Krisen gelten als Sternstunden der Exekutive. Mangelnde Entscheidungsbereitschaft ist Bund und Ländern nicht vorzuwerfen. Aber: Handelt unsere Regierung wirklich gut in der Corona-Krise?
Als Regierende muss man sich schon sehr unklug verhalten (Boris Johnson) oder sehr eindeutig am Ausmaß der Krise Mitschuld tragen (Trump), um nicht zumindest kurzfristig von ihr zu profitieren. Weitgehend unabhängig vom bestehenden politischen System neigt die Öffentlichkeit dazu, Schutz in etablierten Strukturen zu suchen, und da fällt es den Regierenden leicht, mit halbwegs vernünftiger Krisenkommunikation die allgegenwärtige Zustimmung in politisches Kapital zu verwandeln. In Deutschland zeigt sich dieses Muster im Umfrage-Comeback der Unionsparteien, die vor Corona in erster Linie mit ihrer (Selbst-)Zerstörung zu kämpfen hatten. Allem Zusammenrücken zum Trotz ist es unsere Aufgabe als mündige Bürger in einer funktionierenden Demokratie, politisches Handeln zu beurteilen. Woraus sich unweigerlich die Frage ergibt: Wie beurteilt man politisches Handeln in Zeiten der Krise? Ist es überhaupt möglich, schon heute, mitten in der Krise, eine sinnvolle Beurteilung vorzunehmen?
Wer die Krisenreaktion der Regierung beurteilen möchte, muss Abstand gewinnen zur Tagespolitik im Feuerwehrmodus, die immer den gerade bedrohlichsten Brandherd angeht. Es empfiehlt sich daher, die Frage zu stellen: Sind die Maßnahmen, welche unsere Regierung ergreift, zum jeweiligen Zeitpunkt angemessen und wirksam? Erschwerend ist bei Corona, dass sich die Wirkung zum Teil erst deutlich nach der Maßnahme entfaltet. Werfen wir also einen kritischen Blick auf die drei Phasen, in denen im Zuge der Krise politisch gehandelt wird: Phase eins liegt bereits hinter uns. Hier ging es um die Vorbereitung vor Eintritt der Krise. Phase zwei, in der wir uns gerade befinden, ist die Krise selbst, gekennzeichnet durch die Bewältigung der akuten Probleme. Schließlich wird irgendwann eine dritte Phase folgen, in der die Aufarbeitung der Krisenmaßnahmen, das Heraustreten aus der Krise, und der Wiederaufbau die bestimmenden Themen sein werden.
Entscheidungen oft schwer nachvollziehbar
Im Vorfeld der Krise, die nicht über Nacht kam, gab es ein Zeitfenster, in dem man sich hätte vorbereiten können. China hatte einige Wochen Vorsprung vor uns, und einige gefährliche Charakteristika des Corona-Erregers waren früh offensichtlich. Wurde dieses Zeitfenster genutzt, um sich wirksam vorzubereiten? Wurden Lagerstätten angelegt für medizinische Hilfsmittel, Schutzmasken und Beatmungsplätze? Wurde das Personal in den Kliniken aufgestockt und Testkapazitäten massiv ausgebaut? Oder wurden Pläne ausgearbeitet, wie Schulschließungen aufgefangen oder Teile der Wirtschaft in einen Winterschlafmodus überführt werden könnten? Die Antwort hierauf ist offensichtlich – nein. Wertvolle Wochen blieben ungenutzt. Weder wurde ausreichend Material bevorratet, noch wurden Maßnahmen ergriffen, um die Personaldecke in systemrelevanten Bereichen zu erhöhen oder auch nur dieses Personal eindringlich in Pandemieverhaltensregeln zu schulen. Ganz im Gegenteil hat die Regierung an der seit Ende des Kalten Kriegs üblichen „Schönwetterpolitik" festgehalten, am schlanken Staat, der in normalen Zeiten gerade so funktioniert, jedoch keine nennenswerten Resilienzreserven aufweist.
Wie sieht es mit Phase zwei aus? Mitten in der Krise dominiert das schnelle Handeln im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten. Entsprechend sind Maßnahmen gefragt, die die Ansteckungsrate herabsetzen und so die gleichzeitig intensivmedizinisch zu betreuenden Patientenzahlen unter einer Schwelle halten, die das Gesundheitssystem überlasten würde. Jede dieser Maßnahmen, seien es Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen oder das Untersagen verschiedenster wirtschaftlicher Tätigkeiten, kann aufgrund des Krankheitsverlaufes erst mit zwei Wochen Verspätung in seiner Wirksamkeit beurteilt werden. Schon früher sollte man sich allerdings mit der Frage der Angemessenheit einer Maßnahme beschäftigen. Wenn der Freistaat Sachsen seinen Bürgerinnen und Bürgern untersagt, sich für sportliche Aktivitäten weiter als 15 Kilometer von ihrem Wohnort zu entfernen, muss man schon die Frage stellen, inwieweit dies das Ansteckungsrisiko im Vergleich zu einer freien Wahl der Sportstätte minimiert oder gar das Gegenteil bewirkt, wenn ein Leipziger auf die Stadt beschränkt bleibt, statt auf das nahe Land ausweichen zu können. Im größeren Rahmen muss man vor allem das Versagen im Umgang mit unseren europäischen Partnern konstatieren, das sich in wenig hilfreichen Grenzschließungen, der Beteiligung am Freibeutertum in Sachen Schutzausrüstungen und der ideologisch motivierten Verweigerung von Eurobonds manifestiert. Hier wirkt die Regierung ziellos, planlos und getrieben, ohne jeden Sinn dafür, wie eine internationale Zusammenarbeit in der Krise kurz- bis mittelfristig helfen könnte. Von löblichen Ausnahmen wie der Behandlung französischer Intensivpatienten in Deutschland abgesehen scheinen die Mitgliedsstaaten der EU auf ein archaisches „Teile und herrsche"-Prinzip zurückzufallen.
Hilfen mit Weichenstellung verknüpfen
Damit stehen wir auch direkt am Übergang zur Phase drei, der Zeit danach. Obwohl wir uns noch mitten in der Krise befinden, muss verantwortliches politisches Handeln bereits jetzt die Grundlagen für die Zeit danach legen. Eine globale Krise dieses Ausmaßes setzt zwangsläufig große Transformationskräfte in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft frei. Nach der Krise wird es nicht mehr sein wie vor der Krise, dennoch scheinen die meisten Maßnahmen der Regierung auf ein Konservieren der bestehenden Strukturen und einem „Weiter so" nach der Krisenbewältigung abzuzielen. Maßnahmen, die kurzfristige Krisenhilfe mit langfristig gewünschten gesellschaftlichen Entwicklungen verbinden, fehlen völlig. Grünen-Chef Robert Habeck ist in der Öffentlichkeit grandios mit der Forderung gescheitert, heruntergefahrene Hotels sollten die Zeit nutzen, um ihre Ölheizungen durch energetisch sinnvollere Systeme zu ersetzen. So unbeholfen seine Argumentation erschien, so richtig war doch der Denkansatz: Es ist ein Gebot der Vernunft, auch kurzfristige Hilfen an sinnvolle Bedingungen zu knüpfen. Warum sollte ein Unternehmen, das Hilfen erhält, im Gegenzug nicht in den kommenden Monaten einen Plan entwerfen und veröffentlichen müssen, um CO2-neutral zu werden? Warum das schlummernde Potenzial in der Wirtschaft nicht freisetzen und gleichzeitig die Weichen für die bessere Zukunft stellen? Hier liegen vermutlich die größten Versäumnisse aktuell. Gleichzeitig die Feuer zu löschen und sich trotzdem darum zu kümmern, wo das Löschwasser hinläuft, ist schwierig, kompliziert und wird zwangsläufig zu Fehlern führen. Aber genau für diese schweren Entscheidungen leisten wir uns als Gesellschaft professionelle Politiker. Die Regierung schwimmt derzeit auf der Welle der Zustimmung, doch das darf uns nicht weiterhin blenden, ihr Handeln kritisch zu hinterfragen und auf Wirksamkeit, Angemessenheit und Zukunftssicherheit zu prüfen. Wenn Deutschland gestärkt aus dieser Krise hervorgehen will, braucht es dafür eine nach vorn gerichtete Kraftanstrengung und kein Verwalten der Missstände.
Es ist also durchaus möglich, auch in Krisenzeiten, Regierungshandeln kritisch zu beurteilen. Der Trick besteht darin, sich vom emotionalen Ausnahmezustand zu distanzieren und mit intellektuellem Abstand die Maßnahmen zu prüfen.