Prof. Dr. Stefan H. E. Kaufmann hat einen Tuberkulose-Impfstoff entwickelt, der gute Aussichten auf einen Einsatz gegen SARS-CoV-2 hat. Mit FORUM spricht der Biologe über die Entwicklung von spezifischen Impfstoffen sowie Einsatzmöglichkeiten seines Impfstoffs VPM1002.
Herr Professor Kaufmann, Sie hatten in Ihrem Buch „Wächst die Seuchengefahr? Globale Epidemien und Armut: Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzten Welt" bereits vor zehn Jahren auf das Risiko einer Pandemie hingewiesen. Ist das jetzt eingetreten?
In meinem Buch habe ich bereits auf das Risiko neuer Epidemien und Pandemien hingewiesen. Insbesondere darauf, dass drei Viertel aller Infektionskrankheiten des Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten neu auftraten, von Tieren abstammten. In den meisten Fällen handelt es sich um Viren, denn die sind für den Artensprung am besten vorbereitet. Auch war mir schon damals klar, dass mit größter Wahrscheinlichkeit ein RNS-Virus der Erreger der nächsten Pandemie sein würde. Als größte Seuchenbedrohung habe ich damals bereits den enger werdenden Kontakt zwischen Mensch und Tier genannt, denn dieser erhöht in besorgniserregender Weise das Risiko, dass neue Krankheitserreger den Menschen befallen, von denen einer das Zeug zu einer Pandemie hat. Als besonders gefährlich schätzte ich einen neuen Erreger ein, der sich über die Luft verbreitet, aber klinisch zunächst kaum in Erscheinung tritt. Der Erreger von Sars (Severe Acquired Respiratory Syndrome) hatte uns damals bereits das Drehbuch dazu geschrieben. Wahrscheinlich nahm Sars-CoV-2 auf einem Fleischmarkt in Guangdong in China seinen Anfang. Aufgrund der Globalisierung verbreitete sich der Erreger über die ganze Welt. Bei Sars ging es noch einmal glimpflich aus.
Bei Sars-CoV-2 war das leider nicht so …
Sars-CoV-2 erfüllt leider all die Kriterien, die ich genannt hatte, und hat die Welt überrannt. Bedauerlicherweise hat man aus den früheren Erfahrungen nicht ausreichend Konsequenzen gezogen und erst spät auf die Katastrophe reagiert. Jetzt haben wir mit einer Pandemie zu kämpfen, das heißt auf allen Kontinenten und in allen Regionen breitet sich das Virus aus. Bereits damals habe ich die drei E geprägt:
Erkennen, was gerade passiert: Durch Surveillance den lokalen Krankheitsausbruch frühestmöglich ausmachen.
Eingrenzen, was passiert: Durch Pandemiepläne die Verbreitung der Krankheit bekämpfen.
Erforschen, was passiert ist: Die Ausbreitung und Aggressivität des Erregers sowie die Empfänglichkeit der Menschen bestimmen und neue Medikamente und Impfstoffe entwickeln.
Wie viele Pharmaunternehmen/Institute versuchen derzeit, einen Impfstoff gegen das neuartige Corona-Virus Sars-CoV-2 zu entwickeln?
Derzeit werden weltweit etwa 50 unterschiedliche Impfstoffe entwickelt. Zahlreiche in Deutschland. Die Entwicklung findet in den Laboratorien großer Pharmafirmen, kleiner Start-ups und akademischer Institute statt. Beispiele aus Deutschland sind Curevac, BioN-Tech sowie akademische Konsortien des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung.
Wie weit ist die Entwicklung von möglichen Impfstoffen? Welche Informationen gibt es hierzu schon?
Über den Stand der Forschungsaktivitäten der Privatindustrie ist derzeit wenig bekannt. Eine größere Transparenz wäre hier wünschenswert. Akademische Forschergruppen hatten bereits mit der Entwicklung eines Impfstoffs gegen Mers-CoV (Middle East Respiratory Syndrome, Anm. d. Red.) begonnen, und diese Daten sind auch zum Großteil öffentlich zugänglich. Wir wissen, dass ein US-amerikanisches Start-up, Moderna, mit einer Phase I begonnen hat. Auch aus China kommen Nachrichten, dass mit einem Impfstoffkandidaten klinische Studien begonnen wurden, und zumindest ein deutscher Impfstoffentwickler peilt eine Phase I zum Sommer dieses Jahres an.
Normalerweise dauert es Jahre, bis ein Impfstoff entwickelt, getestet und freigegeben ist. Wie ist das in einem solchen Ausnahmefall geregelt?
Erst einmal sollte man auch in einer Situation wie jetzt auf die nötige Sorgfalt nicht verzichten. Das heißt, der Impfstoff muss sicher sein. Abkürzungen sind denkbar, indem man teilweise die präklinischen Untersuchungen an Tiermodellen und Phase I überlappend durchführt. Ähnliches gilt für Phase II und Phase III. Weiterhin ist es wünschenswert, die Zulassung klinischer Studien sowie die endgültige Zulassung eines erfolgreichen Impfstoffs zu beschleunigen, sobald eindeutige Daten vorliegen. Inwieweit man Abkürzungen einführen kann, hängt stark von der Situation ab. Je klarer die Daten sind, desto schneller kann es gehen. Wenn also ein Impfstoff 100 Prozent schützt, das heißt in einer Phase III keiner der Probanden, die den Impfstoff erhielten, erkrankt, in der Kontrollgruppe aber zahlreiche Erkrankungen diagnostiziert werden, dann ist das eindeutiger, als wenn nur ein Teil geschützt wird. Hier muss sorgfältig zwischen Bedrohung durch die Epidemie und Nutzen der raschen Einführung eines Impfstoffs abgewogen werden.
Halten Sie Impfstoffe für ausreichend abgesichert, wenn diese innerhalb so kurzer Zeit auf den Markt kommen?
Bei Einhaltung der nötigen Sorgfalt und eindeutiger Datenlage ist auch bei kurzer Zeit das Risiko nicht erhöht.
Ist die Impfung eher für Risiko-gruppen gedacht oder sollten sich alle impfen lassen?
Alle sollten den Impfstoff angeboten bekommen.
Mit welchen Nebenwirkungen kann man bei solchen Impfungen rechnen?
Nebenwirkungen sollten möglichst nicht auftreten. Leichte Nebenwirkungen wie Rötung, leichte Schwellung und ein leichter Temperaturanstieg über einen kurzen Zeitraum sind jedoch vertretbar. Die Nebenwirkungen hängen meist von der Art des Impfstoffs und insbesondere des Impfverstärkers ab.
Die Chancen stehen gut, dass man Ihren Tuberkulose-Impfstoff auch gegen Sars-CoV-2 einsetzen kann. Warum könnte dieser helfen?
Wir haben den Impfstoffkandidaten VPM1002 gegen Tuberkulose auf der Basis des klassischen Tuberkulose-Impfstoffs BCG entwickelt. Dies ist ein attenuierter Impfstoff, also ein harmloses, lebendes Bakterium. BCG schützt nur teilweise gegen Tuberkulose, die mit 1,5 Millionen Todesfällen und zehn Millionen Neuerkrankungen pro Jahr noch immer die bedrohlichste Infektionskrankheit weltweit darstellt. Wir haben durch genetische Modifikation BCG verbessert. Der Impfstoff wurde an die Vakzine Projekt Management (VPM) in Hannover lizenziert, die diesen später an das Serum Institute of India (SII) sublizenzierte, den größten Impfstoffhersteller der Welt. Unser Impfstoff wird von SII in Bioreaktoren hergestellt, und dies ermöglicht es, viele Millionen Dosen rasch zu produzieren.
Gab es schon klinische Studien?
Unser Impfstoff hat bereits erfolgreich eine Phase I in Deutschland durchlaufen. Dies konnte in Südafrika bestätigt werden. Eine Phase II in Südafrika zeigte, dass der Impfstoff auch in Neugeborenen sicher und immunogen ist. Der Impfstoff befindet sich nun in Phase III zum Schutz gegen Tuberkulose in Erwachsenen in Indien. Parallel dazu laufen auch klinische Untersuchungen zu Blasenkrebsbehandlung. BCG wird zur Behandlung des Blasenkrebs genutzt, weil der Impfstoff die angeborene Immunität stimuliert, die dann Krebszellen angreifen. Die klinischen Studien mit VPM1002 bei Patienten, bei denen BCG nicht wirkt, waren sehr erfolgreich. Wir wissen nun also, dass BCG und VPM1002 zwei Antworten stimulieren: Erstens, die erworbene spezifische Immunität. Dies ist letztlich das klassische Konzept der Impfstoffwirkung und spielt beim Einsatz gegen die Tuberkulose die entscheidende Rolle. Daneben aber stimulieren BCG, und damit auch VPM1002, die angeborene unspezifische Immunität gegen andere Infektionskrankheiten, so zum Beispiel gegen virale Infektionen der Atemwege. Da unser Impfstoff in Deutschland bereits auf Sicherheit getestet ist, soll er direkt in einer Phase III auf Schutz gegen Infektion und Erkrankung durch Sars-CoV-2 getestet werden. Unter der Leitung von Dr. Leander Grode von der VPM soll festgestellt werden, ob klinisches Personal durch VPM1002 geschützt werden kann. Hier handelt es sich um gesunde Personen, die einem erhöhten Infektionsrisiko durch Sars-CoV-2 ausgesetzt sind. Zweitens soll getestet werden, ob der Impfstoff die Erkrankung bei älteren Menschen, die ein erhöhtes Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung haben, mildern kann. Das Protokoll zur klinischen Studie zum Schutz von medizinischem Personal wurde vorige Woche eingereicht.
Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser gegen Corona eingesetzt wird?
Ich bin sehr zuversichtlich, dass unser Impfstoff VPM1002 für eine klinische Studie zugelassen wird. Ich bin weiterhin optimistisch, dass er auch einen Schutzeffekt zeigen kann. Wir gehen davon aus, dass der Impfschutz etwa ein Jahr anhält, sich dann aber wieder abschwächen könnte. Das heißt, dieser Schutz soll ausreichen, bis ein spezifischer Impfstoff gegen Sars-CoV-2 zur Verfügung steht.
Ab wann könnte man frühestens mit einem Impfstoff rechnen?
Wir hoffen, dass bis Herbst 2020 die Studiendaten vorliegen. Danach könnte rasch eine Lizenzierung erfolgen. Die spezifischen Impfstoffe stehen erst am Anfang der klinischen Überprüfung, und ich gehe davon aus, dass diese frühestens im Sommer 2021 zur Verfügung stehen. Eher etwas später, wenn man die klinische Überprüfung und Zulassung nicht deutlich beschleunigt.