Die Regierung schließt das Land. Die Menschen sind in Zeiten von Corona zu kollektivem Hausarrest verurteilt. Auch Museen, Theater, Konzerthäuser und Clubs sind geschlossen. Immer mehr Einrichtungen arbeiten aber an alternativen Konzepten gegen kulturelle Verödung. Online statt offline ist die Devise.
Wer jetzt in die Berliner Philharmonie gehen will, braucht sich nicht erst fein zu machen. Auch der Gang zur U-Bahn erübrigt sich, und das Taxigeld kann man ebenfalls sparen. Man fährt nicht mehr hin zum Konzert, sondern hoch – den Laptop nämlich. Die Digital Concert Hall ist ein schon länger bestehender, bis dato allerdings kostenpflichtiger Service der Philharmoniker. Knapp 150 Euro zahlte man bisher für ein Jahresabo, für eine Woche virtueller Konzertsaal wurden 9,90 Euro fällig. Jetzt laden die Philharmoniker zu einem kostenlosen Konzertbesuch ein, und man kann dann Kirill Petrenko am Dirigentenpult hautnah erleben. Unter anderen Bedingungen wäre das teurer Luxus, den nur betuchte Konzertbesucher aus der ersten Reihe genießen können. Jetzt ist der Blick auf den Maestro nur ein digitaler, eingefangen von der Kamera bei einem der Konzerte in diesem Jahr. Aber auch musikalische Zeitreisen kann man in der Digital Concert Hall antreten und beispielsweise Herbert von Karajan beim Silvesterkonzert 1978 auf den Taktstock schauen. Die „Konkurrenz" der Staatsoper Unter den Linden bietet ein Video-on-Demand-Programm. Hier lohnt wie früher auch der Blick in den Spielplan. Zwar muss keiner pünktlich zum Konzertbeginn im Saal sitzen, weil aber das Programm alle 24 Stunden wechselt, hat, wer nicht aufpasst, schnell sein Lieblingskonzert verpasst. Das HAU, das Hebbel am Ufer, das vorerst bis 19. April den Spielbetrieb eingestellt hat, hat auf Youtube einen eigenen Theaterkanal etabliert.
Fast alle großen Theater – und Konzerthäuser versuchen auf die ein oder andere Weise, den Kontakt zum Publikum zu halten. Auch die Wiener Staatsoper und die Metropolitan Opera in New York haben sich in digitale Opernhäuser verwandelt und erschließen sich so vielleicht sogar neues Publikum. Jetzt kann man auch vom anderen Ende der Welt kommend einen Abend in der Met verbringen. Die digitalen Medien überwinden Grenzen, öffnen die Türen der Opernhäuser für jedermann von überall.
Lesungen zum Überleben
Nicht nur Theaterveranstaltungen und Konzerte, auch Lesungen finden weiter statt – allerdings ohne Publikum. In dem Fall ist das nicht nur für die Leser, sondern auch die Autoren enorm wichtig. Schriftsteller gehören nämlich mit wenigen Ausnahmen nicht zu Großverdienern. Für sie sind Lesungen als Zubrot zu den kargen Tantiemen schlicht notwendig zum Überleben. Das Literaturhaus Berlin führt seine Lesereihe deswegen auch entschlossen fort. „Wir brauchen Literatur, jetzt sogar mehr als sonst!", heißt es von dort. Auf den Betrachter wirkt es gewöhnungsbedürftig, wenn man beim Livestream auf leere Stuhlreihen blickt und Diskussionen ohne Zuschauerbeteiligung stattfinden. Doch was wäre die Alternative?
Auch kleinere Veranstalter streamen live ins Internet, und so mancher Autor liest vor der Bücherwand im heimischen Wohnzimmer aus seinem neuesten Werk. Youtube ist inzwischen zu einem Zufluchtsort für Kulturschaffende in Zeiten von Corona geworden. Interessant ist auch das Konzept der Internetseite zehnseiten.de, auf der Autoren unterschiedlichster Verlage die ersten zehn Seiten ihres Romans vorlesen und damit sozusagen eine kostenlose Preview bieten. Die Webseite ist keine Erfindung aus Zeiten der Krise, stößt jetzt aber auf ein neues und ganz besonders Interesse.
Reisen im Kopf
Selbst zu virtuellen Reisen lädt man inzwischen im Internet ein. So bittet Österreich beispielsweise zur Fahrt auf der Großglockner-Hochalpenstraße oder zu virtuellen Spaziergängen durch Nationalparks. Letztlich landet man aber auch hier schnell wieder im Theater oder dem Museum. In der Albertina in Wien kann man Rubens einen virtuellen Besuch abstatten, im Kunsthistorischen Museum steht man vor Großen Meistern wie Rembrandt, Raffael und Velázquez oder aber man bestaunt die weltgrößte Brueghel-Sammlung. Über 1.200 Museen und Galerien weltweit bitten online zum Ausstellungsbesuch.
Eine wichtige Notlösung
Kann Kunst, die eigentlich immer für Publikum gedacht ist, im Internet funktionieren? Schwerlich wird sie dort dieselbe Wirkung entfalten, die ihr ursprünglich zugedacht war. Ins Kino geht man schließlich nicht nur, um einen Film zu sehen, sondern auch um hinterher mit Freunden bei einem Glas Wein über das Gesehene zu diskutieren. Im Theater geht es nicht nur um Goethe und Brecht, sondern auch um Kommunikation. Können Bilder von Dürer und Schiele in der Auflösung des heimischen Bildschirms auch nur halbwegs mit den Originalen mithalten? Egal, ob im Theater, Konzert oder Museum – das Publikum ist schließlich Teil der Kunst. Ein Livekonzert ohne Applaus, eine Theateraufführung vor leeren Stuhlreihen, beides war bis vor Kurzem unvorstellbar und wirkt immer noch befremdlich. Und trotzdem: Zu Zeiten von Corona ist jeder Versuch, den Kulturbetrieb irgendwie am Leben zu halten, aller Ehren wert. Lieber ein hilflos wirkender und verzweifelter Versuch als gar keiner. Schließlich ist es wichtig, dass sich der Mensch in Zeiten, in denen seine Bewegungsfreiheit von Tag zu Tag weiter eingeschränkt wird, nicht auch noch die Freiheit im Kopf wegnehmen lässt. Und vielleicht entsteht sogar aus der erzwungenen Symbiose von Off- und Online-Kunst etwas Neues, Spannendes, das auch nach den Schreckenszeiten von Corona Bestand haben wird.