Bei Alba Berlin ist der wichtigste Mann im Club bereits 73 Jahre alt. Aíto García Reneses ist mehr als nur ein Trainer, er verhilft dem Verein zu seiner Identität.
In Zeiten der Corona-Krise setzt Alba Berlin auf die Jungen. Mit seinem Onlineprogramm „Albas tägliche Sportstunde" begeistert der deutsche Basketball-Vizemeister Tausende Kinder und Jugendliche, die mit digitalen Angeboten zu mehr Bewegung animiert werden. „Das ist eine ungewohnte und gerade für Kinder auch beunruhigende Situation", sagte Albas Vizepräsident Henning Harnisch: „Deshalb machen wir jetzt das, was Schulsportexperten ohnehin seit Jahren fordern: Eine tägliche Sportstunde, für Kinder und Jugendliche aller Altersklassen."
In der jeweils 24-minütigen Einheit, die sich vor allem an Grundschüler richtet, zeigen Alba-Trainer aus der Umkleidekabine heraus Übungen für Gleichgewicht, Koordination und Fitness. Der Headcoach des Profiteams ist nicht dabei, für digitales Training auf Youtube ist Alejandro „Aíto" García Reneses dann doch etwas zu alt. Für Alba aber noch nicht, der 73-Jährige würde nur zu gerne wieder an der Seitenlinie coachen. „Ich fühle mich im Club wohl, auch mit meinen Spielern. Und ich habe den Ehrgeiz, meine Arbeit hier fortzuführen", sagte Reneses kürzlich in einem Interview mit einer spanischen Zeitung. Genau diese Signale wollten die Verantwortlichen hören, sie hatten ihrem Trainer schon vorher den Roten Teppich ausgerollt. Der Ende Juni auslaufende Vertrag ist nur ein Stück Papier, Reneses darf so lange bei Alba bleiben, wie er will. Er hat quasi einen Vertrag auf Lebenszeit. „Das ist genau so. Ich sage das ganz deutlich", bestätigte Marco Baldi der „B.Z." Der Geschäftsführer lobte den Trainer, der in seiner dritten Saison bei Alba das sportliche Sagen hat, in höchsten Tönen: „Er passt perfekt zu uns. Das, was ihm Freude macht, wo er seine größten Qualitäten hat, passt perfekt zu uns."
Reneses Qualitäten als Trainer liegen unbestritten in der Entwicklung von Spielern. Er gilt als Förderer der späteren NBA-Stars Pau Gasol, Rudy Fernandez, Juan Carlo Navarro, Ricky Rubio und Kristaps Porzingis. Er erkennt, fordert und fördert Talente – und das ist genau der Weg, den Alba auch im internationalen Kräftemessen mit finanziell deutlich bessergestellten Clubs gehen will. Auch seine Philosophie von einem freien, flüssigen und schnellen Basketball deckt sich mit der des Clubs.
Der gebürtige Madrilene ist also nicht nur der wichtigste Angestellte im Profiteam, sondern im ganzen Verein. „Er hat einen großen Entwicklungsgeist. Er möchte, dass Dinge wachsen", sagt Baldi. Reneses’ Antrieb ist nicht der Sieg, sondern die Entwicklung. „Er würde niemals Dinge erfinden, um einen Titel zu gewinnen, wenn er weiß, dass es morgen nicht mehr geht", sagt Baldi. Dies sei „seine ganz große Qualität".
Mit 73 Jahren hat der Trainer noch große Ziele
Deswegen machte es den Trainer auch nicht verrückt, dass er in seinen ersten beiden Spielzeiten keinen Titel mit Alba gewinnen konnte. Als durch den Pokaltriumph Mitte Februar gegen die EWE Baskets Oldenburg (89:67) auch dieser schwarze Fleck gelöscht war, musste man Reneses zu einem Bild mit der Trophäe fast zwingen.
„Das ist für mich nicht so wichtig", sagte er damals: „Ich weiß, dass es für die Menschen wichtig ist, ich freue mich für sie." Und das war auch so gemeint. Sportdirektor Himar Ojeda verriet über ein Gespräch mit Reneses unmittelbar nach Spielende: „Er hat mir gesagt: ‚Wow! Wie die Jungs gespielt haben!‘ Er hat es wie ein Fan genossen, er hat so geredet, als ob er gar nicht involviert wäre." Und das, betonte Ojeda, „sagt viel über ihn aus. So tickt er."
Ein Titel mehr oder weniger in seiner persönlichen Vita, das ist für Reneses, der seit über 40 Jahren im Basketball arbeitet, nicht mehr wichtig. Er hat unter anderem neunmal die spanische Meisterschaft gewonnen und fünfmal bei einem Europapokalwettbewerb triumphiert. Zudem führte er die Nationalmannschaft seines Heimatlandes 2008 in Peking zu Olympia-Silber und das im Vorfeld als unschlagbar geltende Team der USA an den Rand einer Finalniederlage.
„Er muss nichts mehr gewinnen", sagt Baldi. Und genau deswegen glauben ihm die Spieler, wenn Reneses ihnen sagt, er wolle sie besser machen. Jeden Tag. „Alle Spieler lieben ihn, er ist ein großartiger Trainer", sagt zum Beispiel der frühere Alba-Profi Marius Grigonis.
Reneses’ Führungsstil ist mehr pädagogisch als autoritär. „Er kommt wie der ultimative Lehrer rüber", sagt Bundestrainer Henrik Rödl. Er hat einige Trainingseinheiten und Spiele von Alba unter dem Spanier beobachtet und kommt zu dem Schluss: „Es geht ihm nur um die eigene Mannschaft. Nie um andere, nie um den nächsten Gegner."
„Er hat eine nach außen wirkende Gelassenheit"
Deswegen ist das Training für ihn eigentlich auch die liebste Zeit. Dafür war bis zur Saisonunterbrechung durch Corona aber sehr wenig Zeit, Alba hetzte durch die Dreifachbelastung von einem Spiel zum anderen. Reneses gefiel das gar nicht, aber öffentlich beschwert hat er sich nicht.
„Er hat eine nach außen wirkende Gelassenheit", sagt Baldi. Und so coacht er auch an der Seitenlinie. Wo andere Trainer mitunter wie HB-Männchen an die Decke gehen, sitzt Reneses meist ungerührt auf seinem Stuhl. „Was heute passiert", sagt Baldi, „das verändert nicht sein Leben".
Für seine Kollegen ist Reneses eine große Inspiration. „Er ist für mich die erste Quelle, wenn es darum geht, mein Basketballwissen zu verbessern", sagt der spanische Profitrainer Pedro Calles. In Spanien wird Reneses verehrt.
Ins Ausland wechselte er erst im Alter von 70 Jahren, wenn andere längst ihr Rentner-Dasein genießen. „Es hat sich so ergeben", sagt er: „Ich fand die Aufgabe interessant, und ich bereue es nicht." Alba sowieso nicht, unter Reneses hat der Club eine klare Identität und sportlichen Erfolg erlangt. „Solange er das will", sagt Baldi über seinen Trainer, „hat er hier immer seinen Platz."
Doch selbst wenn Reneses sich für eine neue Saison bei Alba entscheidet, hinter den Kulissen muss sich der Club nach einem Nachfolger umsehen, der die Arbeit der Trainer-Ikone fortsetzt. Denn das Alter kann auch der Basketball-Magier nicht stoppen. Im vergangenen Juli musste er an beiden Augen operiert werden, die Heilung ist gut verlaufen.