Da er das Thriller-Genre wie kaum ein anderer geprägt hat, gilt der vor 40 Jahren verstorbene Alfred Hitchcock vielen als bester Regisseur der Filmgeschichte. Sein Name bürgte so sehr für Qualität, dass dieser sogar beim Filmtitel mitgenannt wurde.
Brian de Palma, der im Hollywood-Kino als größter Verehrer des unbestrittenen Thriller-Königs galt, hat einmal würdigend gesagt, dass Alfred Hitchcock im Filmgenre die gleiche Ausnahmestellung als absoluter Autorität einzuräumen sei wie dies für Johann Sebastian Bach in der Musik zu gelten habe. Umso erstaunlicher, dass es die Academy of Motion Picture Arts and Sciences geradezu fahrlässig versäumt hatte, dem „Master of Suspense", dem Großmeister der Hochspannung, einen Regie-Oscar für einen seiner insgesamt 53 in fünf Lebensjahrzehnten geschaffenen Filme zu verleihen. Insbesondere, da „Vertigo" inzwischen laut den international renommiertesten Cinema-Kritikern als bester Film überhaupt anzusehen ist. Auch sein kommerziell erfolgreichster Film, „Psycho", genießt bis heute Kultstatus.
Sechsmal war Hitchcock für den Goldjungen nominiert, doch er ging stets leer aus. Hitchcock kommentierte das sarkastisch mit den Worten: „Immer nur Brautjungfer, nie die Braut." Dass ihn das American Film Institute im März 1979, knapp ein Jahr vor seinem Tod am 29. April 1980 in Los Angeles infolge von Nierenversagen, mit einem „Life Achievement Award" für sein Lebenswerk ehrte, dürfte für den legendären Regisseur kaum mehr als ein Trostpreis gewesen sein. Andere überhäuften ihn, der sich auch als Produzent, Filmeditor und Drehbuchautor große Meriten verdient hat, dagegen mit allerlei Ehrungen, und in seinem Todesjahr erhob ihn die Queen gar in den Ritterstand.
Alfred Joseph Hitchcock, Spitzname „Hitch", wurde am 13. August 1899 als drittes Kind des Gemüsehändlers William Hitchcock und dessen Ehefrau Emma Jane im heute zu London gehörenden Leytonstone geboren. Nach dem Besuch einer Jesuitenschule, die er schon im Alter von knapp 14 Jahren verließ, fand er seine erste berufliche Anstellung 1915 bei einer Firma für elektrische Leitungen und wurde dort dank seines zeichnerischen Talents in der Werbeabteilung eingesetzt. Auch seinen ersten Job in der jungen Kinobranche verdankte er seinen künstlerischen Fähigkeiten und durfte ab 1920 Zwischentitel für Stummfilme zeichnen. Bald schon wurden ihm auch Aufgaben wie das Entwerfen von Kostümen, Dekorationen oder Szenenbildern übertragen. Schließlich wurde er in Regiearbeiten eingebunden und durfte 1925 in Deutschland seinen ersten eigenen Film „Irrgarten der Leidenschaft" drehen. Ein Jahr später heiratete er die Cutterin Alma Reville, die ihm 1928 die Tochter Patricia schenkte, und stieg im Laufe der 1930er-Jahre mit Thrillern wie „Der Mann, der zuviel wusste" 1934 oder „Eine Dame verschwindet" 1938 zum bekanntesten britischen Regisseur auf.
Zeitzeugen attestierten Hitchcock eine sadistische Ader
Bevor Alfred Hitchcock mit seinen „Suspense"-Thrillern das Kino der psychologischen Tiefe begründet hatte, steckte es noch in den Kinderschuhen. Es gab zwar in den 1920er-Jahren schon erste Detektivfilme, an deren Seite sich in den 1930er-Jahren auch die ersten Gangsterfilme gesellten. Ihnen fehlte allerdings allesamt der psychologisch ausgearbeitete Thrill rund um die Verbrechen. Dies änderte Hitchcock. In den Jahrzehnten seines Schaffens feilte Hitchcock kontinuierlich daran, seine Handschrift zu perfektionieren – angefangen von „Der Mieter" 1927 bis zu seinem letzten Werk „Familiengrab" 1976. „Ich möchte dem Publikum heilsame moralische Schocks versetzen", sagte Hitchcock. „Die Zivilisation nimmt uns heute so in Obhut, dass es nicht mehr möglich ist, sich instinktiv eine Gänsehaut zu besorgen." Sein dafür bevorzugtes Stilmittel war der sogenannte Suspense-Effekt. Im Wesentlichen beruht dieser darauf, dass der Filmbetrachter besser informiert ist als die handelnden Hauptakteure auf der Leinwand. Dadurch meint der Zuschauer, mögliche Gefahren vorab zu erahnen und würde am liebsten die Protagonisten davor warnen. Er wird dadurch viel stärker in die Handlung involviert, und es wird bei ihm langsam aber stetig ein atemloser Spannungsbogen aufgebaut. Dabei werden ganz bewusst urmenschliche Emotionen geschürt – vor allem Furcht, Phobien, Verlustängste oder voyeuristische Gelüste.
Allesamt Phänomene, die auch aus der Psychoanalyse bekannt sind, für die sich Hitchcock sehr früh interessiert hatte. Sein Film „Ich kämpfe um Dich" aus dem Jahr 1945 etwa beschäftigt sich explizit mit Sigmund Freuds Erkenntnissen rund um die menschliche Seele. Es wird vermutet, dass Hitchcock die großen Ähnlichkeiten zwischen dem Zustand des Filmschauens und dem Traumzustand erahnt hat, dass er seine Protagonisten neurotische Konflikte auf der Leinwand austragen ließ, die tief verborgene Gefühle – vor allem die Angstlust – beim Betrachter wecken konnten.
Ein häufig wiederkehrendes Motiv in Hitchcocks Œuvre, das im Nouvelle Vague-Frankreich glühende Bewunderer mit Claude Chabrol und François Truffaut an der Spitze fand, war dabei der unschuldig Verfolgte, dem der Verlust der bürgerlichen Existenz drohte. Auch um den Themenkreis Schuld, Sühne und Bestrafung rankten sich viele seiner Geschichten, deren Höhepunkte häufig an schwindelerregenden Schauplätzen stattfanden. Gemeinhin wird heute auch angenommen, dass Hitchcock beim Filmemachen zudem eigene Kindheitserlebnisse, Obsessionen, Fantasien oder verdrängte Sehnsüchte verarbeitet hat. Zeitzeugen attestierten ihm eine sadistische Ader, was sich auf der Leinwand häufig in einer Verknüpfung von Sex und Gewalt in Würge-, Fesselungs- und Vergewaltigungsszenen niederschlug. Ein solch brutaler Missbrauch wie im Film „Marnie" 1964 hatte es in der Filmgeschichte bis dahin selten gegeben. In seinem letzten großen Leinwanderfolg „Frenzy" 1972 ließ er die Kamera geradezu lustvoll extrem schockierende Frauenmorde einfangen.
Jede Szene wurde bis ins Kleinste geplant
Apropos Frauen: Bezüglich der Rollenvergabe seiner Protagonistinnen war Hitchcock geradezu manisch auf den Typus der kühl-unnahbaren Blondine festgelegt – von Grace Kelly bis Ingrid Bergmann. Wobei er sich auch abseits des Sets in das Privatleben seiner Schauspielerinnen einzumischen versuchte, indem er ihnen Vorgaben bezüglich Garderobe oder Styling machte und auch vor zudringlichen Annäherungsversuchen wie bei Tippi Hedren, seiner Hauptdarstellerin in „Die Vögel" und „Marnie", nicht zurückschreckte. Aber die berühmten Damen, die vor der Kamera mit ebenso bekannten Herren wie James Stewart oder Cary Grant zusammenarbeiteten, haben den schon in Kindertagen wegen seiner Korpulenz gemobbten und im Alter dank reichlich Alkoholkonsum und üppigen Mahlzeiten kugelrunden Regisseur mit der unvermeidlichen Zigarre zwischen den Fingern allesamt abblitzen lassen.
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hielt Hitchcock beim Filmemachen nichts von Improvisation. Er bereitete vielmehr die Dreharbeiten geradezu akribisch mittels Skizzen für jede Szene vor, wobei ihm seine Kurse in technischem Zeichen an der Londoner Kunstakademie aus seiner Nachschulzeit sehr zugutekamen. „Wenn ich das Drehbuch fertig und den Film auf Papier entworfen habe", sagte Hitchcock, „ist für mich der kreative Teil erledigt, und der Rest ist nur noch langweilig". Was allerdings tricktechnische Innovationen wie den sogenannten Vertigo-Effekt nicht ausschloss, bei dem zur Visualisierung der Höhenangst der Rückwärtszoom zeitgleich mit der sich auf das Objekt zubewegenden Kamera verwendet wurde.
Schwarze Komödie „Immer Ärger mit Harry"
Der Ruf aus Hollywood in Gestalt des Produzenten David O. Selznick kam 1939. Mit dem Melodram „Rebecca" legte er dort ein Jahr später einen gelungenen Start hin. 1941 kehrte er mit dem Streifen „Verdacht" zu seinem präferierten Genre zurück. Der Krimi „Cocktail für eine Leiche" sollte 1948 sein erster Farbfilm werden. Kommerziell wesentlich erfolgreicher wurde jedoch sein Thriller „Der Fremde im Zug" 1951. 1955 erlaubte er sich einen Ausflug in das Komödienfach mit dem Streifen „Immer Ärger mit Harry". Aber um diese Zeit entstanden auch in schneller Abfolge eine ganze Reihe von Kultfilmen, mit denen sich der Meister unsterblich machte: „Das Fenster zum Hof" 1954, „Über den Dächern von Nizza" 1955, „Vertigo – Aus dem Reich der Toten" 1958, „Der unsichtbare Dritte" 1959, „Psycho" 1960 oder „Die Vögel" 1963. Nebenbei gelang es ihm, die Popularität der Marke und Person Hitchcock auch durch zwischen 1955 und 1965 ausgestrahlte eigene US-TV-Shows zu steigern, obwohl die meisten Kinozuschauer sein Gesicht schon durch die kurzen Cameo-Auftritte in vielen seiner Kinofilme kannten. Nach etlichen triumphalen Jahren war der Misserfolg von „Marnie" an den Kinokassen 1964 ein unerwarteter Rückschlag, von dem sich Hitchcock, der seit 1955 die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, künstlerisch nicht mehr so recht erholen sollte.