Der 64-jährige Jazz-Posaunist und Sänger Nils Landgren verbindet skandinavische Volksmelodien mit amerikanischen Improvisationsstilen. „Kristallen" heißt das neue Album. Ein Interview über das schwedische Lebensgefühl und seine Zusammenarbeit mit Abba.
Herr Landgren, „Kristallen" haben Sie gemeinsam mit dem Pianisten Jan Lundgren aufgenommen. Können Sie im Duo-Format mehr Facetten von sich zeigen?
Wenn man in einem Duo spielt, muss man großes Vertrauen zueinander haben und sich gegenseitig Raum lassen. Ein Pianist zum Beispiel muss immer für mich da sein, wenn mir etwas einfällt. Ohne das harmonische Fundament wäre es für mich uninteressant. Auf einer Duo-Platte zeigt man jedoch nur ein paar seiner Facetten. Dadurch, dass ich so viele verschiedene Dinge mache, habe ich mir selbst die Möglichkeiten gegeben, verschiedene Facetten von meinem Spiel zu präsentieren.
Wir leben in lauten Zeiten. Im TV und Radio, in den sozialen Medien und Zeitungen. Wollten Sie mit diesem Album einen Gegenpol der Ruhe entwerfen?
Wenn man das politisch sehen will, dann absolut. Die Instrumente klingen am besten, wenn man gelassen und nicht zu laut spielt. Eine Platte wie „Kristallen" etwa lebt von der Reduktion. Die Musik darauf kann atmen. Jede Kleinigkeit wird registriert. So ein ruhiges Duo-Album habe ich seit meiner Platte mit Esbjörn Svensson nicht mehr gemacht. Beide Pianisten haben es verstanden, einen Sänger zu begleiten, ohne sich selbst zu beschränken.
Das von Ihnen bearbeitete Volkslied „Värmlandsvisam" ist eine Hommage an Ihre Heimat. Wie sieht es dort aus?
In Värmland gibt es viele Wälder und Seen. Aber dort wohnen ganz wenige Menschen. Viele Schweden sind von dort weggezogen, aber zum Glück kaufen sich immer mehr Holländer und Deutsche alte Häuser in Värmland und restaurieren sie. Ohne diese Leute würde Värmland noch schneller aussterben. Die Schweden hingegen träumen wahrscheinlich von Mallorca.
Sind Sie ein heimatverbundener Mensch?
Auf der einen Seite ja. Andererseits bin ich sehr häufig auf Reisen. Wo ich meinen Hut hinhänge, da ist mein Zuhause. Auch wenn ich in Värmland nicht lange gelebt habe, schlägt mein Herz immer noch für diesen Landstrich. „Värmlandsvisam" drückt das Lebensgefühl aus, das ich dort verspürt habe. Mit diesen Volksliedern sind wir Schweden aufgewachsen, sie bleiben immer in uns. Und ab und zu müssen sie raus. Das Eröffnungsstück „Blekinge" zum Beispiel geht über die Küstenlandschaft, in der Jan Lundgren geboren ist.
Bereits 1997 haben Sie ein Duo-Album namens „Swedish Folk Modern" aufgenommen, damals hieß Ihr musikalischer Partner Esbjörn Svensson. Was war das Besondere an ihm?
Er war einmalig. Wie sein Denken funktionierte, wie er Musik sah und umsetzte, wie er als Mensch und Vater war, wie er mit seiner Umgebung umging. Esbjörn war ein sehr komplexer Mensch und einer meiner besten Freunde. Er ist jemand, dem ich immer noch Fragen stellen kann. Und ich kann seine Antworten hören. Das ist sehr hilfreich.
Worin unterscheiden sich Esbjörn Svensson und Jan Lundgren?
Ich habe kein Interesse, etwas Ähnliches zu machen wie damals. Ich möchte eine andere Stimme haben. Jan hat eine andere Art zu spielen als Esbjörn, sie ist sehr reif und tief. Er geht sehr traditionell an Musik heran, aber mit einem offenen Sinn. Er ist eine wandelnde Song-Bibliothek. Und auf seine Weise ist er genauso gut wie Esbjörn.
Was reizt Sie daran, Beatles-Songs wie „Norwegian Wood" und „I Will" zu spielen?
Weil wir Spaß daran haben, sie zu spielen. Darüber kann man gut improvisieren. Ich bin ein totaler Beatles-Freak seit meinem siebten Lebensjahr. Damals habe ich sie das erste Mal im schwedischen Fernsehen gesehen. In Schwarz-weiß. Als sie „She Loves You" sangen, bin ich ausgeflippt.
Und dann wollten Sie auch ein Popstar werden?
Nein, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich stamme aus einer musikalischen Familie, mein Vater spielte Kornett in unserer Blaskapelle, und meine beiden Brüder waren Trommler. Für mich als Siebenjähriger waren die Beatles das Beste, was ich jemals gehört hatte. Sie spielten live im Fernsehen und waren Vorgruppe für eine schwedische Band. Seitdem habe ich mir all ihre Platten gekauft, auch die Bootlegs. Wenn man einen guten Song findet, von dem man glaubt, dass er zu einem passt, kann man ihn ruhig mal testen. Niemand würde einen fragen, warum man etwa den Jazz-Klassiker „Stella By Starlight" aufgenommen hat. Das tut man einfach.
Warum haben Sie sich als junger Mensch ausgerechnet in die Posaune verliebt?
Anfangs war ich auch Schlagzeuger. Meine Brüder und ich haben in unserer Blaskapelle Marschmusik gespielt. Das hat so einen Spaß gemacht! Aber mit 13 war es irgendwie nicht mehr lustig. Mein Vater hatte zu Hause eine Posaune, die ich einfach mal ausprobieren wollte. Meine Mutter liebte Posaunisten wie Jack Teagarden. Ich habe es probiert und fand es sofort toll. Mein Vater zeigte mir, wie es funktioniert. Das ist nicht einfach. Mit fast 17 Jahren habe ich mich auf dem Musikgymnasium dazu entschieden, Profi zu werden. Mit 19 war ich so weit. Es war natürlich das total falsche Instrument, um ein Popstar zu werden. Aber ich habe immer an die Posaune als Dolmetscher meiner Ideen geglaubt. Dafür muss man natürlich seine eigene Stimme finden.
Wer hat Ihnen dabei geholfen?
Ich habe mir wahrscheinlich selbst geholfen. Ich habe eine klassische Posaunenausbildung, aber nach dem Studium habe ich mich für Improvisation entschieden. Dafür musste ich eine eigene Stimme finden, aber ich wollte gleichzeitig im Satz spielen können. Alle meine Favoriten wie Miles Davis, John Coltrane, Louis Armstrong, Count Basie, Duke Ellington oder Dizzy Gillespie hatten das ja geschafft.
Ihr Gesang war erstmals auf der originalen Aufnahme des Abba-Songs „Voulez-Vous" zu hören, auf der Sie auch Posaune spielten. Wie kam es dazu?
Mein damaliges Trio war die angesagteste Bläser-Truppe in Stockholm. Benny hörte uns bei einem Konzert mit dem schwedischen Popstar Björn Skifs. 1974 hatte er mit „Hooked On A Feeling" einen Nummer-eins-Hit in den USA. Diese Bläsersektion wollte Benny unbedingt für Abbas Song „Voulez-Vous" haben. Er spielte uns die Melodien und Rhythmen auf dem Klavier vor, und wir nahmen sie anschließend auf. Seitdem sind Benny und ich gut befreundet. Er spielte sogar auf meiner Abba-Platte von 2004 mit. Damit hat er bestätigt, dass ihm meine Versionen seiner Songs gefallen.
Werden Abba wirklich wiederkommen?
Nein. Ich habe sie vor drei Jahren in Stockholm live gesehen, als Björn und Benny ihr 50-jähriges Jubiläum feierten. Die beiden Frauen kamen zu ihnen auf die Bühne, um mit ihnen einen Song zu singen. Aber es war keine Wiedervereinigung in dem Sinne. Ich weiß aber, dass sie neue Songs aufgenommen haben.
Was ist das schwedische Element an Ihrer Musik?
Das, was ich mit Funk Unit mache, ist nicht besonders schwedisch. Unsere Vorbilder kommen eher aus den USA. Aber auf der neuen Platte „Kristallen" hört man deutlich die schwedische Melancholie. Die Sehnsucht nach Licht.
Esbjörn Svensson sagte einmal: „Schweden, ja Skandinavien überhaupt, hat den Ruf, aufregend und andersartig zu sein." Was glauben Sie, warum die Schweden und andere Skandinavier so gut sind im Jazz?
Das ist nicht einfach zu erklären. Die amerikanische Musik kam bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nach Schweden. Quincy Jones, der ein paar Jahre in Schweden gewohnt hat, hat zusammen mit Lionel Hampton im Metronom Studio in Stockholm eigene Aufnahmen gemacht. Sie haben sich schnell mit jungen schwedischen Musikern vernetzt und wahnsinnig tolle Sachen eingespielt. Inzwischen gibt es an den Hochschulen Jazz-Abteilungen. Die sind sehr auf Spielen eingestellt, was bedeutet, dass die jungen Musiker für sich selbst eine Szene bilden. Es brodelt in den Jazzclubs in Stockholm, weil wir gute Vorbilder hatten. Mein Vater ist in jungen Jahren zehn Stunden mit dem Fahrrad gefahren, um sich ein Konzert seiner Lieblingsjazzband anzuhören.
Derzeit treten Sie wahlweise im Duo, im Quartett, mit Ihrer Funk Unit, mit der HR Bigband und der Bläserphilharmonie Heilbronn auf. Haben Sie so viele verschiedene Projekte, weil Sie schnell von etwas gelangweilt sind?
Nein. Oft ist es so, dass ich gefragt werde. Die Bläserphilharmonie Heilbronn hat mich vorletztes Jahr zu einem gemeinsamen Konzert überredet. Und jetzt wollen wir ein noch größeres Konzert mit einer Uraufführung spielen. Das ist immer reizvoll, zumal die Blasmusik mich an meine Kindheit erinnert. Ich habe in der Schule nur den Ja-Kurs belegt, zu Nein kamen wir nicht (lacht). Ich liebe die Abwechslung. Und 4 Wheel Drive ist ein Bandprojekt. Es war mein Vorschlag, aber die anderen hätten ja auch Nein sagen können. Diese Geschichte ist zu einem Riesenerfolg geworden. Wir haben in Deutschland mehr Platten als alle anderen verkauft.
Bei 4 Wheel Drive spielen vier Alphatiere: Nils Landgren, Michael Wollny, Wolfgang Haffner und Lars Danielsson. Wie funktioniert das?
Total super! Weil wir nicht oder nur ganz wenig diskutieren. Wir spielen einfach, ohne viel festzulegen. Wir lassen uns gegenseitig große Freiheiten. Wir haben die Entscheidung getroffen, zusammen Spaß zu haben. Das ist das Entscheidende. Das gilt übrigens für alles, was ich tue. Das musikalische Verstehen funktioniert aber nur, wenn man sich auch auf der menschlichen Ebene versteht.
Wird Kunst wichtiger in politisch turbulenten Zeiten?
Absolut. Ich mache keine Politsongs, aber ich kann ja einen politischen Gedanken im Kopf haben, wenn ich ein Konzert gebe. Oder ich kann mündlich etwas sagen. Ich bin ja ein denkender Mensch und sehe, was um mich herum passiert. Es ist erschreckend, was heutzutage in der Gesellschaft los ist. Ich möchte den Zuhörern eine gewisse Zeit geben, in der sie sich mit mir zusammen auf die Musik konzentrieren können. Wenn wir miteinander kommunizieren können, können wir die Welt auch ein bisschen verbessern.