Renommierte Virologen warnen vor einer zweiten Ausbruchswelle infolge der jüngsten Lockdown-Lockerungsmaßnahmen. Aus rein epidemiologischer Sicht sind diese eigentlich nicht zu verantworten.
Ziemlich ungewöhnlich, dass sich die Bundeskanzlerin in der Öffentlichkeit dermaßen echauffiert und ihre Unzufriedenheit bezüglich der vor allem von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Christian Lindners FDP geschürten „Öffnungsdiskussionsorgien" publik gemacht hatte. Mit Sätzen wie „Der Spielraum ist klein", „Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen" oder „Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern noch ganz am Anfang" versuchte sie zu erklären, warum die Lockdown-Beschränkungen nur behutsam etwas aufgeweicht werden können. Unterstützung für ihren vorsichtigen Kurs erhielt sie aus den eigenen CDU-Reihen besonders durch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmar, nach dessen Dafürhalten die beschlossenen Lockerungsmaßnahmen „an die Grenze dessen gehen, was verantwortbar ist". Einhelliges Lob konnte Angela Merkel von prominenten Virologen wie Prof. Christian Drosten von der Berliner Charité oder Prof. Michael Meyer-Hermann, dem Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, einheimsen, die zähneknirschend den neuen Semi-Lockdown zur Kenntnis genommen hatten. Selbst das Robert Koch-Institut (RKI) hatte sich zu der bemerkenswerten Stellungnahme veranlasst gesehen, dass aus epidemiologischer Sicht die strengen Auflagen eigentlich hätten aufrechterhalten werden müssen, aber man habe halt auch „gesellschaftliche Aspekte" berücksichtigen müssen.
Weite Teile der deutschen Bevölkerung scheinen die Bedenken der Wissenschaftler nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Vielmehr hatte man den Eindruck, dass die erlaubte Wiedereröffnung von Läden bis zu einer Flächengröße von 800 Quadratmetern und das langsame Wiederhochfahren der Wirtschaft häufig als Zeichen missverstanden wurde, dass das Schlimmste in Sachen Corona-Krise schon überstanden sei. Zwar war der befürchtete Shopping-Ansturm in den deutschen Fußgängerzonen ausgeblieben, und selbst zu riesigen NRW-Möbelhäusern, die ihre Türen mit Sondergenehmigung und dank Armin Laschets bizarrer Begründung, dass die Rhein-Ruhr-Region ein Land der Küchenbauer sei, hatten öffnen dürfen, hatte keine Massenwanderung eingesetzt. Aber dennoch machte sich unverkennbar ein gewisses Maß von Sorglosigkeit breit, was die politischen Verantwortlichen offenbar zum Anlass genommen hatten, die lange Zeit wenig geliebte Maskenpflicht beim Einkaufen und beim Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel in sämtlichen Bundesländern anzuordnen.
Ein weiterer Grund, die wochenlang weitgehend eingehaltenen Vorsichtsregeln etwas schleifen zu lassen, war neben der vermeintlich beruhigend großen Zahl freier Intensivbetten auch die Bekanntgabe einer erfreulich niedrigen Reproduktionsrate oder Reproduktionszahl R, die sich ab dem 22. März um den ominösen Wert 1 eingependelt hatte und ab dem 16. April sogar deutlich unter 1 gefallen war, bis zum Wert von 0,7 an eben jenem 16. April. Beim Ausbruch der Pandemie hierzulande lag R noch bei rund 3. R gibt an, wie viele Menschen ein Corona-Infizierter im Schnitt ansteckt, je niedriger der Wert, desto geringer die Ausbreitung des Virus. Liegt der Wert bei über 1, steckt ein Infizierter also mehr als einen Menschen an, dann wird die Infektionszahl im Land weiter steigen, und es droht eine exponentielle Ausbreitung des Virus. Bei R unter 1, wenn ein Infizierter also weniger als einen Menschen ansteckt, wird dies als Absinken der Ansteckungsrate gedeutet.
Daher wurden bei der Verkündung des 0,7-Werts durch das RKI vielerorts schon vorschnelle Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Pandemie geweckt. Obwohl es sich dabei laut RKI nur um eine Momentaufnahme gehandelt hatte oder mit den Worten von Prof. Meyer-Hermann um „nichts anderes als ein Artefakt der Osterwoche", künstlich entstanden, weil in der Osterwoche schlichtweg weniger Fälle gemeldet worden waren. Zuletzt hatte sich R wieder der 1 angenähert, am 20. April wurde der Wert mit 0,9 angegeben. In Hochrechnungen gehen Wissenschaftler davon aus, dass ein Wert von 1,3 das Gesundheitssystem schon im Juni überlasten würde, bei einem Wert von 1,2 würde dieser Fall im Juli eintreten, bei einem Wert von 1,1 würden die Krankenhäuser spätestens im Oktober an ihre Belastungsgrenze gelangen. Die politisch Verantwortlichen bewegen sich daher auf einem sehr schmalen Grat in der Abwägung zwischen individueller Freiheit und Schutz der Gesundheit.
Wandern auf einem schmalen Grat
Wie schmal dieser Grat wirklich ist, haben Prof. Meyer-Hermann und Prof. Christian Droste jüngst aufgezeigt und eindringlich vor der Gefahr einer zweiten, noch viel verheerenderen Corona-Welle gewarnt, die Folge der eingeleiteten Lockdown-Lockerungen und vor allem weiterer Beschränkungs-Aufhebungen sein könnte. Prof. Meyer-Hermann, der sich des vor allem von den Wirtschaftsverbänden auf die Regierung ausgeübten Drucks natürlich voll bewusst ist, bekannte sich medial, unter anderem durch seinen TV-Auftritt in der Talkshow „Anne Will", deutlich zu seinem persönlichen Standpunkt eines verlängerten strengen Lockdowns. Seiner Meinung nach könnten wichtige Zielwerte bei der Viruseindämmung umso schneller erreicht werden, je strikter die Schutzmaßnahmen eingehalten würden.
Aus seiner Sicht gibt es nur zwei Alternativen im Umgang mit der Pandemie: Der eine Weg besteht darin, dass wir uns mit einer Übertragungsrate um den Wert 1 zufriedengeben, was zur Folge hätte, dass wir uns auf eine dauerhafte Koexistenz mit dem Virus einstellen müssten. Das Gesundheitssystem könne dieses Szenario zwar bewältigen, aber Lockerungen in größerem Umfang würden kaum möglich sein. Die zweite Option, die der Epidemiologe präferiert, wäre der Versuch, „das Virus auszutrocknen" und R auf einen Wert unter 0,3 zu drücken. Dafür müssten strenge Kontaktverbote allerdings noch mehrere Wochen aufrechterhalten werden, am besten sogar zusätzlich noch jegliche Kontakte über einen kurzen Zeitraum auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Sobald der Wert R auf 0,2 oder 0,3 gesunken sei, könnten die restlichen Infektionsfälle durch Methoden wie Kontakt-Tracing mittels Apps oder Tests kontrollierbar und die Pandemie ein „beherrschbares" Problem sein. Zu diesem Zeitpunkt wäre es dann auch möglich, weitaus größere Lockerungen in der Wirtschaft und dem gesellschaftlichen Leben hin „zur alten Normalität" ins Auge zu fassen.
Prof. Meyer-Hermann beklagte, dass die Verantwortlichen in Bund und Ländern es versäumt hätten, eine grundsätzliche Entscheidung darüber zu treffen, welcher der beiden Wege künftig in Sachen Corona-Kampf eingeschlagen werden soll. „Es sieht so aus, als wollten wir die Koexistenz mit dem Virus." In einem Interview mit dem Deutschlandfunk führte Prof. Meyer-Hermann aus: „Ich glaube, dass das Signal, das mit den Lockerungen von der Pressekonferenz ausging, dazu geführt hat, dass die Leute das Gefühl haben, die Krise sei bewältigt. Doch die Krise ist nicht bewältigt, sondern die Lockerungen sind ein Versuch, ob wir in der Lage sind, mit etwas mehr Wirtschaftsaktivität die Kontrolle des Virus trotzdem zu behalten."
„Die Krise ist nicht bewältigt"
Für den Fall, dass dieses Experiment misslingen sollte, hatte RKI-Vizepräsident Dr. Lars Schaade schon mal vorsorglich angekündigt, dass Lockerungen auch wieder rückgängig gemacht werden könnten. Ein Szenario, dass derzeit auch in der Forschung diskutiert wird, die es nicht für unrealistisch hält, dass sich in naher Zukunft Lockdown-Phasen mit Öffnungsperioden abwechseln könnten, entsprechend dem Anstieg oder Absinken von Infektionszahlen. Wobei die Lockdown-Phasen wegen der wachsenden Zahl von Genesenen, Stichwort Herdenimmunität; immer kürzer ausfallen könnten. In einem weiteren Interview mit dem Regionalmagazin „buten un binnen" hatte Prof. Meyer-Hermann die Umsicht von Angela Merkel ausdrücklich gelobt: „Besonders die Äußerungen der Kanzlerin haben mir gezeigt, dass sie ein klares Bewusstsein für die Gratwanderung hat. Sie hat deswegen relativ bescheidene Rücknahmen gemacht." Im gleichen Interview brachte er aber neben der Reproduktionszahl auch noch ein anderes Kriterium ins Spiel, bei dessen Erreichen es womöglich etwas Luft für Lockerungen geben könne: „In einem Bereich von dreistelligen Zahlen von Neuinfektionen pro Tag hätte man Spielraum."
Der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Karl Lauterbach hätte statt der Lockerungen auch die von Prof. Meyer-Hermann präferierte Option einer durch weitere Einschränkungen ermöglichte Reproduktionsraten-Senkung bevorzugt. „Jetzt runter auf 0,2, dann jeden neuen Fall verfolgen." Aber daraus ist ja nun nichts geworden. Auch zum Leidwesen von Prof. Christian Drosten, der via Twitter seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht hatte, „wie sehr die gültigen Distanzierungsmaßnahmen jetzt von allen Seiten infrage gestellt werden." Dabei sei das Virus ja keineswegs besiegt und es werde dennoch „eine Sicherheit insinuiert, die heute überhaupt noch nicht da ist." Drosten weiter: „Bei R = 1 verbreitet sich das Virus unter der Decke der Maßnahmen weiter. Auch jetzt schon."
Das könnte die große Gefahr einer neuen noch viel verheerenderen Corona-Welle in sich bergen. Wie Prof. Drosten in seinem NDR-Postcast mitgeteilt hatte, rechne er fest mit „fast zwangsläufigen Diffusionseffekten", sprich die regionalen Unterschiede bei den Fallzahlen in Deutschland würden sich verwischen, statt Hot-Spots werde sich das Virus auch in bislang weniger betroffenen Regionen und auch noch in anderen Alterskreisen ausbreiten, beispielsweise könne es verstärkt Infektionsketten unter den 65- oder 70-Jährigen geben, „weil man sich eben doch im Freundeskreis trifft" oder weil eben doch die Großeltern besucht würden. Wenn dadurch und durch den Semi-Lockdown die Reproduktionszahl doch wieder über den Wert 1 ansteigen sollte, könne die Pandemie-Tätigkeit in unerwarteter Wucht wieder losgehen.
Gleichmäßig geografisch verteilt
Prof. Drosten hatte diesbezüglich einen Vergleich mit der Spanischen Grippe herangezogen, der zwischen 1918 und 1920 weltweit bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Diese tödliche Seuche habe man anfangs in den USA unterschätzt, weil das Virus sich bei sommerlichen Temperaturen abgeschwächt hatte und gar nicht weiter bemerkt worden war. „Unter der Decke dieses saisonalen Effektes", so Prof. Drosten, „da können wir uns vielleicht jetzt auch vorstellen – unter der Decke der sozialen Distanzierungsmaßnahmen, die im Moment in Kraft sind – hat sich diese Erkrankung aber unbemerkt viel besser gleichmäßig geografisch verteilt." Als dann die Wintermonate gekommen seien, seien Virusketten an allen Orten gleichzeitig mit voller Kraft ausgebrochen. Genau dieses Szenario könne auch für Deutschland nicht ausgeschlossen werden, weil es eben keine kompletten Ausgangs- und Reisesperren gebe und daher eine Null-Infektionsübertragung nicht erreichbar sei.
Laut Charité-Untersuchungen hätten sich die Coronaviren in Deutschland bereits stark durchmischt. „Das Virus wird sich jetzt über die nächsten Wochen und Monate und über den Sommer in ganz Deutschland weiter verteilen", so Prof. Drosten. Wenn es dann im Winter plötzlich allerorten gleichzeitig ausbrechen würde, würde das Pandemiegeschehen eine ganz andere, viel stärkere Dynamik haben. Das sei eine der vielen, bislang kaum diskutierten Gefahren bei einer kontrollierten Virus-Verbreitung. Die zweite große Welle, die auch das RKI bei vorschneller Lockdown-Rücknahme befürchtet, müsse laut Prof. Drosten allerdings nicht zwangsläufig kommen, weil es womöglich positive Überraschungen geben könne, beispielsweise durch eine bisher unbemerkte Hintergrund-Immunität durch Erkältungs-Coronaviren.
Apropos Erkältung: Da könnte im kommenden Winter die Kombination von Grippewelle und Corona-Pandemie ein zusätzliches Problem für das Gesundheitssystem werden. Auf ein natürliches Auslaufen der Pandemie, was eine Infizierung von bis zu 70 Prozent der Bevölkerung voraussetzen würde, braucht wirklich niemand zu warten, denn das würde einen so langen Zeitraum voraussetzen, in dem hoffentlich längst ein Impfstoff gefunden sein sollte.