Aktivisten quer durch Deutschland arbeiten daran: Das Netzwerk „krisenkultur.de" will eine Zentrale für Not- und Nachbarschaftshilfe für ganz Deutschland aufbauen.
Jonathan Fritz ist 21, seit Jahren selbstständig mit einem Software-Start-up und studiert Informatik in Baden-Württemberg. Jetzt, wo Hochschulen geschlossen sind und das Coronavirus SARS-CoV-19 in Deutschland grassiert, hat er eine Idee: Warum nicht ein offenes Netzwerk für Nachbarschaftshilfe auf die Beine stellen? Der erste Tweet dazu ist schnell abgesetzt – am 11. März. Rasch stößt unter anderem Boris Crismancich (39) hinzu, der hauptberuflich im „Internet of Things"-Bereich in Hamburg arbeitet und nebenbei Mentor der Digitalisierungsinitiative „Jugend hackt" ist. Er hat bereits Pdf-Dateien für Aushänge erstellt, die auf Nachbarschaftshilfe in mehreren Sprachen hinweisen. Oder der Berliner Christian Honey (40), Hirnforscher und freier Wissenschaftsjournalist, der die Seite coronajobs.de online geschaltet hat, über die wichtige Aufgaben in der Krise verteilt werden können. Über die sozialen Medien verbreitet sich die Nachricht, immer mehr Menschen quer durch die Republik melden sich. Mit dabei ist auch Anna (21), die ihren Bachelor macht und eigentlich in einem Restaurant arbeitet, oder Cedric (23), Mechatronik-Azubi bei VW und Fridays-for-Future-Aktivist. „Unser Hauptprogrammierer ist 16 Jahre alt, aber uns unterstützen auch ‚alte Hasen‘ im Alter von über 50, 60 Jahren", erzählt Jonathan Fritz.
Die Idee, eine Telefonhotline für ältere Menschen ohne Internetaffinität zu schaffen, formt sich. Kapazitäten dafür vermittelt der Chaos Computer Club in Berlin, schließlich meldet sich sogar SPD-Chefin Saskia Esken, Microsoft Deutschland bietet Infrastruktur an, Anbieter von Telefonanlagen schalten die ersten Leitungen scharf. „Wir bekommen mittlerweile so viel Unterstützung durch Einzelpersonen, Prominente, Unternehmen, aber auch Anwaltskanzleien, die uns zu Themen wie Datenschutz oder unserer Rechtsform beraten." Jonathan Fritz scheint selbst überrascht, wie groß die Hilfsbereitschaft ist, die er mit einer einzelnen Twitternachricht losgetreten hat. Inspiriert wurde er von den Initiatoren von „Nachbarschaftschallenge". Unter diesem Hashtag rufen Menschen seit fast zwei Wochen über Twitter zur Hilfe für die Hochrisikogruppen, Senioren und Menschen mit Vorerkrankungen, auf, gehen mit gutem Beispiel voran.
Unter der Dachinitiative „Krisenkultur.de" haben sich mittlerweile über 100 Menschen in Deutschland zusammengetan: Mitglieder von bestehenden oder neuen Initiativen und Einzelpersonen, die helfen wollen. Ihnen geht es um eine zentrale Koordinationsstelle für Senioren-, Not- und Nachbarschaftshilfen in Deutschland.
Telefonisch Hilfe vermitteln
„Überall in Deutschland sind große und kleine Projekte gestartet, denen wir helfen wollen, sich zu vernetzen und die Hilfestellungen vieler zu strukturieren", so Fritz. Das gestalte sich einfacher, als er zunächst dachte, auch durch den großen Zuspruch, den er erfährt. Auch Promis helfen mit, dem Projekt ein Gesicht in der Öffentlichkeit zu geben: Neben Saskia Esken engagiert sich auch Marina Weisband, Psychologin und einst die prominenteste „Piratin" Deutschlands, für „Krisenkultur.de".
Weiter ausbauen wollen die ehrenamtlichen Helfer, die derzeit vor allem ihr eigenes Geld und jeden Tag mehr als zwölf Stunden Arbeit in die Sache stecken, die Online-Aktivitäten für Schüler und Lehrer unter „ich-lerne-online.de". Eine multikonfessionelle Telefonseelsorge soll jedoch zentrale Anlaufstelle für einsame und verängstigte Menschen sein, die keinen Zugang zum Internet haben. Über die Telefonnummer 07172-9340048 können derzeit Gesuche zum Beispiel für Einkaufshilfen gestellt werden. „Wir können derzeit noch nicht garantieren, dass wir immer jemanden in der Nähe von einem Hilfesuchenden in ganz Deutschland finden können", erklärt Boris Crismancich, der sich derzeit in seiner selbstgewählten Quarantäne vor allem um die Hotline kümmert. „Das kommt eben darauf an, wie viele Menschen sich bei unserem Partner nebenan.de anmelden." Je mehr, desto flächendeckender, desto höher die Chance, auch jemanden zu finden, der helfen möchte. Bereits jetzt verfügt „nebenan.de" jedoch schon über eine Million Helferinnen und Helfer in Deutschland, Tendenz steigend.
Wichtig seien vor allem Geldspenden an den Partner „silbernetz.org", der Telefonseelsorge „zum Reden für einsame Menschen im Alter". Das neue Netzwerk selbst darf derzeit noch keine Spenden annehmen, denn „Krisenkultur.de" hat bislang noch keine Rechtsform, auch daran wird gearbeitet – jeder, der mitmachen möchte, bekommt einen Aufgabenbereich vom Orgateam zugewiesen, wo sie oder er am besten helfen kann.
Was sie alle treibt, ist das gute Gefühl, in schwierigen Zeiten Hilfe leisten zu können, in denen Nähe Trost sein könnte, Abstandhalten jedoch Leben rettet. Crismancich erinnert sich vor allem an ein Telefongespräch mit einer 92-jährigen alten Dame. „Sie hatte eine sehr zarte, zerbrechliche Stimme mit schwäbischem Akzent.Sie sagte, es wäre so schön, wenn ihr jemand mit den Einkäufen helfen könnte." Für solche Augenblicke hat sich der ganze Einsatz schon gelohnt.