Vor einem großen Orchester auf der Bühne zu stehen, ist eine Aufgabe, die der Weltklasse-Flötist Emmanuel Pahud souverän meistert. Ein Gespräch mit dem Philharmoniker über Träume, Afrika und tägliche Fingerübungen.
Nach 30 Tagen ohne seine Goldflöte muss sich auch ein Vollprofi wie Emmanuel Pahud wieder an den perfekten Ton herantasten. Dank eines Rückholflugs aus Kenia auf Berliner Boden übt er in der Quarantäne die „24 Bach-Studien für Flöte solo": „Das Gefühl war erst mal gar nicht so schlecht, aber dann habe ich gemerkt, wie lang der Weg doch wieder ist", sagt er und fügt an: „Ein berühmter Geiger wurde einmal gefragt, warum er noch jeden Tag übe: ‚Wenn ich einen Tag nicht übe, höre ich es; wenn ich zwei Tage nicht übe, hören es meine Kollegen und nach drei Tagen auch das Publikum." Und es gäbe Schlimmeres, als sich jeden Tag eine Stunde mit Bach zu beschäftigen, lacht Pahud.
Das kurze Sabbatical, das sich der Soloflötist bei den Berliner Philharmonikern in der ersten Saison mit Kirill Petrenko zum 50. Geburtstag schenkte, war nicht ganz so geplant. Eigentlich wollte er mehrere afrikanische Länder bereisen, saß aufgrund der Corona-Epidemie jedoch im Amboseli-Nationalpark fest –
und fotografierte fleißig wilde Tiere. Seine Ausbeute präsentierte er zur Freude seiner Fangemeinde täglich in den sozialen Medien. „Aus dem fest gebauten Zelt konnte man sogar nachts beobachten, wie sich die Tiere begegnen, teilweise auch jagen. Aber wenn sie satt sind, strahlen sie nichts aus, was anderen Tieren Angst einjagen könnte", berichtet er. Der friedliche und leise Umgang in der Natur habe ihn beeindruckt, aber auch die Fröhlichkeit der Menschen. „Bei den Massai habe ich bewundert, wie sie singen; der Rhythmus, das Tanzgefühl und wie sie lange Strecken laufen können. Alles ist geprägt vom Respekt voreinander. Das ist, was uns die Natur dort bietet und lehrt."
Nun also wieder Bach in Berlin, doch vom üblichen Konzertbetrieb muss der französisch-schweizerische Flötist weiterhin Abstand nehmen. Sein für Ende Mai angesetzter prominenter Auftritt mit dem Chatschaturjan-Flötenkonzert an drei Abenden in der Philharmonie wird nicht stattfinden. In der Zwischenzeit steht er in regem Kontakt mit seinen Kollegen, um Covid-19-taugliche Projekte für die nächsten Monate zu entwickeln. „Gastspiele, angereiste Dirigenten und Musiker kann man vergessen, aber Rezitale und Kammermusik in kleiner Besetzung können wir schaffen." Ergänzt mit Aufzeichnungen aus früheren Veranstaltungen entwickeln sie die Berlin Phil Series für ihre Online-Plattform „DigitalConcertHall.com"; bei der Episode „Vive la France!" war Pahud natürlich mit dabei.
Er ist froh, in einem kulturellen Zentrum wie Berlin zu leben. 1992 kam er in die Bundeshauptstadt und wurde als damals jüngstes Mitglied unter Claudio Abbado zum Soloflötisten berufen. Kaum ein anderer Orchestermusiker pflegt jedoch zusätzlich ein solch international ausgerichtetes Tourneeleben. Vielleicht liegt es daran, dass seine Eltern ihn und seinen jüngeren Bruder schon früh an Umzüge gewöhnten: von Genf, wo Pahud geboren ist, nach Bagdad, Paris, Madrid, Brüssel und Rom. Dort hörte der damals Vierjährige aus einer Nachbarwohnung zum ersten Mal die Querflöte und wollte das Instrument daraufhin unbedingt selbt lernen. Das Reisen mag er aus seinem Leben nicht mehr wegdenken. In dieser Konzertsaison ist er Artist-in-Residence in München und Winterthur, geplant sind Festivalauftritte in der Toskana sowie am von ihm mit gegründeten „Festival de Salon" in der Provence. Mit dem Bläserensemble Les Vents Français gastiert er ebenso wie mit dem Pianisten Éric le Sage. Und natürlich ließ er es sich nicht nehmen, in der Salzburger Mozartwoche musikalisch in seinen Geburtstag, den 27. Januar, hineinzufeiern – ein Datum, das er mit Mozart teilt. Charisma, Einfallsreichtum und Freiheitsliebe scheinen ihn mit diesem ebenfalls im Sternzeichen des Wassermanns Geborenen zu verbinden. „Ich kann nichts dafür", sagt er entwaffnend. Tatsächlich hätten ihm Verwandte einmal ein Horoskop präsentiert – „War alles okay", so Pahud trocken. Demnach gehöre er zu den Menschen, die eher Glück im Leben hätten. „Was man hat, das soll man akzeptieren und damit leben", sagt er, „und das, worauf man Einfluss nehmen kann, soll man für sich selbst und seine Mitmenschen gestalten, aber das ist nichts Neues."
Ende August erscheint die neue CD „Airlines"
Seine Ideen setzt er tatkräftig um. Die Liste der von ihm erschienenen Einspielungen ist beachtlich. „Es sind gelebte Visionen, die bleiben nicht unerreichbar, sondern sie haben Form angenommen", begründet er seinen Schöpferdrang, zu dem auch eigene Transkriptionen klassischer Werke gehören. Musiker seien es gewohnt, sich mit anderen Realitäten zu beschäftigen und diese Träume, die von Genies geschaffen worden seien, zu verkaufen. Seine letzte CD „Dreamtime" ist eine Hommage an Komponisten wie Penderecki, Reinecke oder Takemitsu, die die Flöte für diese Traumkomponente einsetzten. „Dank der Suggestivkraft und des vergänglichen Wesens ihres Klanges ist die Flöte über alle Epochen hinweg ihr Lieblingswerkzeug", schreibt Pahud im Booklet zu „Dreamtime". „Im Idealfall nimmt dieser Traum durch den Atem des Interpreten Gestalt an, berührt die Zuschauer – die das Ganze wiederum mit ihrer eigenen Vorstellungswelt und Realität füllen – und lädt sie ein, in die Traumwelt der Meister einzutauchen."
Doch Emmanuel Pahud träumt nicht und arbeitet weiter die Liste von 50 CD-Vorschlägen ab, die er 1995 seinem Label Warner Classics vorgestellt hatte. Ende August kommt „Airlines", eine Kooperation mit dem Orchestre National de France auf den Markt. „Airlines" ist auch der Titel einer Komposition für Soloflöte, die der bekannte Filmkomponist Alexandre Desplat dem Vielflieger Pahud gewidmet hat. Zudem dirigiert der zweifache Oscar-Gewinner seine eigenen Orchestersuiten aus „Harry Potter", „The Grand Budapest Hotel" oder „Das Mädchen mit dem Perlenohrring". Der Flötist steht wiederum in Desplats Symphonie Concertante „Daphnis und Chloe" im Mittelpunkt. Über 20 Jahre hat sich Desplat mit der Erzählung dieser unglücklichen Liebesgeschichte beschäftigt, bevor er sie als eigene Version zu Papier brachte. Da er selbst ausgebildeter Flötist ist und sich die beiden bereits in Paris in einer Holzbläserwerkstatt begegnet waren, lag der Interpret für ihn nahe. Es sind genau diese menschlichen Beziehungen, die auch Pahud vorantreiben.
Der bei all dem Wirbel bodenständig geblieben ist. „Shit happens" antwortete er einer Studentin, die ihn bei einer New Yorker Masterclass fragte, wie sie mit dem Lampenfieber umgehen solle. „Man muss vor nichts Angst haben, niemand bringt dich um, tue dein Bestes." Er habe das mit 15, als er bei internationalen Wettbewerben antrat und sie gewann, für sich beschlossen: „Es ist eine Frage des Selbstvertrauens. Wenn du auf diese Bühne gehst, dann bist du der König der Welt. Zumindest musst du das fühlen. Wenn andere Leute es nicht tun, dann ist es ihr Problem. Aber du musst sie natürlich davon überzeugen."