Sollte es zu einer zweiten Corona-Erkrankungswelle kommen und die Kapazitäten von Intensivbetten und Beatmungsgeräten knapp werden, könnte es knapp werden. Zumal gesetzliche Triage-Vorgaben fehlen.
Als sich die Corona-Krise Mitte März auch in Deutschland zuzuspitzen begann, erhielt der Theologie-Professor Peter Dabrock in seiner Funktion als Vorsitzender des Deutschen Ethikrates einen Anruf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Spahn wollte wissen, welchen Standpunkt das von Gesetzes wegen zuständige Beratungsgremium der Bundesregierung in ethischen Fragen vertreten würde, sollte es in Deutschland zu ähnlich dramatischen Entwicklungen kommen wie in den Pandemie-Hotspots Norditalien oder dem Elsass. Dort hatten Schwerstkranke jenseits des 80. Lebensjahres in überlasteten Kliniken mangels verfügbarer Betten- und Beatmungskapazitäten keine Intensivbehandlung, sondern pauschal nur Sterbebegleitung bekommen.
Es ging letztlich um das Thema der Triage. Der Begriff wurde vom französischen Wort „trier" abgeleitet, was in deutscher Übersetzung „sortieren" oder „aussuchen" bedeutet. In klinischen Notaufnahmen ist das Triage-Prinzip längst gängige Praxis, in dem Sinne, dass Patienten, die am dringendsten medizinischer Behandlung bedürfen, auch zuerst an die Reihe kommen. In Katastrophenfällen wie der aktuellen Pandemie kann dieses System allerdings schnell an seine Grenzen gelangen.
Schon einen Tag nach Spahns Anruf nahm Dabrock Kontakt zu den übrigen 25 Mitgliedern des Deutschen Ethikrats auf, innerhalb weniger Tage wurde eine sogenannte Ad-Hoc-Empfehlung unter dem Titel „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise" zu Papier gebracht und am 27. März veröffentlicht. Der Ethikrat deklarierte darin, dass der Staat keine Abwägung von Menschenleben gegen Menschenleben vornehmen dürfe: „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist." Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass stattdessen medizinische Fachgesellschaften diese Entscheidung übernehmen sollten, der Ethikrat sprach wortwörtlich von einer „Primärverantwortung der Medizin", wird nicht jeder nachvollziehen können und wurde beispielweise in einer Stellungnahme des „Forums behinderter Juristinnen und Juristen" als falsch deklariert: „In diesem Sinne weist der Ethikrat den Fachgesellschaften die Aufgabe zu, die Entscheidung der Triage über verfassungsrechtliche Grenzen hinaus zu regeln und damit das wesentliche Fundament, auf dem unsere Gesellschaft fußt, zu missachten. Stattdessen wäre es am Ethikrat gewesen, den Gesetzgeber an seine Pflicht zu erinnern, im Rahmen der verfassungsmäßig zulässigen Kriterien für die Abwägung aufzustellen und diese für die handelnden Personen im Gesundheitswesen für verbindlich zu erklären."
System gerät schnell an seine Grenzen
Doch bislang hält sich der Gesetzgeber komplett bedeckt. Kein Wunder, dass der renommierte Strafrechtler Prof. Tonio Walter, Hochschullehrer an der Universität Regensburg und Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht, dies in einem Gastbeitrag für die „Zeit" heftig kritisiert hatte: „Die Empfehlungen des Ethikrates kranken vor allem daran, dass sie Ärzte für berufener halten, ethische Regeln aufzustellen, als den demokratisch legitimierten Gesetzgeber … Denn für die ethischen Fragen haben Ärzte keine größere Fachkompetenz als wir alle." Laut Walter erlaube es das Grundgesetz dem Staat durchaus, einem Leben Vorrang vor einem anderen einzuräumen und sogar zu entscheiden, „wem Ärzte in der Corona-Krise ein Beatmungsgerät vorrangig zu geben haben."
Er erläutert: „Was das Grundgesetz tatsächlich verbietet, das sind bestimmte Begründungen dafür, einem Leben Vorrang vor einem anderen einzuräumen. Klares Beispiel einer solchen verbotenen Begründung ist das Alter eines Menschen – das die medizinischen Fachgesellschaften daher verfassungsrechtlich zutreffend als Vorrangkriterium ausschließen." Sogar die Priorisierung der Patienten gemäß ihrer Überlebenschance hält Walter mit den Bestimmungen des Grundgesetzes für nicht vereinbar. Als einzigen Ausweg aus dem Dilemma schlug Walter daher eine verblüffende Lösung vor: „Für eine gerechte Entscheidung gibt es nur eine Regel: das Los. Nicht der Wille eines Menschen entscheidet dann, sondern die Majestät des Schicksals oder, für gläubige Menschen, der Wille Gottes … Das gilt in der Corona-Krise allerdings nur, wenn zwei oder mehr Patienten ein Beatmungsgerät sofort brauchen, um zu überleben. Ist der Bedarf eines Patienten dringender als der eines anderen, weil der auch so noch eine Weile durchkommen wird, hat der gefährdete Patient Vorrang."
Dass damit bei weitem nicht alle möglichen Konflikte ausgeräumt werden können, die sich vor allem um die Umverteilung von Beatmungsgeräten drehen, sprich um die Frage, ob einem Patienten ein solches Gerät wieder entzogen werden darf, wenn es einem anderen Erkrankten eine größere Überlebenschance eröffnen würde, musste allerdings auch Walter einräumen. Wobei aus juristischer Sicht und nach dem Ethikrat das Wegnehmen oder Ausschalten eines lebenswichtigen Beatmungsgeräts als Tötungshandlung anzusehen ist, sofern der Patient diesem Prozedere nicht selbst zugestimmt hat. Der Ethikrat geht dabei für Ärzte, die sich dennoch zur Umverteilung von Beatmungsgeräten gezwungen sehen sollten, „im Fall einer möglichen (straf-)rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung" aus.
Niemanden zu Unmöglichem verpflichten
Walter hat diesbezüglich erhebliche Zweifel angemeldet. Auch sein renommierter Kollege Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Strafrecht und Mitglied des Ethikrats, geht in diesem Fall vom Tatbestand „rechtswidriges Töten durch Unterlassen" aus, wie er in einem Interview mit der Online-Ausgabe des „Philosophie Magazins" angemerkt hatte: „Denn Ärzte sind Garanten für ihre Patienten, also grundsätzlich zu deren Rettung verpflichtet, wenn das klinisch möglich ist … Das Recht wird Wege finden, den einzelnen Arzt, der nach juristischen Regeln vielleicht falsch entschieden hat, vor dem Zugriff des Strafrechts zu bewahren. Ob aber eine Vielzahl solcher Entscheidungen nicht einen Prozess der Erosion fundamentaler Rechtsprinzipien in Gang setzen könnte, ist eine beklemmend dringliche Frage." Ins gleiche Horn stieß Walter abschließend in seinem „Zeit"-Beitrag: „Mit welchem Recht setzen wir Ärzte einem Bestrafungsrisiko aus? Und mit welchem Recht schieben wir die Verantwortung zu den Gerichten – die nicht dazu berufen sind, elementare Regeln aufzustellen, sondern dazu, sie anzuwenden. Der Gesetzgeber muss unverzüglich selbst Verantwortung übernehmen." Die derzeitige kleine Corona-Atempause gibt ihm sicherlich etwas Zeit, denn Ende April waren von 30.000 hierzulande verfügbaren Intensivbetten noch rund 13.000 frei.
Der Ethikrat hatte in seinen „Ad-Hoc-Empfehlungen" zwei Triage-Grundkonstellationen aufgezeigt. Wobei die erste, „Triage bei Ex-ante-Konkurrenz" überschrieben, zwar nicht emotional, aber rechtlich vergleichsweise unproblematisch ist. In diesem Fall ist die Zahl der verfügbaren Beatmungsplätze kleiner als die Zahl der Patienten, die einen solchen Behandlungsplatz akut eigentlich benötigen. „Hier gilt der Grundsatz, dass niemand zu Unmöglichem verpflichtet sein kann." Den Ärzten bleibe nichts anderes übrig, als im Sinne von begründeten Kriterien die tragischen Entscheidungen zu treffen. Weitaus schwieriger stellt sich die „Triage bei Ex-post-Konkurrenz" dar, bei der sämtliche Beatmungsplätze belegt sind. Wird nun ein weiterer Patient eingeliefert, der durch die Zuteilung eines Gerätes gerettet werden könnte, kann sich das Problem der Extubation eines bereits Beatmeten mit weniger Überlebenschancen stellen. Dabei handelt es sich juristisch gesehen um vorsätzliches, aktives Töten. „Das kann die Rechtsordnung nicht hinnehmen", so Merkel. „Wer bei der Ex-ante-Triage nicht gerettet werden kann und deshalb sterben muss, wird nicht getötet. Sehr wohl wird dies aber, wer bereits gerettet ist und nun zugunsten eines Dritten aus der Prozedur, die sein Überleben gewährleistet, etwa die künstliche Beatmung, aktiv entfernt wird. Hier verdrängt das Recht zwingend jede abweichende Ethik." Reinhard Merkel machte darüber hinaus auch noch auf eine dritte Triage-Grundkonstellation aufmerksam, die zwischen den beiden anderen angesiedelt ist: Dass Beatmungsgeräte ganz bewusst für Patienten mit hohen Überlebenschancen freigehalten und nicht an eigentlich bedürftige Erkrankte mit geringen Heilungsmöglichkeiten vergeben werden. „Diese Form der Triage wird in Italien, Frankreich und wohl auch in Spanien schon praktiziert." Und könnte auch in Deutschland im Falle einer zweiten Corona-Welle zur Anwendung kommen.