Seit drei Wochen ist die Bewegungsfreiheit der Menschen weitgehend eingeschränkt. Für Psychologen ein Ausnahmezustand. Gerade seelisch Erkrankte leiden darunter, so die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Nicole Simmendinger.
Frau Simmendinger, können Sie denn derzeit überhaupt noch in Ihrer Praxis arbeiten?
Ja, da ich allein in meiner Praxis arbeite und ich mich dadurch im Einzelkontakt mit meinen Patienten befinde, läuft der Betrieb bei mir weiterhin halbwegs ungestört. Im Übrigen gehören wir Therapeuten ja zur Berufsgruppe mit einem wichtigen Versorgungsauftrag. Gerade in so einer Krise, wo der Staat auf wenig bis keine sozialen Kontakte drängt, müssen und wollen wir jetzt mit unserer Aufgabe Unterstützung bieten. Seit dem ersten April hat uns die Kassenärztliche Vereinigung die Möglichkeit eingeräumt, videogestützte Online-Therapien unbeschränkt durchzuführen. Das ist gerade jetzt bei Patienten mit Angst und Depressionen wichtig. Dieser Personenkreis geht ja momentan gar nicht mehr, oder nur noch sehr ungern, aus dem Haus. Zudem ist die Online-Therapie natürlich auch wichtig, um mit Covid- 19 infizierte Patienten weiter betreuen zu können.
Aber gerade als Psychologin sind Sie doch auf den persönlichen Kontakt angewiesen?
Das ist richtig und ich sehe ja tatsächlich noch einen Teil meiner Patienten hier in meiner Praxis. Dennoch ist in diesen Zeiten die Alternative der videogestützten Onlineberatung wichtig und sinnvoll, um nicht den Kontakt zu verlieren. Das muss man sich wie Skypen vorstellen, aber selbstverständlich über ein auf Ärzte zugeschnittenes Format, das die strengen Datenschutzauflagen berücksichtigt. Selbstverständlich kann das nicht die Behandlung Face-to-Face ersetzen. Eine gute Voraussetzung für die Online-Therapie ist natürlich eine stabile Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten, die im besten Fall bereits in den persönlichen Terminen aufgebaut werden konnte. Etwas schwieriger wird die Online-Therapie bei Erstgesprächen, also Patienten, die jetzt in dieser Krise erstmalig Unterstützung suchen. Besondere Zeiten bedürfen besonderer Maßnahmen und so besteht nun auch offiziell seitens der Kassenärztlichen Vereinigung die Genehmigung, Erstanfragen online zu beraten.
Wie haben ihre Patienten auf die Online-Therapie reagiert?
Durchaus positiv, wobei ich eventuell einen Vorteil habe, da ich aufgrund meiner Spezialisierung nur Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre behandle. Für diesen Altersbereich ist der Umgang mit dem Internet und virtuellen Kontakten das Normalste der Welt. Obendrein besteht für die Kinder und Jugendlichen nun auch nicht mehr die Notwendigkeit, lange Anfahrtswege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen und sich dadurch der Gefahr einer möglichen Infizierung auszusetzen. Schwierig wird es in Zeiten der Quarantäne, zu Hause einen Ort der Ruhe zu finden. Denn jetzt sind ja viele Familienmitglieder ebenfalls da, und wenn dann der Wohnraum begrenzt ist, kann man nicht einfach die Tür zumachen und allein sein. Da ist es dann auch nicht ganz einfach, einen Raum zu finden, um online ein therapeutisches Gespräch zu führen.
Was belastet denn Ihre Patienten in dieser Situation ganz besonders?
Gerade bei Kindern und Jugendlichen sind es die fehlenden sozialen Kontakte zu den Gleichaltrigen, das ist ganz besonders schwierig. Jugendliche wollen und müssen sich ja von ihren Eltern abgrenzen. Entwicklungsbedingt wollen sie jetzt ihr eigenes Leben beginnen und sich austesten. Und genau das fehlt ihnen aufgrund der Quarantäne am meisten. Zudem stellt sich dann natürlich auch die Frage, was mache ich denn nun in der Zeit, die ich habe, die ich jetzt zu Hause rumsitzen muss? Selbst den härtesten Netflix- oder Serien-Freaks wird das dann irgendwann mal zu langweilig. Da sind wir Therapeuten gefordert, denn wir müssen in den Gesprächen mit unseren Patienten helfen, Tagestrukturen zu schaffen, die plötzlich weggefallen sind. Das heißt, ich muss auch auf die Eltern einwirken, einen geordneten Tagesablauf zu gestalten. Viele Familien sind das überhaupt nicht mehr gewohnt, einen ganzen Tag miteinander zu verbringen. Da geht es dann um ganz simple Dinge, wie zum Beispiel, gemeinsam ein Puzzle zu machen oder zusammen zu basteln. Es ist wichtig, Strukturen zu schaffen und Ziele für diese Zeit zu definieren um erst gar nicht in das große Nichtstun und Grübeln zu verfallen.
Also für Patienten mit Depressionen und Angst ist das jetzt ein Ausnahmezustand im Ausnahmezustand?
So könnte man das nennen, ja. Depressive und ängstliche Patienten sind ja regelrechte Experten hinsichtlich des In-sich-Zurückziehens und genau darin liegt ja auch die große Gefahr. Als Mitte März die Ausgangssperre verkündet wurde, sagte sofort ein depressiver Patient zu mir, das ist ja prima, das ist ja genau das, was ich am besten kann! Also sich zurückziehen, nicht rausgehen, grübeln und soziale Kontakte vermeiden. Doch genau dagegen interveniere ich in der Therapie. Das ist in der Quarantänephase sehr schwierig. Ich motiviere und appelliere, dass die Patienten zumindest dann noch online ihre sozialen Kontakte pflegen und ganz wichtig, die Tagesstruktur beibehalten. Also morgens aufstehen, anziehen, regelmäßig essen und, solange dies gestattet ist, auch alleine rausgehen ans Tageslicht. Wichtig ist natürlich auch, die Nachrichten und aktuellen Meldungen zu besprechen und zu reflektieren. Spezielle Internetseiten selektieren Meldungen für diese Patientengruppe zweimal täglich und filtern Horror-News aus.
Besteht damit tatsächlich die Gefahr von erhöhten Selbstmordraten, wie die Weltgesundheitsorganisation gewarnt hat?
Diese Gefahr besteht, aber darin liegt auch eine Aufgabe für uns alle. Achtsam und aufmerksam füreinander zu sein und unterstützend zur Seite stehen. Also wenn man in seinem Umfeld mitbekommt, dass es jemandem zunehmend schlechter geht, er sich mehr als nötig abkapselt, eventuell seine körperliche Hygiene vernachlässigt, sollte man empathisch den Betroffenen darauf ansprechen und ihn auf mögliche Hilfsangebote hinweisen.
Aber nicht nur für psychisch Erkrankte ist die derzeitige Situation eine mentale Herausforderung?
Selbstverständlich ist die derzeitige Situation eine Herausforderung für alle Menschen. Ich denke da ganz besonders an Alleinerziehende, die jetzt mit ein oder zwei Kindern zu Hause sitzen und obendrein noch im Homeoffice arbeiten müssen. Dazu kommt die Angst um den Job oder finanzielle Engpässe. Diese Ängste sind innerhalb kürzester Zeit aufgekommen, die gab es bis vor wenigen Wochen gar nicht. Das sind die derzeitigen Herausforderungen, aber ich habe das Gefühl, dass wir als Gemeinschaft das hinbekommen. Ich sehe in meinem Umfeld trotz der Schwierigkeiten auch mehr Solidarität, mehr Rücksichtnahme füreinander.
Was können Sie denn Familien raten, wenn die jetzt täglich in der Wohnung sitzen, Mama und Papa versuchen, per Homeoffice den Beruf auf die Reihe zu kriegen, und dazu die Kinder, die zu Hause für die Schule lernen sollen?
Das Wichtigste ist, jedem in der Familie nach Möglichkeit seinen eigenen Raum, einen Rückzugsort zu schaffen. Wenn die Wohnung das nun von den Räumlichkeiten nicht hergibt, dann hilft auch hier wieder planen, gemeinsame Zeit zu strukturieren und Vereinbarungen zu formulieren. Während die Mama vormittags im Homeoffice ist, machen die Kinder ihre Aufgaben für die Schule. Dann kann der Nachmittag auch gemeinsam mit schönen Dingen verbracht werden.
Mit jüngeren Kindern kann Osterdekoration gebastelt werden, ältere haben dann ihre Zeit für sich. Der Mensch braucht jeden Tag Struktur und Ziele, um weiterhin das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu erleben und um abends zufrieden zu Bett zu gehen. Mit einem geregelten Tagesablauf und gemeinsam aufgestellten Regeln lassen sich dann auch die derzeitigen Herausforderungen meistern.