Ausgangsbeschränkungen und Corona-Quarantäne haben unser Leben verändert. Jeder von uns reagiert anders auf die Ausnahmesituation. Persönliche Erfahrungen eines Hochrisiko-Menschen.
Da bist Du 74 Jahre alt, hattest eine schwere Herz-Operation, musst Tabletten nehmen – und dann trifft Dich eine Pandemie mit dem Coronavirus. Die Empfehlung lautet: zu Hause bleiben, Kontakt zu anderen Menschen auf jeden Fall vermeiden. Wie lebt es sich denn so, fast 24 Stunden in selbst auferlegter Quarantäne?
Irgendwann ist das letzte Fenster geputzt, das letzte Buchregal durchgeforstet, die letzte Akte neu geordnet. Was bleibt dann noch? Mit Sicherheit kein ständiges Fernsehen. Der sogenannte Nachrichtensender „N-TV" kommt mir nicht ins Haus. Die Talkshows sind nach einer Woche nur noch langweilig, weil immer wieder die Lauterbachs, Laschets und Lindners ihre Sicht der Dinge kundtun.
Ich will mich nicht darüber aufregen, dass unser Gesundheitssystem mit kriminell-kapitalistischem Neoliberalismus kaputtgespart werden soll, Vor einem Jahr wurde eine „Studie" lanciert, wonach 800 Kliniken in Deutschland geschlossen werden sollten. Auftraggeber war die unsägliche, Demokratie zerstörende Bertelsmann-Stiftung. Bertelsmann – das sind die, die zum Beispiel in den profitorientierten Rhön-Kliniken ihre schmutzigen Finger drin haben. Profit auf Kosten von Menschenleben – welche Werte werden da in unserer Gesellschaft zerstört?
Nein, ich will mich nicht aufregen. Klassik-Radio oder auch Deutschlandfunk Kultur beruhigen mit dezenter Hintergrundmusik, bei der sich meditieren lässt. Die Gedanken schweifen in die Vergangenheit, als in Deutschland die Not tatsächlich groß war. Mutter ging putzen, damit sie ihre vier Kinder und sich selbst durchbekam. Sie zauberte köstliches Essen. Wenn es keine Margarine gab – an Butter war gar nicht zu denken – mischte sie aus einem Eidotter und Zucker einen süchtig machenden Aufstrich. Wenn gegen Monatsende kein Geld mehr da war, ließ sie bei Tante Emma, die in Wirklichkeit Frau Groß hieß, anschreiben. Sie nahm mich immer mit, weil ein hungriger kleiner Junge Herzen weit machen kann. Frau Groß schnitt für den kleinen Jungen dann ein extra großes Stück Wurst ab oder kochte für uns ein kostenloses Süppchen.
Die Hilfsbereitschaft schien in Deutschland im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen zu sein. Seit Corona ist sie wieder da – wohl, weil sie nur geschlummert hatte. Zwecks Versorgung fuhr ich zuerst noch zu einer Tankstelle, die auch einen riesigen Lebensmittelladen hat.
Bei einer Heimkehr entdeckte ich jüngst einen Zettel an der Haustür: „Guten Tag, liebe Nachbarn, hiermit möchten wir, Kathrin Dincher und Bastian Zens, aufgrund der neuen Situation, die sich wegen des Coronavirus ergeben hat, unsere Hilfe für unsere älteren Nachbarn anbieten. Wir unterstützen Sie gerne bei Ihren Einkäufen oder anderen Dingen, die Sie zum täglichen Leben benötigen, damit Sie auch weiterhin gesund bleiben."
Das Leben ist schön. Morgens hängen zwei Rosinen-Stückchen und Zeitungen an der Wohnungstür, und einmal wöchentlich gibt es einen größeren Einkauf. Da steht dann für einen Fenchel-Auflauf Parmesan-Käse drauf. Per Whatsapp kommt die Rückfrage: „Gerieben oder am Stück?" Die beiden machen sich tatsächlich Gedanken um mein Wohlergehen.
Damals, nach dem Krieg, gab es weder Fenchel noch Parmesan-Käse noch Whatsapp. Ein Telefon hatten wir erst in den 60er-Jahren. In dieser Zeit der Corona-Seuche habe ich so viel telefoniert wie seit meiner Berufszeit nicht mehr. Das ist ja auch normal, weil es sonst Begegnungen mit Menschen gibt und ein Telefon überflüssig ist. Das Smartphone ist es meistens auch, bewährt sich allerdings, wenn der alte, ansonsten fitte Mann alleine in einer Wohnung lebt und höchstens mal in menschleerer Gegend eine Runde dreht.
Mindestens einmal täglich wird mit dem Freund Rene gechattet. Der ist ein Fan des Fußball-Bundesligisten Eintracht Frankfurt, ich ein Fan von Borussia Dortmund. Wir haben fast immer die gleiche Sicht der Dinge, und während Corona werde ich allmählich auch zum Eintracht-Fan. Dieser Club mit seinem Präsidenten Fischer vertritt demokratische Werte, die in diesem Haifisch-Becken Bundesliga selten zu bemerken sind. Natürlich, es gibt viele Sport-Stars, die jetzt wohltätig sind. Sie machen das auch bei Twitter und Facebook kund. Ich unterstelle mal, dass sie das ehrlichen Herzens tun – und nicht, weil sie damit glänzen wollen. Doch sind mir Kathrin und Bastian und die vielen fleißigen Helfer ohne Amt und Würden dennoch noch lieber.
Ab und zu erzählen mir Wissenschaftler etwas im Fernsehen über Corona – wie die Entwicklung der Forschung ist, wie sie die Lage einschätzen. Dann denke ich an die Menschen, die in Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeheimen arbeiten und bin dankbar, dass ich in Deutschland lebe.
Dankbarkeit ist etwas, was viele Menschen leben, die schon im Vorhof der Hölle waren. Die nach einer Lebenskrise ihr Leben geändert haben. Wöchentlich finden in Deutschland normalerweise 2.300 Treffen der Anonymen Alkoholiker statt. Die haben ein suchtfreies Lebensprogramm, das am besten wirkt, wenn sie sich in ihren „Meetings" treffen. Nun geht das nicht, weil alle Räume geschlossen sind, solche Ansammlungen nicht stattfinden sollen.
Sie haben Chatgruppen gründet, reden per Telefon rund um die Uhr deutschlandweit miteinander. Diese Anonymen Alkoholiker haben viele wertvolle Sätze drauf. Zum Beispiel: „Wenn Dir das Leben nur eine Zitrone schenkt, kannst Du immer noch eine Limonade daraus machen." Oder: „Halt es einfach".
Die meisten Treffen der Anonymen Alkoholiker werden mit einem Spruch – oder, je nachdem, Gebet – beendet. Dieser Text war und ist Lebensmaxime für viele Menschen, die überhaupt nicht alkoholkrank waren oder sind. Er war einer der Lieblingstexte des Franz-Josef Strauß: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."
Im Augenblick habe ich noch sieben Rollen Toilettenpapier, der Kühlschrank ist voll. Und da soll ich angesichts des Leids der Flüchtlinge in Lesbos, der Kriegsflüchtlinge, jammern? Doch wohl nicht im Ernst.