In diesem Winter ist Karl Geiger der Durchbruch gelungen, er ist im deutschen Skisprung-Team zur Nummer eins aufgestiegen. Der oft unterschätzte Bayer hat dafür hart gearbeitet.
Karl Geiger hatte so eine Ahnung. In dieser Saison würde er seinen ganz großen Durchbruch schaffen! Als ihm bei den Sommerwettkämpfen ein weiter Satz nach dem anderen gelang, fiel das seinen Konkurrenten und der breiten Öffentlichkeit kaum auf. Aber Geiger sagte damals zu sich selbst: „Hoppala, wenn ich das so mache, wird das richtig gut!" Und es wurde richtig gut. Bei der Vierschanzentournee landete Geiger als Dritter auf dem Podest, im Weltcup sprang er konstant vorne mit und trug Mitte Januar sogar das Gelbe Trikot des Führenden. Der Mann, der zuvor immer im Schatten anderer deutscher Skispringer stand und bestenfalls mit dem Wort „solide" in Verbindung gebracht wurde, gehört plötzlich zur Weltklasse. „Es ist mit Abstand meine beste Saison und es freut mich extrem, dass es so aufgegangen ist. Es gibt einem auch Motivation", sagte der 27-Jährige. Er sei zwar schon jetzt mit seiner Ausbeute in diesem Winter „extrem zufrieden", aber längst noch nicht satt. „Was jetzt noch kommt", sagt Geiger, „ist mehr oder weniger Bonus".
Dieser Bonus sollte eigentlich eine Medaille bei den Weltmeisterschaften im Skifliegen im slowenischen Planica (19. bis 22. März) sein, wo Deutschlands Vorspringer als einer der Mitfavoriten an den Start gegangen wäre. Doch die Titelkämpfe wurden angesichts der Coronavirus-Pandemie abgesagt und auf die kommende Saison verschoben. „Die Gesundheit der Athleten und aller Beteiligten sowie der allgemeinen Öffentlichkeit stehen im Vordergrund", teilte der Internationale Skiverband (FIS) mit. Auch die lukrative „Raw Air"-Serie in Norwegen wurde aus diesem Grund abgebrochen, die Skisprung-Saison fand also ein jähes Ende. Die Kristallkugel als Weltcup-Gesamtsieger erhielt der Österreicher Stefan Kraft, der schon in der Saison 2016/17 triumphiert hatte. Auf Platz zwei landete einer, den kaum ein Experte vor diesem Winter so weit oben erwartet hatte: Karl Geiger. „Der Karli hüpft extrem stark", sagte Kraft, der vor drei Jahren im norwegischen Vikersund mit 253,5 Metern den Weltrekord im Skifliegen aufgestellt hat, mit höchster Anerkennung über seinen deutschen Rivalen. Geiger ist mit Platz zwei sehr zufrieden. „Wenn man mir am Anfang der Saison gesagt hätte, dass ich im Februar schon über 1.000 Weltcup-Punkte hätte, dann hätte ich gesagt, dass es aber mega gut gelaufen sein muss", sagte er.
Leicht veränderte Haltung bei der Anfahrtshocke
Dabei zeigte Geigers Formkurve zuletzt sogar etwas nach unten. „Zum Podest gehört auch ein bisschen Glück", meinte Geiger, „da muss man in einen Flow reinkommen." In der Wind-Lotterie beim Springen in Bad Mitterndorf zog Geiger beispielsweise die Niete, er wurde „nur" Sechster und hatte anschließend „einen ziemlichen Hals", weil er sich wie schon in den Wettbewerben zuvor von den Bedingungen alles andere als begünstigt sah. „Ich suche sowas ungern als Ausrede", sagte Geiger, „aber jetzt kotzt es mich echt an." Eigentlich ist der gebürtige Oberstdorfer ein Springertyp, der mit schlechten Wetterverhältnissen besser zurechtkommt als die meisten anderen. Wind, Sonne, Schnee, Regen, Tageszeit – kaum etwas bringt den Stoiker aus der Ruhe. Die Gelassenheit hilft, dass er das hochkomplizierte Skisprung-System nahezu immer gleich abrufen kann. Sein Top-Athlet sei derzeit „wirklich stabil" und könne deshalb „jedes Springen gewinnen", sagte Bundestrainer Stefan Horngacher. Der österreichische Coach hat Geiger geholfen, ein paar kleine Dinge umzustellen. Vor allem die leicht veränderte Haltung bei der Anfahrtshocke scheint genau die richtige Stellschraube gewesen zu sein. Der Winkel zwischen Ober- und Unterschenkel ist nun minimal anders, dadurch wird dem Wind etwas weniger Widerstand geboten. Das ist alles nicht messbar, wirkt sich aber teilweise extrem auf das Fluggefühl des Athleten aus. „Wir haben eine technische Einstellung gefunden, die immer funktioniert", sagt Geiger. Darauf ausruhen will er sich aber nicht. Er weiß: „Ich muss jeden Tag weiter an mir arbeiten, damit die Sprünge gut werden." Denn Geiger ist „nicht das Ausnahmetalent", wie Bundestrainer Horngacher bestätigt, „sondern er hat sich alles hart erarbeitet. Ihm ist noch nie etwas geschenkt worden." Lange Zeit pendelte Geiger gar zwischen dem Weltcup und dem zweitklassigem Continental Cup hin und her, auf seinen großen Durchbruch hatten selbst Vertraute kaum noch zu hoffen gewagt. Doch dann wurde Geiger 2018 Olympiasieger im Team, und das gab ihm Aufwind. „Jetzt ist er in der Weltklasse angekommen, aber trotzdem bleibt er im Arbeitsmodus", schwärmt Horngacher über den Trainingseifer seines Schützlings. „Das beeindruckt mich. Ihm geht es immer um den Sprung."
Der Lohn der harten Arbeit: Konstanz. Die hatte ihm am Anfang der Karriere immer gefehlt. „Er hat immer sehr geschwankt", so Horngacher, „es waren richtige Gurken dabei. Wir haben ihn auf einem hohen Niveau stabilisiert." Ihm hilft dabei sehr, dass er durch sein Studium der Energie- und Umwelttechnik gelernt hat, analytisch an Sachen heranzugehen. Er habe immer versucht, das Skispringen „auf der mechanischen Schiene zu analysieren", sagt Geiger, „um zu sehen, warum Sprünge weit fliegen oder auch nicht." Sein Studium habe ihm dabei „sehr geholfen".
„Er hat sich alles hart erarbeitet"
Doch es gab auch Rückschläge in diesem Winter. Beim ersten Einzelspringen der finanziell lukrativen „Raw Air"-Tour in Norwegen fuhr Geiger Anfang März mit Rang 19 seine schlechteste Platzierung der Saison ein. „Das nervt mich ziemlich", sagte ein sichtlich enttäuschter Geiger. Seine ohnehin nur kleinen Chancen auf den Triumph im Gesamtweltcup hatten sich damit erledigt. Dabei wollte er nach Jens Weißflog (1983/84), Martin Schmitt (1998/99, 1999/2000) und Severin Freund (2014/15) der insgesamt vierte deutsche Skispringer sein, dem dieser Coup gelingt. „Der Gesamtweltcup", sagt Geiger, sei „schon das Größte, was man so als Sportler gewinnen kann, weil es die Leistung über eine ganze Saison zeigt". Bei anderen Wettbewerben wie Olympia oder der WM könne man auch mit Glück vorne landen, auf eine ganze Saison verteilt nicht. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass Geiger diese Saison als zweitbester Springer hinter dem Österreicher Kraft beendete. Deutschlands neuer Vorspringer hat sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen, nicht von kleinen Rückschlägen, nicht vom Trubel bei der Vierschanzentournee, nicht von der großen Erwartungshaltung. Wenn man ihn fragt, wie er es schafft, mit all dem so unaufgeregt umzugehen, antwortet der Bayer oft: „Ich bleibe bei meinem Zeug." Diesen Satz hat schon Sven Hannawald zu aktiven Zeiten benutzt, der frühere Überflieger war Geigers großes Idol in Jugendtagen – neben Martin Schmitt. „Das waren Vorbilder", sagt Geiger, der die Hochzeiten im Skispringen mit Millionen Fans an den Schanzen und vor den Bildschirmen mitverfolgt hatte: „Da hat man sich gesagt: ‚Da will ich auch mal mitspringen und es so machen, wie sie es machen.‘" Dass ausgerechnet Hannawald ihm gute Chancen auf einen künftigen Triumph bei der Vierschanzentournee bescheinigt, löst bei Geiger ein „schönes Gefühl" aus. „Als Kind habe ich zu Leuten wie Sven Hannawald hochgeschaut", sagt er. „Jetzt hat sich die Zeit weitergedreht. Er ist Skisprung-Experte im Fernsehen und ich kann selbst mitfighten."
Das hat sich für die kommende Saison auch Markus Eisenbichler vorgenommen. Der 28 Jahre alte Dreifach-Weltmeister, der in diesem Winter lange schwächelte und nach seiner Form suchte, überraschte mit seinem zweiten Platz beim Weltcupspringen in Lillehammer. Nach seiner „eher miesen Saison" will Eisenbichler nach der Pause wieder voll angreifen und aus dem Schatten Geigers treten. Denn vor gar nicht so langer Zeit war Eisenbichler der unumstrittene Star im deutschen Team.
Absage nur widerwillig vorangetrieben
Die Absage der Skiflug-WM wegen der Coronavirus-Epidemie wurde von den Verantwortlichen mit einer Salami-Taktik nur widerwillig vorangetrieben. Am 7. März hatte das Council des Ski-Weltverbands FIS noch ohne Gegenstimme für die Fortsetzung der WM-Vorbereitungen gestimmt. Dann wurde ein Ausschluss der Zuschauer entschieden, was mit einem Einnahmeverlust von 600.000 Euro einherging. Nur wenige Tage später mussten sich die Organisatoren dem Druck der Entwicklungen komplett beugen und die Weltmeisterschaften auf den kommenden Winter verschieben. Planica liegt unweit der Grenze zu Italien, das als erstes europäisches Land mit großen Ansteckungszahlen zu kämpfen hatte und mit drastischen Maßnahmen auf die Entwicklung reagierte.