Immer mehr Leute entdecken die positiven Effekte eines neuen Trends, erst recht bei unsicherer Auslandsreise-Situation: Waldbaden. Wobei: Ist das nicht einfach nur ein Synonym für Naturspaziergang? Ein Marketing-Gag? Wir haben das spezielle „Biophilia"-Angebot eines Hotels am Tiroler Achensee ausprobiert.
Vorhin hat es noch genieselt, und hier und da tropft es noch von den Zweigen, während vereinzelt Sonnenstrahlen durch kleine Wolkenlöcher dringen. Detlef Leickert, dem man seine 51 Jahre nicht ansieht, führt unsere Minigruppe ins Unterautal, das gleich hinter dem am Waldrand gelegenen Hotel „Das Kronthaler" abzweigt. Dort arbeitet er als Fitness- und Yogatrainer, seit einiger Zeit auch als Guide der seit 2016 einmal pro Woche angebotenen Biophilia-Tour. „Biophilia", erklärt Detlef gleich zu Beginn, „setzt sich aus den Worten Bio, also Leben, und Philia, Liebe, zusammen. Es geht also um die Liebe zum Leben. Und die Liebe zur Natur, vornehmlich zum Wald." Andere nennen diesen Trend Shinrin Yoku oder schlicht Waldbaden.
„Ziel ist nicht, durch den Wald zu hetzen oder in Laubhügel zu springen", bremst Detlef meinen Bewegungsdrang. Ganz im Gegenteil: Es gehe um Langsamkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit. „Den meisten fällt es schwer, runterzuschalten", erklärt er und biegt nun auf einen Trampelpfad ab. „Deshalb lade ich euch dazu ein, eure Umgebung zu betrachten. Nutzt alle Sinne: Wie riecht der Wald? Was ist zu hören? Welche Gefühle steigen in euch auf?"
Diese Übung fällt erstmal etwas schwer. Richtig aufregend sieht es hier nicht aus. Halt Bäume und immer wieder Wiese dazwischen. Doch je länger wir durchs Grüne streifen (und dabei merken, wie gelenkschonend es ist, sich auf federndem Wald- und Wiesenboden zu bewegen), desto mehr genieße ich es: keine Begegnung mit Ausflüglern, kein Handy, nichts, das ablenkt. Die Gedanken konzentrieren sich auf Vogelgezwitscher, dichtes Moos am Boden, Wildblumen. Duftet Wald eigentlich immer so würzig nach Erde? Das Tal wirkt plötzlich vielseitiger, intensiver und magischer als auf den ersten Blick.
Terpene kommunizieren mit dem Immunsystem
Detlef hält uns zerriebenen Wiesensalbei unter die Nase, deutet ständig auf Ameisenhügel und Bäume, die wie in einer Art WG ganz nah zusammenstehen – entgegen dem Förstermantra, dass sich die Bäume bei solch enger Distanz gegenseitig das Sonnenlicht wegnähmen. Dann durchqueren wir barfuß den eiskalten Bach und schlagen uns weiter durchs Gebüsch. „Manche", erzählt Detlef, „kriegen Angst, wenn ich sage, wir gehen jetzt abseits der Wege." Offenbar wegen wilder Tiere, Zecken, Spinnen. Derweil sind die Teilnehmer in der Regel alles andere als Keller-Nerds aus der Großstadt. „Die meisten sind durchaus sportlich und wanderfreudig, wollen aber mal neue Perspektiven erleben."
Die vermitteln in jedem Fall interessante Gespräche und bei jeder Tour wechselnde „Experimente". Wie jenes mit der Schlafbrille. Die bekommt Lena als Erste umgebunden, bevor sie ein anderer Teilnehmer behutsam umherführt und sie Zweige, Moose, Steine befühlen lässt – inklusive Schlauwi-Spruch „Fichte sticht, Tanne nicht". Danach dürfen die anderen ran. Ein paar Wegkurven später schickt Detlef uns, wieder sehend, für 20 Minuten in die Botanik. Jeder solle sich ein Plätzchen suchen. Meine Wahl fällt auf einen Baumstumpf. Ich spüre Ameisen am Bein, lausche dem Bach, muss gegen den Handyrausholimpuls kämpfen. Es wird etwas feucht von unten. Und dann mein Atem spürbar langsamer. Om. Einatmen. Ausatmen. Die Duftstoffe der Bäume wahrnehmen.
Zugegeben, Letzteres ist gelogen. Aber Detlef spricht nachher davon. „Sogenannte Terpene – sekundäre Pflanzenstoffe, die auch in ätherischen Ölen enthalten sind – können beim Menschen wie eine Aromatherapie wirken. Sie kommunizieren mit dem Immunsystem. Waldbaden erzielt so einen langfristig positiven Effekt." In diese Richtung argumentiert auch Peter Wohlleben, dessen Bestseller „Das geheime Leben der Bäume" auch verfilmt wurde, sowie eine ganze Reihe Japaner. Die haben den Begriff Shinrin Yoku in den 80ern geprägt und sind auf diesem Gebiet ohnehin Vorreiter: Professor Miyazaki führte 1990 erste Experimente zu den physiologischen Auswirkungen durch. Es folgten Erkenntnisse über die positive Wirkung auf das vegetative Nervensystem. Die Studie, dass es in waldreichen Regionen weniger Krebsfälle gab als in Städten, sorgte weltweit für Aufsehen.
Und nun für so manches Stirnrunzeln in der Gruppe. Detlef bringt ein griffigeres Beispiel, mit den Schirmakazien. „Fängt eine Giraffe an den Blättern dort das Knabbern an, lagern die Akazien innerhalb weniger Minuten Giftstoffe darin ein. Das vertreibt die Tiere, aber nicht nach nebenan, denn auch die umliegenden Bäume haben in kurzer Zeit Bitterstoffe in die Blätter eingelagert." Terpene als Warngas für alle umliegenden Artgenossen!
Schon Immanuel Kant war sich des Einflusses der Natur bewusst
Von diesen Terpenen kennt man heute über 8.000, plus 30.000 verwandte Terpenoide. Und längst ist wissenschaftlich bewiesen, dass auch das menschliche Immunsystem auf diese Botenstoffe reagiert, indem es die Abwehrkräfte stärkt. Ein gerade einmal zwei- bis dreistündiger Waldspaziergang erhöht die Anzahl und Aktivität der natürlichen Killerzellen um 50 Prozent, sagen Wissenschaftler des 2012 (natürlich in Japan) eingerichteten Forschungszweigs „Waldmedizin". Der österreichische Biologe Clemens G. Arvay subsummiert seine Forschungen so: „Ein Waldspaziergang übertrifft die heilenden Effekte eines Wellnessurlaubs."
Noch mehr Erkenntnisse vermittelt sein Buch „Der Biophilia-Effekt – Heilung aus dem Wald", das Tourteilnehmer im Hotel gratis bekommen. Zu lesen sind da noch weitere Argumente, etwa sinkender Blutdruck und entsprechend positive Auswirkung auf das Herz-Kreislauf-System, weniger Adrenalin sowie Depressionssymptome, warum Bäume als effektivste Stressentschleuniger gelten, die wir kennen.
Doch der Wald ist seinerseits gerade arg gestresst, vor allem aufgrund der jüngsten Trockenperioden. Darauf weisen nicht nur Wohlleben und andere Förster hin, sondern auch die Bundesregierung und der Deutsche Wanderverband. „Der Wald als Wirtschafts-, Lebens- und Erholungsraum ist großflächig dabei, dem Klimawandel zum Opfer zu fallen." Da kann neuerliche Zuwendung (und somit gesteigerte Sorgfalt) sicher nicht schaden. Die bieten zunehmend auch touristische Anbieter. Das „Landhaus Bärenmühle" in Nordhessen leistet sich eine ausgebildete „Waldbademeisterin", organisiert Waldessen und Waldmassagen, Grünau im oberösterreichischen Almtal hat sich den Begriff „Waldness" gar schützen lassen und wirbt mit Waldness-Hängematten, Waldkochen und Wald-Wyda, einer keltischen Yoga-Form. Und wer dann wie ich tags darauf – und ganz alleine –
so im Wald sitzt, liegt, kniet, kann Immanuel Kant nachfühlen. Der erkannte schon 1780, dass wir uns beim Anblick der Natur – sei es unterm Sternenhimmel, am Meer oder eben im Wald – als Teil eines größeren Zusammenhangs erleben und uns dabei bewusst werde, wie winzig wir sind. Und andererseits so groß. Kant vermutete, dass uns dieses Gefühl dazu bringt, uns mitmenschlicher zu verhalten. Und uns besser zu fühlen. So als ob die Baumriesen unseren Egoismus schrumpfen lassen.
Fakt ist: Nach einer Weile im Wald verändert sich unsere Wahrnehmung. Ob es dazu nun unbedingt einen Guide braucht oder „Spielchen"? Sicher nicht. Aber ein Impuls wie die Biophilia-Tour hilft durchaus, sich (wieder) in den grünen Bereich zu begeben.