Dr. med. Heike Bueß-Kovács ist Ärztin und Medizinjournalistin. Sie hat zahlreiche Zeitschriftenartikel, Fernsehbeiträge und Ratgeber zum Thema Gesundheit veröffentlicht. Im Interview spricht sie über das Leaky-Gut-Syndrom, das in den vergangenen Jahren vor allem in der Naturheilkunde viel Beachtung findet.
Frau Dr. Bueß-Kovács, was genau versteht man unter dem Leaky-Gut-Syndrom?
Beim Leaky-Gut-Syndrom ist die Barrierefunktion der Darmschleimhaut nicht mehr intakt. Mit fatalen Folgen. Durch die lecken Stellen des Darms können schädliche und toxische Stoffe in den Blutkreislauf und damit in den gesamten Organismus gelangen. Die Fremdstoffe rufen das Immunsystem auf den Plan, das mit allen Mitteln versucht, die Substanzen abzuwehren. Dadurch kommt es zu entzündlichen Reizungen und in der Folge zu chronischen Krankheiten, vor allem zu Allergien und Autoimmunerkrankungen, die als unheilbar gelten. Eine Vielzahl an Symptomen und Beschwerden können so durch das Leaky-Gut-Syndrom ausgelöst werden. Es treten gehäuft Beschwerden im Verdauungssystem selbst auf, etwa Blähbauch, Bauchschmerzen, Völlegefühl, Verstopfung im Wechsel mit Durchfall – Symptome, die nicht selten gepaart sind mit chronischer Müdigkeit, Erschöpfung, Leistungsabfall und Konzentrationsverlust.
Warum soll der Darm hier „leaky", also „durchlässig", sein?
Die Balance des Darmmileus mit seinen Myriaden an guten, nützlichen Mikro-Organismen sowie die Integrität der Darmbarriere haben für unser leibliches und seelisches Wohl eine hohe Priorität. Unter der Schleimschicht, die viele Fette und vor allem Lezithin enthält, liegt die Darmschleimhaut, die im Fachjargon als Mukosa bezeichnet wird. Sie besteht aus Schleimhautzellen, die über Tight-Junctions miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich um bänderförmige Proteine, die die Zellen zusammenhalten. Gäbe es die Tight-Junctions nicht, könnten Schadstoffe ungehindert durch die Zwischenräume zwischen den einzelnen Zellen schlüpfen und in den Blutkreislauf gelangen. Beim Leaky-Gut-Syndrom sind all diese Schutzsysteme in unterschiedlichem Ausmaß beschädigt:
Die Schleimschicht verliert ihre Festigkeit (Viskosität) und wird immer dünner. Damit verliert sie ihre schützende Funktion und wird leichter durchdringbar für Schädlinge, Bakterien und Fremdeiweiße.
Die Darmflora gerät aus der Balance, es kommt zu Veränderungen im ökologischen Gleichgewicht des Mikrobioms.
Der Darm wird auf diese Weise undicht und durchlässig für schädigende Stoffe, das Immunsystem versucht, diese schädlichen Eindringlinge abzuwehren.
In der Folge kommt es zu Entzündungen, die nicht selten die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut noch weiter erhöhen. Noch mehr Schadstoffe, Gifte und andere Substanzen, die eigentlich ausgeschieden werden sollten, können die Darmschleimhaut passieren, was die Entzündung weiter anheizt – ein Teufelskreis entsteht.
„Leaky Gut" ist ein pathogenetisches Konzept aus der Alternativmedizin, das wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist. Warum schenkt man ihm dann überhaupt Beachtung? Ist das nicht etwas suspekt?
Das Phänomen des durchlässigen Darmes existiert tatsächlich – das ist wissenschaftlich belegt. So können Mediziner beobachten, dass Patienten mit bestimmten Erkrankungen einen durchlässigeren Darm aufweisen als gesunde Patienten. Das ist etwa bei der weit verbreiteten Störung des Reizdarms der Fall sowie bei Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa und Morbus Crohn.
Auch Nahrungsunverträglichkeiten wie die Zöliakie – eine Weizeneiweißunverträglichkeit – sind mit Leaky-Gut assoziiert. Deshalb handelt es sich hier nicht um eine „Hokuspokus-Medizin", sondern es finden ganz seriöse Forschungen zu dem Krankheitsbild statt. In diesem Zusammenhang wendet sich die Wissenschaft zurzeit ganz stark dem Darm-Mikrobiom zu, was von sehr vielen Medien auch publiziert wird. Es werden in Zukunft sicher viele interessante neue Erkenntnisse zutage gefördert werden, denn die enorme Bedeutung der Bakterienwelt für unser Überleben in unserer Umwelt erschließt sich erst nach und nach.
Dass Phänomene wie das Leaky-Gut-Syndrom mehr Akzeptanz in der Naturheilkunde und der Komplementärmedizin finden als in der Schulmedizin, ist der Tatsache geschuldet, dass diese Disziplinen ganzheitlich ausgerichtet sind und Genesung und Heilung als ursachenbezogene Therapieansätze sehen und nicht symptombezogen, wie es in der Schulmedizin immer noch gang und gäbe ist.
Welche Hintergrundfakten gibt es, wie ist die Studienlage?
Zahlreiche Universitäten auf der ganzen Welt widmen sich der Erforschung des Leaky-Gut-Syndroms, vor allem in Zusammenhang mit dem Reizdarm-Syndrom (RDS). Auch über diagnostische und therapeutische Zugangswege wird das Phänomen untersucht. So ergab eine Studie an der Berliner Charité, dass die Heilpflanze Myrrhe die Darmschleimhaut zu schützen vermag und so entzündliche Reizungen und das Aufbrechen der Tight-Junctions verhindert. Prof. Jörg-Dieter Schulzke wurde hierzu vom Presseportal folgendermaßen zitiert: „Die Ergebnisse bestätigen die schon lange bekannte entzündungshemmende Wirkung von Myrrhe und ihren Einsatz bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und Reizdarm, die mit einem Defekt der Darmbarriere und entzündlichen Prozessen einhergehen."
Ist es überhaupt möglich, Leaky Gut zu diagnostizieren?
Neben einer eingehenden körperlichen Untersuchung lässt sich das Leaky-Gut-Syndrom labordiagnostisch mit speziellen Tests recht gut erfassen, zum Beispiel dem Zonulin-Test: Zonulin ist ein spezieller Eiweißstoff, der die Gabe hat, die Tight-Junctions in der Darmwand zu öffnen und damit die Permeabilität zu erhöhen – was einen Zustrom schädlicher Substanzen in den Organismus ermöglicht. Mit der Analyse des Zonulinspiegels im Serum kann die Darmpermeabilität untersucht werden.
Welche Ursachen werden für das Leaky-Gut-Syndrom angenommen?
Es gibt eine Anzahl an Faktoren, die das Risiko für ein Leaky-Gut-Syndrom deutlich erhöhen. Eine große Rolle spielen etwa Medikamente, vor allem Antibiotika. Diese sind in der Lage, Bakterien zu zerstören, aber leider eben nicht nur die schädlichen wie die Auslöser einer Mittelohrentzündung oder einer bakteriellen Bronchitis, sondern eben auch die guten Darmbakterien, die für die Gesunderhaltung der Darmschleimhaut von Bedeutung sind. Auch nicht steroidale Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen oder Diclofenac, die frei verkäuflich sind, haben einen negativen Einfluss auf die Darmschleimhaut. Zudem setzen zahlreiche Lebensmittel, insbesondere industriell hergestellte Fertignahrung mit viel Zucker und Zusatzstoffen, dem Darm deutlich zu. Nicht zuletzt hat der Faktor Stress, also körperliche und seelische Belastungen wie Krankheit, der Verlust eines geliebten Menschen, Probleme in Job oder Partnerschaft, eine ungünstige Wirkung, da er das vegetative Gleichgewicht durcheinanderbringt und dem Darm die nervale Grundlage entzieht, seine Verdauungsfunktionen aufrechtzuerhalten.
Betroffene können laut Ihrem Buch die unterschiedlichsten Symptome haben – darunter etwa Bauchschmerzen, Migräne, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen/Ängste, Übergewicht, chronische Schmerzen oder Autoimmunerkrankungen. Wie soll sich das alles auf den Darm zurückführen lassen?
Mit über 80 Prozent befindet sich unser körpereigenes Immunsystem im Darm, genau genommen in der Darmschleimhaut. So ist es nicht verwunderlich, dass alles, was die Darmbarriere stört und den Darm durchlässig für „ungebetene Gäste" macht, das Immunsystem in vollem Ausmaß herausfordert. Ein Kampf des Immunsystems gegen schädliche Eindringlinge führt grundsätzlich zu einer Kaskade, die mit Entzündungen einhergeht. Gelangen toxische Stoffe über die undichten Stellen des Darmes in den Blutkreislauf, können sie zu allen Organen geleitet werden und dort den Kampf des Immunsystems provozieren. So ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise eine Weizensensitivität nicht nur zu Blähungen, Durchfall und Bauchschmerzen führen kann, sondern auch zu Kopfweh, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen. Unser Organismus ist eine Einheit von Körper, Geist und Seele. Deshalb wirken sich die meisten Krankheiten und Störungen auf psychosomatischer Ebene aus, das heißt der Körper beeinflusst die Seele und umgekehrt. Da man unseren Darm mit seinen mehr als 100 Millionen Nervenzellen auch als „Bauchgehirn" bezeichnet, das seelische und emotionale Prozesse mit zu steuern vermag, wird klar, dass Störungen im Darm immer seelische Auswirkungen haben. Depressive Verstimmungen gehören ebenso dazu wie Nervosität, Gereiztheit, Unruhe, Abgeschlagenheit und Konzentrationsstörungen.
Wer sagt, dass es nicht umgekehrt ist und zum Beispiel chronische Schmerzen und Depressionen/Ängste zuerst da sind und sich dann negativ auf den Darm auswirken?
Der Umkehrschluss ist in jedem Fall zulässig, denn, wie gesagt, sind wir eine Körper-Geist-Seele-Einheit, die ständigen Wechselprozessen ausgesetzt ist. Am Stressmodell lässt sich das anschaulich darstellen. Chronische Schmerzen, Ängste und depressive Verstimmungen produzieren immer Stress – es kann gar nicht anders sein. Dieser Stress beeinflusst den Vagus-Nerv, unseren Ruhenerv, von dem die Darmfunktionen gesteuert werden. Alltagsbeispiele verdeutlichen dies. Jeder kennt die Nervosität und Aufregung vor einer anstehenden Prüfung oder einer wichtigen Aufgabe, die es zu meistern gilt. Was passiert in ganz vielen Fällen? Plötzlich rebelliert der Darm, man bekommt Bauchweh und Durchfall.
Wie sind die Aussichten, dass Leaky Gut als ernstzunehmende Erkrankung betrachtet wird?
Im Zuge der spannenden Mikrobiom-Forschung, die intensiv auf der ganzen Welt betrieben wird, sicher sehr gut. Das Darm-Mikrobiom und die Darmbarriere hängen zusammen wie Henne und Ei. Unser Darm beherbergt gigantische Bakterienvölker, die unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Etwa 1.014 Keimarten – man könnte sie als die Stämme der verschiedenen Bakterienvölker bezeichnen – zählen zum Mikrokosmos unserer Darmflora, sofern diese sich in gesundem Zustand befindet. In ihrer Gesamtheit werden diese Keimarten als Mikrobiom bezeichnet. Das ist wie ein lebender eigener Organismus oder wie ein eigenes Organ, genauso wie die Nieren, das Herz oder die Leber. Manche Wissenschaftler sprechen sogar von einem Super-Organ oder Super-Organismus.
Wie sollte man sich bei Leaky-Gut ernähren? Welche Gerichte und Nahrungsmittel sind gut, welche schlecht?
Jeder Mensch hat seine individuellen Ernährungsgepflogenheiten und oft auch ein Gespür dafür, was ihm gut tut und was nicht. Generell lässt sich aber sagen, dass naturbelassene Kost, die überwiegend aus Gemüse, Salat und Obst besteht, einer industriell verarbeiteten Nahrung vorzuziehen ist. Gravierenden Einfluss hat der Zucker, der praktisch überall in Dosenkost und Fertigprodukten zu finden ist und nicht nur zu Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck führen, sondern auch das Mikrobiom durcheinanderbringen kann.
Können auch Medikamente und andere Maßnahmen Abhilfe schaffen?
Prinzipiell hilft eine Darmsanierung sehr gut, vor allem, wenn der Darm, etwa durch eine Antibiotikatherapie, Schaden erlitten hat. Diese Darmsanierung erfolgt auf verschiedenen Stufen. Einer Reinigung und Regeneration der Darmschleimhaut, etwa durch Intervallfasten, folgt die Darmstärkung. Die Abwehrkraft der Darmschleimhaut kann hierbei gezielt aufgebaut werden. Dafür eignen sich pflanzliche Präparate, verschiedene Heilkräutertees wie zum Beispiel Fenchel, Kümmel, Melisse und die Anwendung von Prä- und Probiotika. Präbiotika tragen zur Milieuverbesserung bei und fördern die Ansiedlung gesunder Bakterien im Darm. Bei Präbiotika handelt es sich um unverdauliche Nahrungsbestandteile, die den Bakterien als „Futter" dienen. Diese sind Ballaststoffe aus Obst und Gemüse. Probiotika nennt man bestimmte Bakterien, die einen Anteil am Darmmikrobiom bilden und so positiven Einfluss auf die Darmgesundheit haben. Sie können in aktiver Form dem Darm zugeführt werden, müssen aber magen- und gallensaftresistent sein, um nicht von den aggressiven Säuren zerstört zu werden. Auch Nahrungsergänzungen, zum Beispiel mit Zink und Lezithin, helfen bei der Regeneration der Darmschleimhaut und tragen zu ihrem Schutz bei.
Wie findet man einen Arzt, der sich mit dem Leaky-Gut-Syndrom auskennt?
Das ist leider nicht ganz einfach, denn selbst in Großstädten sind die Anlaufstellen eher rar. In unserem Buch haben wir einige Adressen genannt, beispielsweise von Laboren, die die speziellen Tests durchführen, um sich einem Leaky Gut diagnostisch zu nähern. Ein Tipp wäre, sich an die Universitäten zu wenden. Wie gesagt – die Charité in Berlin betreibt Forschung, in Duisburg wurden auch Untersuchungen vorgenommen. Wie bei vielen anderen Krankheiten können auch Selbsthilfegruppen Unterstützung bieten. Dort bestehen oft erstaunliche Wissensinhalte, weil die Betroffenen selbst internationale Datenbanken durchstöbern. Und oft hilft schon der Austausch mit jemandem, der den gleichen Leidensweg durchlaufen musste wie man selbst.