Klaus Doldinger ist Deutschlands erfolgreichster Jazzmusiker. Auf seinem neuen Passport-Album „Motherhood" bekommt er Unterstützung unter anderem von Udo Lindenberg und Joo Kraus. Im Interview verrät er, wie er vor 50 Jahren Udo Lindenberg entdeckte und weshalb er nie nach Hollywood wollte.
Herr Doldinger, Ihre erste Jazzrockband hieß The Motherhood. Sie spielte zwischen 1969 und 1970 zwei LPs ein, die längst vergriffen sind und die Sie jetzt mit Passport teilweise neu aufgenommen haben. Sind diese Stücke zeitlos?
Zeitlos wäre jetzt übertrieben, aber es kommt immer darauf an, was man letztlich daraus macht. Ich hatte das Gefühl, dass sie mit einer fortgeschrittenen Spielweise noch spielbar sind und auch Spaß machen. Das hat sich im Studio jetzt gezeigt.
Hatte The Motherhood das Image einer coolen und hippen Band?
Schwer zu sagen, weil ich mich kaum daran erinnere. Wir haben in dieser Besetzung nicht oft gespielt, weil ich zeitgleich mit dem Doldinger Quartett ein gutes Standing hatte. Motherhood wurden eigentlich erst richtig bekannt zu der Zeit, als bereits meine nächste Band Passport entstand. Es war aufregend, dass es überhaupt möglich war, innerhalb kürzester Zeit etwas auf den Weg zu bringen, was als ganz neu aufgenommen wurde.
Steven Soderberg hat sich das The-Motherhood-Stück „Soul Town" für seinen Film „Ocean’s Thirteen" ausgesucht. Was gefiel ihm daran?
Ich habe keine Ahnung. Der Film ging an mir vorbei (lacht).
War The Motherhood Ihre Idee von einem modernen Sound?
Ich habe mich damals nicht hingesetzt, um unbedingt etwas Modernes zu machen. Es hat sich einfach aus dem Spielgefühl heraus ergeben. Musikalisch passierte eine ganze Menge seit den 60er-Jahren. Es war eine ganz besondere Zeit.
Stand The Motherhood für ein bestimmtes Lebensgefühl?
Das würde ich schon sagen, aber ich habe es nicht bewusst aus mir herausgekitzelt. Ich hatte 1960 geheiratet und auch meine Frau Inge ging neue Wege. Sie war ein erfolgreiches Model. 1970 kam unser erstes Kind auf die Welt. Inge war zu dem Zeitpunkt voll in Bewegung und musste dann erst mal kürzertreten.
Das Debüt von The Motherhood erschien im Woodstock-Jahr 1969. Konnten Sie sich mit den Blumenkindern identifizieren?
Ich war kein Hippie, aber Woodstock hatte mich sehr beeindruckt. Ich bin in der Düsseldorfer Künstlerszene aufgewachsen. 1966 sind wir nach München gezogen, wo sich bei uns rein gefühlsmäßig einiges verändert hat. Insofern habe ich die ganzen Begleitumstände dieser Zeit nicht so intensiv miterlebt. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, der von der Musik bestimmt war. Damals ist nicht nur der Free Jazz entstanden; auch der Modern Jazz befand sich im Umbruch. Das hat einen natürlich mitgerissen.
Wie haben Sie damals gelebt?
Relativ normal, es gab an unserer Lebensweise nichts Außergewöhnliches.
Beim Jazzrock verbinden sich die Raffinesse des Jazz mit der rhythmischen Intensität des Funk und der Kraft der Rockmusik. Ist der Begriff Jazzrock aus Amerika nach Deutschland rübergeschwappt?
Es passiert auch viel in Deutschland. Eine Band wie Amon Düül fand ich beeindruckend. Ich hatte Umgang mit einigen Musikern aus dieser Szene, wie Lothar Meid und Olaf Kübler. Bewegend, was sich damals schon im deutschen Umfeld tat.
Waren Sie bestrebt, einen eigenen, deutschen Jazzrock-Sound zu finden, der sich von amerikanischen Vorbildern abhob?
Mir ging es darum, eigene Stücke zu komponieren, die einen eigenen Sound hatten und sich von der Gesamtszene absetzten. München war zu dem Zeitpunkt ein inspirierender Ort, weil es eine bewegte Musikerszenerie hatte. Das war bemerkenswert. Die Stadt an sich besaß eine ganze Menge Spielorte und Festivals. Mit The Motherhood sind wir zum Beispiel im Domicile in Schwabing aufgetreten.
Wie sind Sie aufgetreten?
Wir hatten keine besondere Show, sondern wir haben einfach gespielt. Wenn eine Band wie Amon Düül auf die Bühne sprang, trugen die natürlich besondere Kleidung. Das war für mich nicht notwendig.
Wurde auch bei Ihren Konzerten im Publikum viel gekifft?
Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht hat es der eine oder andere getan, aber da wurde keine große Nummer draus gemacht.
Udo Lindenberg lernten Sie 1969 auf Empfehlung von Michael Naura vom NDR kennen. Wie erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit ihm?
The Motherhood war die erste bekanntere Formation, die seinerzeit mit Udo auf die Bühne sprang. Ende der 60er-Jahre hatte ich noch mein Quartett, und dann stieg plötzlich unser Schlagzeuger aus. Daraufhin rief ich Michael Naura vom NDR an und bat ihn um einen Tipp. Er empfahl mir diesen jungen Typen aus Gronau. Es stellte sich bereits beim ersten Telefonat heraus, dass Udo und ich einen guten Draht zueinander hatten. Um mich persönlich kennenzulernen, kam er zu uns nach Icking, ein Vorort von München in Alpennähe. Ich habe ihn sofort engagiert, und er hat dann zwei Jahre lang bei mir getrommelt. Ich entsinne mich an ein Konzert in der Tschechoslowakei, zu dem wir zu zweit im Bus angereist sind. Da waren sein Schlagzeug und mein Saxofon drin. Es war sehr witzig, mit Udo unterwegs zu sein.
War Udo Lindenberg damals auch schon so locker wie heute?
Absolut, aber er wollte zuerst nicht singen. Er war ausschließlich als Trommler bei mir.
War es Ihre Idee, ihn schließlich doch bei ausgewählten Stücken englische Texte singen zu lassen?
Nein, das hat er aus sich selber heraus geschöpft. Ich habe ihn natürlich gefragt, wann er denn jetzt mal singen würde, aber das passierte anfangs nicht. Nach mir hat er es dann umso mehr getan.
Wie haben sich die Platten von The Motherhood verkauft?
Erfreulich gut. Aber ich habe die Verkaufszahlen nie wirklich verfolgt. Es lief jedenfalls so gut, dass Siggi Loch den Wunsch hatte, mich weiter zu produzieren. Somit war ich der erste Künstler in Deutschland, der bei der Firma, die heute Warner Music heißt, engagiert wurde.
War Klaus Doldinger’s Passport die Weiterentwicklung von The Motherhood?
The Motherhood war vokalorientiert, die frühen Passport-Platten hingegen waren rein instrumental. Sie klangen sogar noch moderner.
Sahen Sie sich selbst als Jazzrock-Band?
Das habe ich anderen überlassen. Ich habe keine Lust verspürt, dem, was ich machte, einen Namen zu geben. Ich fand den Begriff „Jazzrock" für uns okay, aber er ist eher oberflächlich.
Warum wurde als Autor der meisten The-Motherhood-Stücke Ihr Pseudonym Paul Nero genannt?
In der kommerziellen Richtung war ich Paul Nero. Das waren Platten mit Hitnummern aus dem internationalen Erfolgsrepertoire. Unter dem Namen Paul Nero bin ich nur ein einziges Mal auf die Bühne gesprungen. In frühen Jahren in Hamburg.
Wurde damals strikt getrennt zwischen anspruchsvoller Musik und populärer Unterhaltungsmusik?
Ich habe damals Stücke ausgesucht, die in das Konzept passten. In erster Linie Erfolgsnummern aus dem internationalen Repertoire. Für die Produktion kamen extra drei britische Sängerinnen rüber. In frühen Jahren habe ich auch schon Filmmusik und Titelmusiken für alle möglichen Fernsehshows gemacht. 1970 habe ich die Erkennungsmelodie für die Reihe „Tatort" geschrieben. Der erste hieß „Taxi nach Leipzig". Peter Schulze-Rohr war der Regisseur.
Ist es wahr, dass Udo Lindenberg bei der „Tatort"-Melodie trommelt?
Das hat er mal gesagt, ich bin mir aber nicht so sicher, ob er bei der Nummer wirklich der Trommler war. Ich habe die Musik zum Vorspann komponiert und anschließend aufgenommen. Bis heute habe ich an die 40 „Tatort"-Folgen vertont. Ich wollte da immer wieder Spannung reinbringen.
Zurück zu Ihrem neuen Album: Das Original des Stücks „Locomotive" findet sich auf der Passport-LP „Ataraxia" von 1977. Diese Platte ist auch auf dem DDR-Label Amiga erschienen. 1979 sind Sie sogar einmal in der DDR aufgetreten. Wie kam es dazu?
Zu dem Zeitpunkt war das möglich und deshalb habe ich es getan. Meine Großmutter lebte in Eisenach, weshalb ich gern in der DDR war. Aber es gab dort für mich nur diese eine Spielmöglichkeit.
Hatten Sie das Gefühl, dass die Stasi Sie auf Schritt und Tritt verfolgte?
Das war mir egal. Da wir weltweit unterwegs waren, war es mir ganz recht, dass wir nicht öfter in der DDR gespielt haben. Bei Tourneen ging immer sehr viel Zeit drauf.
1969 tourten Sie mit einem alten VW-Bus durch Afghanistan. Gab es dort überhaupt ein Publikum für Jazz made in Germany?
Na klar. Das war sogar ein sehr nettes Publikum. Die Tour ging vom Goethe-Institut aus. Die fanden es gut zu hören, dass wir erfolgreich in Chile, Südafrika oder sonst wo gespielt hatten. Die Reiserei durch diese Länder war natürlich sehr aufregend. Ständig wechselte man zwischen Rechts- und Linksverkehr. Afghanistan war damals schon ein gefährliches Land, aber es ging zum Glück gut.
Ist es wahr, dass Nesuhi Ertegun Sie persönlich für den US-Markt unter Vertrag nahm – der Mann, der John Coltrane, Charles Mingus und Ray Charles produziert hatte?
Ja. Aber ich habe nicht über eine Karriere in Amerika nachgedacht. Nesuhi hat uns in Bayern besucht und uns nach New York eingeladen. Wir sind auf Konzerte gegangen, die er veranstaltet hatte. Nesuhi und Ahmet Ertegun waren sehr tatkräftige Brüder. Ich habe gern mit ihnen gearbeitet.
Warum sind Sie damals nicht in die USA übergesiedelt, um von dort aus eine Weltkarriere zu starten?
Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aber ihn nicht in die Tat umgesetzt. Es war mir dann doch zu kritisch, weil die amerikanische Szene immer sehr unruhig war. Ich wollte nicht monatelang auf den ersten Gig warten. In Deutschland konnte ich ja dauernd arbeiten. 1960 und 1985 habe ich Amerika-Tourneen absolviert, aber das war nicht maßgebend.
Sie sind ja auch im Vorprogramm von Miles Davis aufgetreten. War es eine denkwürdige Begegnung?
Das war in Montreux und auf einem Festival in Südfrankreich. Dort herrschten chaotische Zustände, aber ich fand es wunderbar, so viele Musiker auf einen Schlag zutreffen.
Mit Wolfgang Petersen begannen Sie 1974 eine erfolgreiche Zusammenarbeit, die durch Filme wie „Das Boot" und „Die unendliche Geschichte" gekrönt wurde.
Entscheidend für mich war, dass Wolfgang Petersen Regie führen sollte. Er wollte mich von Anfang an für die Filmmusik haben. Wir haben dann auch im Wesentlichen zusammengearbeitet. Ich lernte die Schauspieler kennen und war bei den Dreharbeiten ab und zu dabei. Ein tolles Erlebnis, aber nicht entscheidend für alles andere.
Sie haben als Kind miterlebt, wie Wien von den Alliierten bombardiert wurde. Wie erinnern Sie sich daran?
Wir wohnten außerhalb und hatten von dort einen Blick auf die ganze Stadt. Es fiel ab und zu eine Bombe, und aus Sicht eines Achtjährigen war das spannend. In Wien wurde nicht so viel zerstört wie zum Beispiel in Düsseldorf.
Wie denken Sie als jemand, der Vertreibung und Flucht am eigenen Leibe erfahren hat, über den gegenwärtigen Rechtsruck in diesem Land?
Das empfinde ich nicht so. Es gab in Deutschland immer schon Menschen mit rechter Einstellung. Jede Gesellschaft hat ihre Schattenseiten. Es ist bedauerlich, dass es da heute wieder ein bisschen mehr Auftrieb gibt, aber ich würde es nicht überbewerten.