Die Corona-Krise bedeutet für viele Kleinunternehmer die Vernichtung ihrer Existenz. Eine Berliner Buchhandlung stemmt sich erfolgreich gegen die Krise – auf dem Fahrrad kommt die Literatur jetzt zum Leser.
Edgar Rai biegt mit seinem Lastenfahrrad um die Ecke. Vorne in der Gepäckkiste stehen acht braune Papiertüten, alle randvoll mit Büchern. Vor einem Mietshaus bringt er sein Gefährt zum Stehen, klingelt an einer der Wohnungen und lässt dann, nach einem kurzen Gespräch durch die Gegensprechanlege, eine der Tüten vor der Haustür stehen. Schon geht es weiter zum nächsten Kunden.
Rai, selbst Schriftsteller mit einer langen Liste von Veröffentlichungen, ist Miteigentümer der Buchhandlung „Uslar & Rai" im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. 2012 hatte er zusammen mit Katharina von Uslar mitten im Szenekiez den kleinen Lesetempel eröffnet. Damals waren sie in den Räumen Nachfolger eines Bordells, das auf Anordnung der Behörden geschlossen werden musste. In Zeiten, in denen das geschriebene Wort, noch dazu das anspruchsvolle, einen schweren Stand hat, war die Eröffnung einer Buchhandlung eine mehr als mutige Entscheidung. Mit viel Geschick haben die beiden Eigentümer ihr Geschäft – auch dank der dort regelmäßig stattfindenden Lesungen –
zu einer Kiezinstitution entwickelt. Im achten Jahr des Bestehens muss der mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnete Laden nun seine größte Herausforderung bestehen.
Edgar Rai ist jetzt als radelnder Bücherbote unterwegs. Während er mit einer Gruppe von Freiwilligen jeden Nachmittag bestellte Bücher „ausradelt", ist Miteigentümerin Katharina von Uslar mit einer Mitarbeiterin für die Bestellaufnahme und das Verpacken der Bücher zuständig. Gemeinsam trotzen sie dem Lockdown. Mit Kreativität und Enthusiasmus steuern sie durch die Krise, halten ihr Geschäft so gut es geht am Laufen. Katharina von Uslar erzählt, dass sie sehr bald nach der staatlich auferlegten Kontaktsperre beschlossen hatte, den Laden zu schließen. Buchhandlungen wurden zwar von der Regierung als systemrelevant eingestuft und daher von der Zwangsschließung ausgenommen, doch als Mutter war von Uslar schnell klar, dass es keinen Sinn macht, den Laden offenzuhalten. Es sei ihr sonderbar vorgekommen, dass ihre Kinder nicht zur Schule gehen dürfen, sie selbst aber Tag für Tag mit Kunden in engen Kontakt kommt.
Daran, den Verkauf der Bücher ganz einzustellen, haben Katharina von Uslar und Edgar Rai aber nie gedacht. Und so handelten die Buchhändler aus dem Prenzlauer Berg nach der Devise: „Wenn die Leute nicht zu uns kommen können, kommen wir eben zu ihnen."
Kunden bedanken sich mit Geschenken
Wem die Lesevorräte ausgehen, der kann sich jetzt Nachschub liefern lassen. Einfach anrufen oder eine E-Mail mit den Bücherwünschen schicken und schon geht’s los. Theoretisch zumindest. Denn die neue Art des Verkaufs ist extrem aufwendig, weiß von Uslar zu berichten. Viele Kunden vergäßen nämlich schlicht, ihre Adresse anzugeben, mancher bestellt auch Bücher, die aktuell gar nicht lieferbar seien – dann muss von Uslar zum Telefonhörer greifen und nachfragen. Das mache sie gern versichert sie, viel Zeit koste das aber trotzdem.
Auch die Lesegewohnheiten scheinen sich verändert zu haben. Im Ladenverkauf waren vor allem Neuerscheinungen gefragt. Zudem hätten sich viele Kunden vor dem Kauf beraten lassen und seien dann ihren Empfehlungen gefolgt, so die ehemalige Grafikerin. Jetzt müssen sich die Leute „selbst ausdenken, was sie lesen wollen". Das habe, so von Uslar, zur Folge, dass häufig die gleichen Bücher bestellt würden. Fast scheint es als hätten die Menschen beschlossen während der Zwangsauszeit etwas zu lesen, was sie sich schon lange vorgenommen haben. Entsprechend gut laufen die Klassiker. „Der Zauberberg" von Thomas Mann oder „Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil werden jetzt deutlich öfter gekauft als sonst. Auch dicke Schinken schrecken die Leser nicht mehr ab. Offenbar rechnen viele damit, noch länger zu Hause festzusitzen. Nicht verwunderlich ist, dass „Die Pest" von Albert Camus der absolute Renner ist. In dem Roman, der den Verlauf einer Pestepidemie in den 1940er-Jahren in Algerien beschreibt, suchen die Leser offenbar Bezugspunkte zur aktuellen Situation. Zwischenzeitlich war „Die Pest" sogar ausverkauft. Aus anderen Gründen, aber ebenso wenig erstaunlich, gehören auch Kinder- und Kinderlehrbücher zu den Rennern. So mancher Papa und so manche Mama scheinen in ihren Rollen als Lehrer und Lehrerin ein bisschen geschriebene Inspiration und Unterstützung zu brauchen.
Von dem Erfolg ihrer Aktion sind Katharina von Uslar und Edgar Rai selbst überrascht. Von Anfang an stieß ihr Bücherlieferdienst auf zwei Rädern auf positive Resonanz. Sogar ausländische Fernsehstationen berichteten schon über den Buchladen aus Berlin. An manchen Tagen liefert von Uslars Radelkompanie so viele Bücher aus, wie sonst im Ladengeschäft verkauft wurden. Viele Stammkunden bestellen jetzt online. Doch auch Leute, die vorher noch nie in dem Geschäft in der Schönhauser Allee waren, lassen sich per Rad beliefern. Fraglos ist in Zeiten, in denen man in den eigenen vier Wänden gefangen ist, der Lesebedarf besonders hoch. Aber auch ein gewisser Solidarisierungseffekt ist nicht zu unterschätzen. So mancher will einfach einen kleinen Qualitätsbuchladen unterstützen. Zumal sich Branchenjumbo Amazon aktuell alles andere als leserfreundlich zeigt und Bücher von der Prioritätenliste gestrichen hat. Konkret heißt das: Wer jetzt dort bestellt, muss mitunter schon mal zwei Wochen auf die Lieferung warten, weil die Auslieferung anderer Güter Vorrang hat. Da Amazon gleichzeitig eBooks besonders günstig anbietet, darf man vermuten, dass die gegenwärtige Krise zur Umlenkung des Käuferinteresses vom gedruckten zum digitalen Buch genutzt werden soll.
Veränderte Lesegewohnheiten
Mittlerweile ist es Nachmittag geworden. Edgar Rai und seine drei Mitstreiter beladen ihre Räder mit Literatur. Einer fährt Richtung Norden, der andere in den Süden, der dritte nach Westen und der vierte in den Osten – kein Stadtteil Berlins bleibt ausgespart. Miteigentümer Rai setzt sich täglich auf sein Lastenfahrrad. „Das hat uns eine treue Kundin hier aus dem Kiez zur Verfügung gestellt", sagt er. Für Rai ist die Büchertour nicht nur Dienstleistung, sondern zugleich Ersatz für das Work-out im ebenfalls geschlossenen Fitnessstudio. Bis zu vier Stunden ist er unterwegs und besucht dabei auf seinem Weg durch die Stadt bis zu einem Dutzend Kunden.
Einige Freunde und Bekannte beziehungsweise deren unibefreite Kinder treten ebenfalls für „Uslar & Rai" in die Pedale. Auch ein paar Stammkunden sind bereit, für ihre Lieblingsbuchhandlung Fahrradkurier zu spielen. Allesamt sind es Freiwillige, die ohne Entlohnung mit ihrer Beinkraft den Buchladen unterstützen.
Rai berichtet von großer Dankbarkeit seiner Kunden. Jeder freue sich, wenn er ihn sehe, erzählt der groß gewachsene Schriftsteller. Als radelnder Bote wird er sogar besonders herzlich begrüßt, denn dass er den Lesestoff abgasfrei und ökologisch anliefert, sehen viele Käufer als zusätzlichen Bonus. Sogar Geschenke gäbe es manchmal. Ein Fläschchen Eierlikör, Pralinen oder Schokolade. Einmal lagen fünf Euro, auf eine Postkarte geheftet, vor der Tür – auf der Rückseite in zittriger Sütterlinschrift warmherzige Dankesworte.