HELLERAU – in Großbuchstaben – ist quasi ein Markenzeichen. Für einen Ort nämlich, der über Jahrzehnte hinweg Künstler anzog und inspirierte. Eine Gartenstadt mit Festspielhaus vor den Toren Dresdens.
Im Dresdner Stadtteil Hellerau ist ein Kulturzentrum beheimatet, das sich als eines der wichtigsten Zentren der zeitgenössischen Kunst versteht. Im historischen Festspielhaus, 1911 im Stile der Reformarchitektur als „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus" gebaut, hat „HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste" (EZK) sein Domizil. Es hat kein eigenes Ensemble, als Koproduktions- und Gastspielhaus für die Freie Szene bietet es vielen Künstlerinnen und Künstlern Räume für künstlerische Forschung, Produktion und Präsentation in den Genres Tanz, Musik, Theater, Performance, Medienkunst und Bildende Kunst. Es fördert interdisziplinäre Projekte und regt Debatten über Kunst und Gesellschaft an. Darüber hinaus bestehen zahlreiche regionale, nationale und internationale Kooperationen und Partnerschaften.
Das EZK ist hervorgegangen aus dem bereits 1986 von dem Komponisten und Dirigenten Udo Zimmermann gegründeten „Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik". Nach einer Neuausrichtung wurde es 2004 in „Europäisches Zentrum der Künste Hellerau" umbenannt, seinen heutigen Namen bekam es dann im Jahre 2006. Das Festspielhaus selbst hat schlimme Jahre hinter sich. Die Nationalsozialisten rissen umliegende Häuser ab und bauten Polizeikasernen, die auch die SS nutzte. Nach Kriegsende zog die Rote Armee ein, der große Festsaal wurde erst Lazarett und danach Sporthalle. Davon zeugt die heute noch erhaltene Bemalung der Treppenhäuser im Foyer. 1992 wurde der Freistaat Sachsen Eigentümer des Geländes. Nach umfangreichen Sanierungen ist das Festspielhaus seit 2009 ganzjährig bespielbar.
Neben der zeitgenössischen Musik ist der zeitgenössische Tanz einer der Schwerpunkte des Programms. 15 Jahre war das aus Russland stammende „Tanztheater DEREVO" in HELLERAU ansässig, seit 2004 hat die „Dresden Frankfurt Dance Company" dort ihre feste Residenz.
2018 übernahm Carena Schlewitt die Intendanz des EZK. Die Theaterwissenschaftlerin arbeitete als Dramaturgin und Kuratorin an der Akademie der Künste in Ostberlin, am Podewil sowie beim Festival Theater der Welt in Berlin, am Forum Freies Theater in Düsseldorf sowie bis 2008 am HAU Berlin. Danach ging sie nach Basel und übernahm die künstlerische Leitung der „Kaserne Basel", eines ehemaligen Militärareals, wo heute die Kunst zu Hause ist. Diese „Kaserne" hat sie vor dem drohenden Ruin bewahrt, dank „einer klugen Strategie von echter Neugier und Offenheit, hoher Sachkompetenz und sanfter Beharrlichkeit", wie die „Neue Zürcher Zeitung" schrieb. Dafür erhielt sie 2017 den Basler Kulturpreis.
Carena Schlewitt landete nicht zufällig in Hellerau. „Die Ausschreibung hat mich sehr gereizt", erinnert sie sich, „ich kenne Hellerau noch aus den 90er-Jahren, als es als Kulturort wiederbelebt wurde. Ich fand den Ort schon immer faszinierend – wegen seiner Geschichte, der Architektur und seiner Lage im Grünen. Zudem liegt Dresden nicht weit entfernt von der Grenze zu Osteuropa, in einer Region, die viel mit der Transformationsgeschichte seit dem Fall der Mauer 1989 zu tun hat. Ich bin in Leipzig geboren, das verbindet mich mit der Landschaft und der Mentalität der Menschen hier in der Region."
Das „Tanzhaus" wird weiter ausgebaut
Sie hat bei ihrer Bewerbung auch darüber nachgedacht, wie es sein würde, nach mehr als 30 Jahren zurückzukommen. 2018 war die Pegida-Bewegung noch stärker als heute, und so mancher fragte sie ganz direkt, ob sie wirklich nach Dresden gehen wolle. Natürlich war sie schockiert und besorgt über die Entwicklung rechtspopulistischer und rassistischer Bewegungen, aber ihr ist es wichtig, zu zeigen, dass es in Sachsen und in Ostdeutschland auch noch etwas anderes gibt als Pegida und die AfD. Die Dresdner AfD schoss in den letzten Jahren immer wieder aus vollen Rohren gegen das Zentrum. Kultur gehört nicht gerade zu den Kernkompetenzen der Partei, insbesondere wenn die Künste zeitgenössisch und experimentell sind, bekommen sie schnell den Stempel „links". So lautete das Motto der Dresdner AfD 2019 „Kein Cent für politische Kunst!". Nach deren Vorstellungen soll aus dem Festspielhaus eine Immobilie zum Vermieten werden. Paradoxerweise setzt sich die AfD gleichzeitig für ein Museum der DDR-Kunst ein. „Kunst ist immer politisch", betont Carena Schlewitt, „erst recht, wenn man über DDR-Kunst redet. Uns geht es um die Freiheit der Kunst, um zeitgenössische und neue Formen, das schätzt auch unser Publikum. Im Kulturausschuss der Stadt ist übrigens keine der anderen Parteien auf den AfD-Vorschlag eingestiegen. Im Gegenteil, wir werden unterstützt von der Politik, von der Verwaltung und den öffentlichen Partnern – und auch von den Künstlern, dem Publikum und den Medien."
HELLERAU wird als städtische Institution jährlich mit 3,4 Millionen Euro subventioniert, was die Bedeutung des Zentrums vor allem für die internationale freie Szene noch einmal bekräftigt. Dennoch müssen auch weiterhin Drittmittel eingeworben werden. Das heißt Anträge stellen für kleine und große Projekte, für Festivals, für Produktionen, für Residenzprojekte. Ebenso wichtig sind Kooperationen, um gemeinsame Programme mit Partnern durchzuführen. Für Schlewitt und ihr Team bedeutet das „ein Riesenaufwand und komplexe Arbeitsabläufe, das geht manchmal an die Grenzen, aber das gehört in der Freien Szene und zu unseren Häusern dazu." Da heißt es gut planen, aber auch flexibel sein. „Vor Kurzem haben wir im Januar mit ‚Karussell‘ ein großes Festival zeitgenössischer russischer Kunst präsentiert, das ohne die Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes, der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen nicht möglich gewesen wäre." Ein breites Publikum hat das Programm sehr interessiert angenommen, auch die russischsprachige Community Dresdens, der Region und darüber hinaus ließ sich sehen.
Inzwischen hat sie entschieden, das renommierte Tanzhaus HELLERAU weiter auszubauen. Anfangs hatte sich Carena Schlewitt noch gefragt, ob diese Erweiterung beim Publikum ankommen würde. Doch die Entwicklung hat ihr Recht gegeben. „Bei einer Stadt wie Dresden mit einer halben Million Einwohnern sind die Interessen ja sehr vielfältig und das Publikum entscheidet sich heute oft spontan für eine Veranstaltung. Das Tanzpublikum ist uns treu geblieben, und es kommen auch viele neue Leute zu uns." HELLERAU profitiert auch von der Mitgliedschaft im Bündnis internationaler Produktionshäuser. Für die Intendantin ist der Erfahrungsaustausch sehr wertvoll, aber auch die gemeinsamen Initiativen. Aktuell hätte die neue Choreografie „Flaggs" von Paula Rosolen und Haptic Hide, eine Koproduktion mit Frankfurt am Main aufgeführt werden solle, aber wie andere Kultureinrichtungen auch, hat sie den Spielbetrieb vorerst bis 19. April eingestellt. „Weiter Zeigen!", das Festival der Freien Szene Sachsens, der Auftritt der israelischen Choreografin Sharon Eyal, die Konzerte des Landesjugendorchesters Sachsen – all das fällt erst mal aus. Nicht nur für Carena Schlewitt eine neue Erfahrung. „Wichtig ist jetzt, dass wir als Team in Beziehung bleiben mit den Künstlerinnen und Künstlern, mit unseren Partnern und auch mit dem Publikum. Im Moment wissen wir nicht, wie es weitergeht, und wir denken darüber nach, wie ein Wiedereinstieg in den Spielbetrieb aussehen könnte. Auch beschäftigt uns: Wie sieht unsere Gesellschaft nach Corona aus, welche Rolle spielen dann öffentliche Kultur- und Kunstorte, wie können wir die wichtige internationale Arbeit fortsetzen?"
Es wird weitergehen. Mit der anstehenden Sanierung des Ostflügels hat HELLERAU das Potenzial, sich als Residenz-, Produktions- und öffentlicher Veranstaltungsort für Dresden zu einem Kunstcampus zu entwickeln.