach. Sollen sie Geschichte illustrieren oder dem Zeitgeist folgen und alle paar Jahrzehnte neue Helden und Heldinnen ehren? Das kann es ja nicht sein, dass man aus den Helmut-Kohl-Straßen später einmal Angela-Merkel-Promenaden macht. Oder soll man einmal gewählte Namen eisern beibehalten, damit niemand seine Visitenkarten, Geschäftspapiere, Adressverzeichnisse ändern muss? Sind neutrale Namen pflegeleichter, also Brunnenallee, Fliederstraße und Sperlingsgasse? Und wer bestimmt über die Namen? Nur die Anwohner, die ja womöglich nicht ewig da wohnen, oder ist das auch eine Frage, die eine ganze Stadt betrifft, also höheren Ortes entschieden werden muss?
Erstaunlich reibungslos liefen die Umbenennungen nach der friedlichen Revolution 1989 in den neuen Bundesländern ab. In Dresden wurden rund 300, in Leipzig über 500 Straßennamen geändert. „Gleich nach der Wende gab es eine Stimmung, Straßennamen, Schulen und andere Gebäude möglichst schnell umzubenennen. Die politischen Verhältnisse waren andere, der Einfluss der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung spürbar“, sagt der Heimatforscher Klaus Euhausen. Heute sind zwar Straßennamen, die an Ulbricht, Pieck, Grotewohl und Mielke erinnern, weitgehend verschwunden, aber Ernst-Thälmann-Straßen, Plätze der Völkerfreundschaft und Straßen der Jungen Pioniere gibt es fast noch in jedem Dorf. Eine Robert-Havemann-Allee oder Wolfgang-Templin-Straße, die an den Widerstand gegen die SED-Herrschaft erinnert, sucht man dagegen vergeblich.
Da bleibt man halt lieber bei Rosa Luxemburg oder Karl Marx. Aber manches muss es eben auch anders und schnell gehen. So wurde aus dem Karl-Marx-Platz in Berlin-Mitte umgehend der repräsentativere Schlossplatz und aus der Clara-Zetkin-Straße flugs die Dorotheenstraße. Irgendwie hätte das wohl nicht gut gepasst, wenn die Adresse des Bundespresseamtes nach einer überzeugten Frauenrechtlerin und Kommunistin benannt wäre.