Niemals würde Peter Hohenhaus im Urlaub einfach nur am Strand liegen. Den 56-Jährigen interessieren auf seinen Reisen andere Dinge: Er besichtigt Orte, die an Krieg, Diktatur oder Naturkatastrophen erinnern. Dark Tourism heißt das Phänomen, das nicht unumstritten ist.
In Tschernobyl war Peter Hohenhaus schon dreimal. Für ihn sind das ehemalige Kernkraftwerk in der Ukraine und noch mehr der nahe gelegene Ort Prypjat „die fotogenste Geisterstadt" der Welt. Nach der weltweit schlimmsten Nuklearkatastrophe vom 26. April 1986 wurden die Bewohner der Stadt evakuiert und die Gebäude dem Verfall preisgegeben. „Es ist enorm faszinierend, wie sich die Natur jetzt alles zurückholt", meint Peter Hohenhaus. „Beim Besuch in Tschernobyl bekommt man gleichzeitig eine Zeitreise in die sowjetische Vergangenheit und in die post-zivilisatorische Zukunft, geboten. Das ist schon ziemlich einzigartig auf der Welt."
Reiseziele wie Tschernobyl haben es ihm angetan. Für Strandurlaub kann er sich dagegen überhaupt nicht begeistern. „Das ist für mich die Hölle auf Erden. Wenn ich nur auf der faulen Haut liege, werde ich spätestens am zweiten Tag unruhig. Dafür ist mir meine Reisezeit zu wertvoll. Wenn ich in einem fremden Land bin, will ich mich auch damit auseinandersetzen."
„Die Antithese zu Erholungsurlaub"
Was er macht, nennt sich Dark Tourism – dunkler Tourismus. So wird Urlaub an Orten bezeichnet, die historisch mit Tod und Tragödie in Verbindung gebracht wurden, egal ob durch Krieg, Diktatur oder Naturkatastrophen. „Es ist gewissermaßen die Antithese zu Erholungsurlaub", sagt Peter Hohenhaus. Er selbst war eher zufällig auf den Begriff gestoßen, den zwei britische Tourismusforscher vor 20 Jahren erstmals verwendet hatten. In einem Artikel wurden als Beispiele damals unter anderem Tschernobyl und Nordkorea genannt – Orte, an denen der gebürtige Hamburger selbst schon gewesen war. „Da bin ich hellhörig geworden und habe mich intensiver mit dem Thema befasst. So habe ich festgestellt, dass ich offensichtlich ohne es zu wissen ein Dark Tourist war", sagt er.
Das Thema bekommt gerade eine große Aufmerksamkeit, seit es dazu vor zwei Jahren sogar eine Serie auf Netflix gab. „Das hat den Hype befeuert", sagt Hohenhaus. In der Folge häuften sich auch bei ihm die Medienanfragen, in denen sich die gesamte Bandbreite an Meinungen zu Dark Tourism widerspiegelte. Für die einen ist es absolut pietätlos und makaber, sich an Tod und Tragödie zu ergötzen. Andere meinen, dass er sogar zu einem besseren Verständnis der Welt und ihrer Geschichte beitragen kann, weil man sich intensiv damit beschäftigt. „Wenn man sich auf ein Thema einlässt, kann das enorm lehrreich sein. Wenn man sich zum Beispiel genauer mit der Propaganda aus Nordkorea oder der Nazizeit beschäftigt hat, fällt man danach nicht mehr so leicht auf aktuelle Propaganda herein. Die Mechanismen sind oft sehr ähnlich", sagt Peter Hohenhaus. Er meint: „Durch die zwölf Jahre Dark Tourism habe ich mehr über die Welt gelernt, als während meiner gesamten Schulausbildung und Universitätskarriere zusammen."
Ein beliebtes Ziel ist Auschwitz
Die Frage ist berechtigt, ob die Kritik an Dark Tourism nicht scheinheilig ist. Was ist an einem Trip nach Tschernobyl schlimmer als am Besuch des Holocaust-Mahnmals in Berlin oder einer Besichtigung von Pompeji? Auch dort bekommen die Besucher Gipsabdrücke der Vulkanopfer zu Gesicht. „Eigentlich sind wir alle Dark Tourists, nur in unterschiedlichem Ausmaß", sagt Hohenhaus. In Polen gebe es keinen einzigen Reiseführer, in dem nicht die Konzentrationslager Auschwitz, Treblinka oder Majdanek erwähnt sind. In Krakau hänge am Touristenbüro eine Tafel mit den beliebtesten Touren. „Ganz oben steht eine Bustour nach Auschwitz", so Hohenhaus. Auch das 9/11-Museum in New York in Erinnerung an den Terroranschlag auf das World Trade Center haben im ersten Jahr schon 4,5 Millionen Menschen besucht.
„Es gibt durchaus Überschneidungen zwischen Mainstream-Tourismus und Dark Tourism", so Hohenhaus. Trotzdem gibt es auch für ihn Grenzen, wann man sich als Tourist besser zurückhält. „Die Grundregel lautet, dass man nicht zu schnell nach einem Unglück an die Unglücksstelle reisen sollte", erklärt er. So versucht sich Dark Tourism auch vom Katastrophentourismus abzugrenzen, der zum Teil tatsächlich an Voyeurismus grenzt. Als 2012 das Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia" vor der Küste Italiens kenterte und 32 Menschen starben, hätten viele Menschen dort Selfies vor dem Wrack gemacht, was zu heftiger Kritik führte. Ähnlich war es 2017 beim Brand des Grenfell Tower in London, bei dem 72 Menschen ums Leben kamen. Auch dort tauchten schon bald danach erste Fotojäger in der Ruine auf. „Die Anwohner fanden das verständlicherweise gar nicht witzig. Aber es ist das falsche Verhalten dieser Leute, die dort respektlose Selfies machen, und nicht der Dark Tourism an sich, der dafür verantwortlich ist. Das sind Ausnahmefälle, die man nicht verallgemeinern kann. Von ihnen auf alle Dark Tourists zu schließen, ist nicht fair", sagt Peter Hohenhaus. Er hat die Erfahrung gemacht, dass die örtliche Bevölkerung diese Art des Tourismus – wenn er richtig gemacht wird – überwiegend begrüßt. „Ich habe vor Ort eigentlich noch nie Widerstände erlebt", sagt er.
Spezielle Website gibt tipps für fast 900 Reiseziele
Geboren ist der 56-Jährige in Hamburg. Er ist ursprünglich promovierter Sprachwissenschaftler und arbeitete als solcher erst in Deutschland und später in Großbritannien als Universitätsdozent. Mit seiner Frau zog er später nach Wien, wo er seit 2005 als Freiberufler tätig ist. Seit 2014 betreibt Peter Hohenhaus die Webseite dark-tourism.com, auf der er mittlerweile Informationen zu fast 900 dunklen Reisezielen in 112 Ländern bereithält. Im nächsten Jahr erscheint zu diesem Thema zudem ein Buch von ihm, das auf 350 Seiten einen Kurzüberblick über die Welt dunkler Orte bieten soll.
Persönlich hat ihn die Reise nach Ruanda am meisten mitgenommen. In dem afrikanischen Land waren 1994 während des Völkermords bis zu eine Million Menschen umgebracht worden; in knapp 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit dabei etwa 75 Prozent der Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu. Peter Hohenhaus hatte im Vorfeld seiner Reise diverse Bücher und Filme studiert, doch selbst das konnte ihn nur bedingt darauf vorbereiten, was ihn dort erwartete. „In Ruanda kommt noch dazu, dass nicht nur die Geschichte so dunkel ist, sondern dass die Gedenkstätten auch ziemlich drastischer Natur sind. Da werden dann auch Berge von Schädeln oder blutgetränkte Kleidungsstücke ausgestellt", sagt er. Am heftigsten sei es in Murambi gewesen, wo Hunderte halbmumifizierter Leichen aus einem Massengrab ausgegraben wurden, darunter auch Babyleichen, manche von ihnen mit fehlenden Gliedmaßen. „Wenn man sie sich anschaut, sieht es so aus, als würden sie noch stumm schreien. Das nimmt einen danach noch eine ganze Weile mit", sagt Hohenhaus. Diese Schockwirkung sei aber durchaus gewollt: „Der Völkermord ist jetzt 26 Jahre her, aber die Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als 26 und hat selbst also keine Erinnerungen an die schrecklichen Taten. Es ist der Willen der Politik, sie so drastisch darzustellen, damit sie nicht vergessen werden."
„Alle Länder hatten irgendwann ein dunkles Kapitel"
In Deutschland ist vor allem Berlin die Hauptstadt des Dark Tourism. Kaiserzeit, Drittes Reich, die DDR-Diktatur – „da kommt schon einiges zusammen", meint der Dark Tourist. Auf seiner Webseite hat Berlin mehr Einträge als manche Länder. Auch in den Anlagen des ehemaligen Regierungsbunkers in der Nähe von Bonn aus der Zeit des Kalten Krieges würden sehr intensive Touren angeboten. Diese Zeit interessiert Hohenhaus persönlich am meisten: Als junger Erwachsener erlebte er die Hochzeit des Kalten Krieges während der Amtszeit von US-Präsident Ronald Reagan hautnah mit. Ganz oben auf seiner Wunschliste stehen außerdem Taiwan mit seinem Erdbebenmuseum und zahlreichen Gedenkstätten, die an die Zeit unter Chiang Kai-shek erinnern, Kuba, die Südstaaten der USA sowie Mittelamerika. Auch Australien oder einige Pazifikinseln würden ihn reizen, zum Beispiel Tinian, von wo aus 1945 die Bomber starteten, die die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen. Aber eigentlich gäbe es überall etwas zu besichtigen. Denn, so Hohenhaus: „Alle Länder hatten in ihrer Geschichte irgendwann ein dunkles Kapitel."