Der EU-Türkei-Deal von 2016, die Flüchtlinge in der Türkei zu halten, schien mit der Öffnung der Grenze durch Erdogan obsolet. Nun verhandelt die EU wieder. Gleichzeitig verstärkt Griechenland den Grenzschutz und setzt das Asylrecht außer Kraft. Mona Lou Günnewig, Migrationsexpertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zur aktuellen Situation.
Frau Günnewig, als ob die Flüchtlingskrise nicht schon schwer genug wäre, kommt nun noch die Corona-Krise hinzu. Wie stehen denn trotz Corona die Aussichten auf eine Lösung der Flüchtlingskrise?
Es bleibt abzuwarten, wie viel Priorität der Flüchtlingskrise jetzt weiterhin eingeräumt wird. Wir sehen jetzt, dass wichtige EU-Mitgliedstaaten der Türkei entgegenkommen. Was man aber auch schon vor Corona gesehen hat: Die Reaktion der Europäischen Union auf die Entwicklungen in der Türkei war eine andere als 2015. Wir sind heute fünf Jahre später. Das zeigt sich vor allem daran, dass die griechischen Behörden komplett anders reagieren als damals. Im Gegensatz zu damals haben sie heute die Kapazität und offensichtlich auch den Willen, den Flüchtlingen den Grenzübertritt zu verwehren.
Kam das für Sie überraschend?
Es war eigentlich doch zu erwarten. Die Griechen haben die Konsequenzen aus den Entwicklungen der vergangenen Jahre gezogen. Die Griechen haben gesehen: Die EU kann sich eigentlich in nichts einigen. Vor allem gab es keine Einigung in der wichtigen Verteilungsfrage. Die einzige Einigkeit, die von allen in der ganzen Zeit immer betont wurde, war: Wir müssen die Außengrenzen sichern. Der gemeinsame Grenzschutz wurde immer wieder zur gemeinsamen europäischen Aufgabe erklärt. Die Griechen konnten also wissen, dass sie da Rückendeckung aus den anderen Hauptstädten bekommen. Dazu zählt, dass die Grenzschutzagentur Frontex auf 10.000 Personen aufgestockt wird. Aber überraschend kam für mich tatsächlich der Zeitpunkt der jüngsten Krise. Auch wenn Erdogan immer wieder gedroht hatte, die Tore nach Europa zu öffnen, hatte ich die Eskalation zu diesem Zeitpunkt nicht vorhergesehen.
Ende Februar schien es so, als ob der EU-Türkei-Deal tot ist. Nun zeigt sich, dass er doch noch recht lebendig ist. Oder täuscht das?
Mit seiner Entscheidung von Ende Februar, die Grenzen nach Europa nicht mehr zu schützen, hat der türkische Präsident Erdogan den EU-Türkei-Deal aus dem Frühjahr 2016 faktisch aufgekündigt. Diese Eskalation war aber vor allem der Versuch, Druck zu machen, um weitere Zugeständnisse von der EU in der Migrationszusammenarbeit zu erzwingen. Diese Instrumentalisierung der Flüchtlinge ist verwerflich. Gleichzeitig bleibt es aber im Interesse der EU, weiter mit der Türkei zu kooperieren. Es war also absehbar, dass die EU versuchen würde, den Deal „wiederzubeleben". Die Frage bleibt aber: Was erwartet die Türkei im Gegenzug? Merkel und Macron haben in ihrer Videokonferenz mit Erdogan signalisiert, dass sie zu erneuten Finanzhilfen für die Flüchtlinge in der Türkei bereit sind. Jetzt müssen wir abwarten, ob das reicht.
Wer hat die Kehrtwende in den Außengrenzen eingeleitet? Waren das die Griechen selbst? Oder handeln sie auch nur auf Brüsseler „Empfehlung"?
Beides. Nach dem Regierungswechsel in Griechenland hat der neue griechische Regierungschef Mitsotakis von Anfang an angekündigt, dass er in der Migrationsfrage härter durchgreifen will. Alle Aussagen gingen also schon seit einiger Zeit in Richtung besserer Schutz der Außengrenzen. Aber es gab natürlich auch den Rückenwind aus Europa. Es war ein deutliches Signal, dass EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und EU-Ratspräsident Michel nach Griechenland geflogen sind, um zu zeigen, dass man das unterstützt. Und trotz der Bilder von der Grenze, die ja nicht schön waren, kam es zu keinem Aufschrei.
Angela Merkel hat sich ja auch sehr zurückgehalten in dieser Frage, anders als vor fünf Jahren.
Das ist auch auffallend: Sie hat ihre damalige Entscheidung jetzt nicht mehr explizit verteidigt. Das macht noch mal deutlich, dass das Jahr 2015 als einmaliger Fall ins Bewusstsein eingehen soll.
Handelt die griechische Regierung denn im Einklang mit internationalem Recht?
Nicht immer. Nun hat die Regierung angekündigt, für einen Monat keine Asylanträge mehr anzunehmen. Damit setzt sie, wenn auch befristet, das Asylrecht aus. Meiner Meinung nach ist das rechtlich eigentlich nicht möglich, das heißt, Griechenland verstößt damit gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Unter Experten ist umstritten, ob dieses Vorgehen rechtens sein könnte, wenn die Betroffenen nach Ablauf der Monatsfrist doch noch die Möglichkeit bekommen würden, einen Asylantrag zu stellen. Das ist ein trauriger, historischer Fall.
Aber faktisch wurde das Asylrecht doch schon lange eingeschränkt.
Faktisch schon, etwa durch die Grenzzäune und mehr Grenzschutz überall. Aber bislang war es doch so, dass immer noch galt, jeder darf einen Asylantrag stellen, der es auf das Staatsgebiet eines Staates geschafft hat. Griechenland hat es nun explizit aufgehoben. Eine entscheidend neue Situation.
Gab es dafür bereits Anzeichen?
Ein sehr wichtiges Signal war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg von Mitte Februar zu sogenannten Pushbacks. Demnach war eine Zurückweisung der spanischen Polizei nach Marokko rechtmäßig. Das Argument war, dass die betroffenen Flüchtlinge ihr Asylrecht verwirkt haben, weil sie über den Zaun klettern wollten, obwohl sie einen anderen, legalen Weg gehabt hätten. Das war schon eine Revolution in der Rechtsprechung zum Asylrecht.
Das passt also ins Bild eines allgemeinen Abbaus des Asylrechts.
Ja, das sind eigentlich drei Phänomene eines Trends: effektiverer Grenzschutz, neue Urteile in der Rechtsprechung und die offizielle Aufhebung des Asylrechts, jedenfalls teilweise.
Die Mehrheit der Deutschen will doch, dass Flüchtlingen geholfen wird.
Ja, ein Großteil der Gesellschaft glaubt weiterhin, dass man unterscheiden muss und kann zwischen Flüchtlingen vor Krieg und Migranten, bei denen die Lage etwas anders ist. Die Frage, wie hoch die Aufnahmebereitschaft unserer Gesellschaft wirklich ist, ist noch nicht endgültig beantwortet.
Nun hat sich die EU offenbar geeinigt, 1.600 unbegleitete Jugendliche aufzunehmen. Dabei waren aber nicht alle Länder, sondern nur eine Koalition der Willigen mit Deutschland, Frankreich, Irland, Finnland, Portugal, Luxemburg und Kroatien. Aber es ist klar: Man will eine feste Aufteilungsregel vermeiden, um keine Pull-Effekte zu erzeugen. Es soll eine einmalige Aktion bleiben. Das ist die Botschaft. Die Umsetzung des Beschlusses ist ja ohnehin fraglich.
Jetzt ist ohnehin alles anders. Die Corona-Krise wirbelt ja alles durcheinander. Welche Konsequenzen sehen Sie für die Flüchtlingsfrage?
Die Situation in Idlib und an der griechischen Grenze wird sich nicht verbessern. Die Medien haben sehr plötzlich das Interesse verloren. Die Corona-Krise hat die Prioritäten völlig verändert. Für die 13.000 Menschen an der türkisch-griechischen Grenze ist die Situation schlimm. Einige kehren zwar mittlerweile in ihre vorherigen Wohnorte in der Türkei zurück, aber ein Teil der Menschen wird da bleiben. Da wird sich nichts verbessern.
Jetzt werden in der Welt überall Grenzen geschlossen wegen des Coronavirus. Was bedeutet das für die Zukunft?
Es wird Folgen haben für das Image von Grenzen und Mobilität. Bislang haben die Deutschen doch sehr unterschieden zwischen externer Migration über die EU-Außengrenzen und der über die Binnengrenzen. Die letztere war eindeutig positiv bewertet. Wir müssen abwarten, ob sich das nun verändert. Das Image, die Bewertung von Mobilität, könnte sich generell natürlich verändern. Weil andere Prioritäten, also insbesondere Gesundheit, höher bewertet werden. Das könnte eine bleibende Folge der Corona-Krise sein.