Nie wieder stand der Boxsport hierzulande derart im Fokus wie 1995: Die WM-Kämpfe von Axel Schulz und die beiden deutsch-deutschen Duelle zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani begeisterten vor 25 Jahren die Massen.
Axel Schulz rechnete bereits mit dem Schlimmsten. Als der Boxer nach dem Kampf gegen George Foreman in Las Vegas in ein Taxi stieg und ihn der Fahrer intensiv beobachtete, befürchtete er schon, er sollte entführt werden. Doch dann sagte der Fahrer zu ihm: „Sie sind doch der Axel Schulz aus Germany. Der Schulz, der gegen Foreman um den Sieg betrogen wurde. Für mich sind Sie der Sieger des Kampfes, und ich erlasse Ihnen das Taxigeld." „Das war für mich das schönste Erlebnis in Las Vegas", erzählte Schulz viele Jahre später in der „Bild"-Zeitung.
Der Taxifahrer war mit seiner Meinung nicht allein. So wie er dachten viele. Die „Bild" witterte sogar Betrug und titelte nach dem Kampf am 22. April 1995 entsprechend: „Durfte Super-Axel nicht gewinnen?" Schulz’ Niederlage gegen den damals schon 46 Jahre alten George Foreman war höchst umstritten und der Deutsche danach der Sieger der Herzen. Beinahe wäre es ihm gelungen, die Boxlegende zu entthronen, die 1974 schon gegen Muhammad Ali im Ring stand und sich mit diesem in Kinshasa einst den legendären „Rumble in the Jungle" lieferte. Dabei hatten Foremans Manager Schulz extra als den vermeintlich schwächsten der möglichen Gegner ausgewählt – der Sieg schien trotz des hohen Alters ihres Schützlings bloß eine Formsache. Die erwarteten Kräfteverhältnisse spiegelten sich auch in der Antrittsgage der beiden Kämpfer wider: Während Foreman satte fünf Millionen Dollar kassierte, musste sich Schulz mit 500.000 Mark begnügen.
Schulz erfüllte die Erwartungen nicht
Doch der Außenseiter aus Deutschland zeigte im MGM Grand in Las Vegas den Kampf seines Lebens. Axel Schulz wich dem Weltmeister geschickt aus, punktete selbst aus der Halbdistanz und war über weite Strecken der aktivere Boxer. In der letzten Runde brachte er Foreman mit einer Vierer-Kombination ans Kinn sogar ins Wanken. Trotzdem verkündeten die Punktrichter am Ende einen knappen Punktsieg des Titelverteidigers. „Natürlich war Georges Punktsieg ein Witz", sagte Schulz gegenüber der Deutschen Presseagentur. „Aber wenn man mit so einer Legende im Ring steht, muss man seinen Gegner für einen Sieg eben umhauen. Das ist mir nicht gelungen – Punkt." Rückblickend bezeichnet er den Kampf bis heute als seine „wichtigste Niederlage". Kannte ihn zuvor vor allem im Ausland kaum jemand, war er nun auf einen Schlag in aller Welt bekannt. „Davon lebe ich heute noch", betont Schulz. Es war der Auftakt in das größte Jahr der deutschen Boxgeschichte. 1995 kämpfte Axel Schulz gleich zweimal um die WM-Krone im Schwergewicht, denn nach dem Duell gegen George Foreman folgte im Dezember ein weiteres mit dem Südafrikaner Francois Botha. Ebenfalls gleich zweimal kam es im Halbschwergewicht zum deutsch-deutschen Gipfeltreffen zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani. Bei den Frauen wurde zudem Regina Halmich vor 25 Jahren im Fliegengewicht erste deutsche Profiboxweltmeisterin. Und in Berlin bejubelte das Publikum bei der Amateur-WM nicht weniger als neun Medaillen für das deutsche Team – nur die Kubaner waren ähnlich erfolgreich.
Nie wieder stand der Boxsport hierzulande derart im Fokus. Bis zu 18 Millionen Zuschauer saßen bei den Kämpfen gebannt vor dem Fernseher, bei einem Marktanteil von mehr als 70 Prozent für den übertragenden Sender RTL. Die 18,03 Millionen Zuschauer bei Schulz’ zweitem WM-Kampf gegen Botha sind bis heute immer noch Rekord für eine Sportübertragung ohne Fußball. Auch die Werbepreise schnellten in ungeahnte Höhen. Beim zweiten Kampf zwischen Maske und Rocchigiani kostete eine Minute Werbezeit bei RTL satte 360.000 Mark.
Das Doppelduell zwischen diesen beiden nationalen Kontrahenten wurde von den Medien als „Frage der Ehre" hochstilisiert. Es war ein Duell der Gegensätze: der Ossi Maske gegen den Wessi Rocchigiani; der Gentleman aus der DDR-Kaderschmiede gegen den Sohn eines Eisenbiegers und gelernten Gebäudereinigers; der Weltmeister gegen den frechen Herausforderer aus dem Kiez. 1993 hatte Henry Maske erstmals den WM-Titel gewonnen und ihn seitdem sechsmal erfolgreich verteidigt. Mit seinen Erfolgen und seiner zurückhaltenden Art hatte er den Boxsport in Deutschland salonfähig gemacht; selbst Intellektuelle betonten auf einmal, wie faszinierend, archaisch und inspirierend Boxen sei. Gleichwohl war Maskes Kampfstil eher defensiv geprägt nach dem Motto: „Es gewinnt nicht derjenige, der die meisten Treffer landet, sondern derjenige, der die wenigsten Treffer abbekommt." Graciano Rocchigiani war dagegen auch im Ring ein Draufgänger, der seinem Spitznamen „Rocky" alle Ehre machte. Auch in dieser Hinsicht hätten die beiden Kämpfer also nicht unterschiedlicher sein können.
Zum ersten Aufeinandertreffen kam es am 27. Mai 1995 in der vollbesetzten Dortmunder Westfallenhalle. Henry Maske war der Favorit, doch Rocchigiani lieferte dem Weltmeister einen großen Kampf. Nachdem er seinen Rivalen in der letzten Runde sogar zu Boden brachte – wenngleich Maske dabei mehr geschubst als geschlagen wurde –, wähnte sich Rocchigiani bereits als Sieger und riss nach dem letzten Gong triumphierend die Arme hoch. „Ich habe auch klar gewonnen", beharrte er noch bis zu seinem viel zu frühen Tod bei einem Verkehrsunfall im Oktober 2018. Beim Wiedersehen mit Maske sagte er 2015 der „Bild": „Man hätte den Kampf auch abbrechen können. Henry, du hast dich ganz schön festgehalten am Ring. Ich habe das Urteil nicht verstanden. Henry war ja wirklich richtig platt, hat ein paar Bomben genommen. Aber ein Volltreffer von mir hat gefehlt." So entschieden die Kampfrichter auf einen Punktsieg für Maske. Rocchigiani sei in seinen schwächeren Runden zu wenig aktiv gewesen, so die offizielle Begründung. Ein ähnlich umstrittenes Ergebnis wie beim Kampf von Axel Schulz gegen George Foreman. Immerhin: Henry Maske akzeptierte einen sofortigen Rückkampf. „Für mich war es wichtig, die Leistung vom ersten Kampf zu korrigieren und mich gezielt auf Graciano vorzubereiten", erklärte er. Das zweite Duell am 14. Oktober 1995 in der ausverkauften Olympiahalle in München war dann eine klare Angelegenheit – Maske siegte deutlich nach Punkten.
Maske dominierte den Rückkampf
Zwei Monate später, am 9. Dezember, sollte auch Axel Schulz eine zweite Chance auf den WM-Titel erhalten. In seinem Fall hatte George Foreman den vom Weltverband IBF (International Boxing Federation) angeordneten Rückkampf abgelehnt, sodass ihm der Titel aberkannt wurde. Schulz bekam deshalb die Gelegenheit, in Stuttgart gegen den Südafrikaner Francois Botha um den nunmehr vakanten IBF-Titel zu kämpfen. Botha war zwar bis dahin ungeschlagen, aber in Deutschland eben nicht sonderlich bekannt, sodass die einheimischen Medien fest von einem Sieg des Lokalmatadors ausgingen. Doch der Druck war zu groß für Schulz. Er verkrampfte und zog auch in diesem zweiten WM-Kampf am Ende nach Punkten knapp den Kürzeren. Das Publikum war frustriert. Es flogen sogar Gläser und ganze Sektflaschen in den Ring, mehrere Zuschauer in den ersten Reihen wurden leicht verletzt, darunter die Ehefrauen von Henry Maske und Formel-1-Boss Bernie Ecclestone. „Alles war ja auf Sieg eingestellt, ein Hubschrauber war schon gemietet, der mich nach Hause bringen sollte. Schwupp war nix mehr davon da. Ich saß mit einem Kumpel allein im Auto und traute mich nicht mal mehr, ein Sixpack Bier aus der Tanke zu holen. Ich war der Vollidiot. Trainer Manfred Wolke hat mich nicht mit dem Arsch angeschaut. Ich dachte: Was ist das für eine Scheiße!? Doch da kamen die Leute und sagten: Ist doch scheißegal. Das ist der Sport. Das hat mich aufgebaut", berichtete Schulz in der „Bild"-Zeitung.
Wenige Tage später kam zudem heraus, dass Botha beim Kampf mit Steroiden gedopt war. Der Titel wurde ihm aberkannt, und Schulz durfte 1996 abermals um die Schwergewichtskrone kämpfen. Doch auch im dritten Anlauf blieb der Traum vom Weltmeistergürtel unerfüllt: Schulz unterlag dem Amerikaner Michael Moorer – die Zeit der lukrativen Kämpfe war für ihn damit vorerst vorbei. Ebenfalls 1996 beendete auch Henry Maske nach seiner ersten Niederlage als Profi gegen Virgin Hill (USA) seine Karriere – auch wenn er 2007 noch einmal für einen letzten Kampf gegen den gleichen Gegner zurückkam. Der Boxsport stand in Deutschland aber nie wieder so im Fokus wie 1995.