Als Logistiker des Holocausts war Adolf Eichmann mitverantwortlich für den Tod von sechs Millionen Menschen. Nach Kriegsende tauchte er in Argentinien unter, doch am 11. Mai 1960 wurde er in einer geheimen Operation vom israelischen Geheimdienst Mossad entführt. Eichmann kam in Israel vor Gericht.
Als auch der zweite Bus die Haltestelle passierte, ohne dass die Zielperson ausstieg, wurden die Agenten des Mossad so langsam nervös. Sie waren nach Buenos Aires gereist, um Adolf Eichmann zu entführen, den Mitorganisator des Holocausts, der schon seit einigen Jahren unter falschem Namen in der argentinischen Hauptstadt lebte. Eigentlich hätte Eichmann alias Ricardo Klement an diesem 11. Mai 1960 wie jeden Tag um 19.40 Uhr mit einem Bus der Linie 203 von seinem Job bei Mercedes-Benz zurück in den Vorort San Fernando fahren sollen, doch an diesem Abend verspätete er sich. Die Mossad-Leute fürchteten bereits, dass er gewarnt wurde. Dass jemand in letzter Sekunde Verdacht geschöpft hatte, auch weil zwei von ihnen sich seit einer halben Stunde über die geöffnete Motorhaube ihres Wagens beugten, um eine vorgetäuschte Panne zu beheben.
Aber dann tauchte Eichmann doch noch auf. Und auf einmal ging alles ganz schnell. „Un Momentito, Señor", sprach einer der Mossad-Männer den Kriegsverbrecher an. Als dieser sich umdrehte, wurde er von seinen Entführern überwältigt. Im Straßengraben kam es zu einem kurzen Handgemenge, dann wurde Eichmann in ein bereitstehendes Auto gezerrt. Nach nicht einmal 20 Sekunden war alles vorbei. „Ich war erleichtert", berichtete Rafi Eitan später, der Anführer des Geheimdienstkommandos. „Nein, Euphorie kann man es wohl nicht nennen – obwohl schon auch ein gewisser Stolz mitschwang, dass Juden jenen Mann in ihrer Gewalt hielten, der Millionen Juden in den Tod schickte." Neun Tage nach der geglückten Entführung wurde Eichmann in einem Flugzeug außer Landes geschmuggelt, mit Drogen ruhiggestellt und zur Tarnung in die Uniform eines Stewards gesteckt.
Die Aktion musste heimlich ablaufen, denn ein offizielles Auslieferungsabkommen gab es zwischen Argentinien und den Israelis nicht. Direkt nach der Landung der Maschine rief Mossad-Chef Isser Harel seinen Ministerpräsidenten David Ben Gurion an: „Das Monster trägt Handschellen!", meldete er. Am 23. Mai 1960 trat Ben Gurion vor die Knesset, um den erstaunten Abgeordneten und der Welt mitzuteilen, „dass vor einiger Zeit israelische Sicherheitskräfte einen der größten Naziverbrecher aufgespürt haben: Adolf Eichmann, der zusammen mit anderen Nazigrößen verantwortlich ist für das, was diese die Endlösung des Judenproblems genannt haben, das heißt, die Vernichtung von sechs Millionen Juden. Adolf Eichmann ist bereits in Haft und wird hier in Kürze nach dem Gesetz aus dem Jahr 1950 zur Verfolgung von NS-Verbrechern vor Gericht gestellt werden."
Zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet
Der Prozess begann ein Jahr später unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen, da man fürchtete, Eichmann könne Suizid begehen. Ein Wachmann saß deshalb rund um die Uhr in seiner Zelle, zwei weitere hinter der Zellentür beziehungsweise hinter der Tür zum Ausgang; zudem brannte in der Zelle Tag und Nacht Licht. Adolf Eichmann wurden fünfzehn Anklagepunkte vorgeworfen, darunter „Verbrechen gegen das jüdische Volk", „Verbrechen gegen die Menschheit", „Kriegsverbrechen" und die „Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation". Zwar betonte Eichmann immer wieder, er habe nur Befehle ausgeführt. Am Ende wurde er dennoch zum Tode verurteilt und am 31. Mai 1962 hingerichtet. Er ist bis heute der einzige Mensch, der bei einem Gerichtsverfahren der israelischen Justiz zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.
Tatsächlich war Adolf Eichmann keineswegs nur der schuldlose Befehlsempfänger, als der er sich vor Gericht ausgab. „Das große Getriebe läuft nur, wenn die kleinen Rädchen ihm Schwung geben", urteilte Andreas Nachama, ehemaliger Direktor der „Topographie des Terrors" in Berlin, einst im Deutschlandfunk über Eichmanns Engagement. Als Leiter des „Judenreferats" im Reichssicherheitshauptamt hatte Eichmann während des Nationalsozialismus die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Juden organisiert und war mitverantwortlich für die Ermordung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen in Deutschland und den besetzten Gebieten. Während der Wannsee-Konferenz 1942, bei der die „Endlösung der Judenfrage" koordiniert wurde, führte er das Protokoll.
Eichmann war der Logistiker des Holocausts; er sorgte für die Einhaltung der Fahrpläne und die Zusammenstellung und Auslastung der Eisenbahnzüge, die die Menschen in die Ghettos und Konzentrationslager transportierten. Eichmann besuchte alle größeren Lager auch persönlich. Nach seiner Rückkehr ersann er am Schreibtisch die weitere Optimierung des millionenfachen Massenmords und ließ sich dabei auch von der nahenden deutschen Niederlage nicht bremsen. „Er hat zu seinen Freunden gesagt: ,Ich weiß, der Krieg ist verloren, aber ich werde meinen Krieg noch gewinnen‘", sagte später Gabriel Bach, der israelischen Ankläger gegen Eichmann. „Und dann fuhr er nach Auschwitz, um die Tötungen von 10.000 pro Tag auf 12.000 pro Tag heraufzubringen." Noch 1957 prahlte Eichmann in einem Interview mit dem niederländischen Ex-Nazi und Journalisten Willem Sassen: „Ich war kein normaler Befehlsempfänger, dann wäre ich ein Trottel gewesen, sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen."
BND kannte seit 1952 den Aufenthaltsort
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wurde Eichmann zunächst von den Amerikanern verhaftet, doch ihm gelang die Flucht. In der Lüneburger Heide tauchte er unter dem falschen Namen Otto Heninger unter, arbeitete als Holzfäller und Waldarbeiter und später als Hühnerzüchter. 1950 gelangte er schließlich über die sogenannte Rattenlinie und mit falschen Papieren des Vatikans nach Argentinien. In Südamerika wähnte sich Adolf Eichmann in Sicherheit. Zwar kam ihm bald darauf der Nazijäger Simon Wiesenthal auf die Schliche, doch die israelische Regierung reagierte zunächst nicht auf dessen Hinweise.
Erst als der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1957 den Mossad darüber informierte, dass er von dem in Buenos Aires lebenden ehemaligen KZ-Häftling Lothar Hermann erfahren habe, ein Mann namens Ricardo Klement sei in Wahrheit Adolf Eichmann, wurde der Geheimdienst hellhörig. Allerdings dauerte es danach noch drei Jahre, ehe der Mossad ernsthaft tätig wurde. Beim ersten Besuch in Argentinien war der eigens angereiste Agent nach Besichtigung von Eichmanns Wohnung noch der Meinung, ein so wichtiger Nationalsozialist könne nicht in so ärmlichen Verhältnissen leben.
Fritz Bauer hatte sich zu jener Zeit als einer der wenigen Juristen in der Bundesrepublik der Verfolgung der NS-Verbrechen verschrieben. Ganz bewusst hatte er nicht die deutschen Behörden informiert, weil er befürchtete, dass diese nichts unternehmen würden – oder schlimmer noch: dass Eichmann dadurch gewarnt und abermals untertauchen würde. Akten bewiesen später, dass der Bundesnachrichtendienst tatsächlich schon seit 1952 über den Aufenthaltsort von Eichmann Bescheid wusste, jedoch nicht tätig wurde.
Holocaust erstmals im öffentlichen Blickpunkt
Erst mit der Verhaftung Eichmanns vor 60 Jahren und dem anschließenden Prozess rückte der Holocaust in den Fokus der Öffentlichkeit. Nicht nur in Deutschland: Auch in Israel war das Thema vorher weitgehend tabuisiert worden. „In Israel bestand zunächst einmal bis Ende der 50er-Jahre kein Interesse, intensiv den Holocaust aufzuarbeiten. Man war mit sich selbst beschäftigt, dem Aufbau eines neuen, nach vorn blickenden Staates. Man war auch unsicher, um nicht zu sagen, indifferent den Holocaustüberlebenden in Israel gegenüber. Es war schlicht und ergreifend ein Thema, über das kaum gesprochen wurde", sagte Michael Wolffsohn im Deutschlandfunk, bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Hochschule der Bundeswehr in München. Und weiter: „Ben Gurion erkannte sehr deutlich: Die Berechtigung des eigenen Existenzkampfes ist nur grundsätzlich historisch vermittelbar, wenn das Urtrauma des Holocausts wahrgenommen wird. Da war Eichmann eine Symbolfigur. Es ging nicht darum, gegen Deutschland ein Exempel zu statuieren, sondern um der eigenen israelisch-jüdischen Jugend zu zeigen, das ist der geschichtliche Hintergrund. Wenn wir Israel nicht stark machen, passiert uns Juden, ob in Israel oder woanders, noch einmal das Gleiche." Für seinen Historikerkollegen Tom Segev hatte der Eichmann-Prozess für die Israelis eine therapeutische Funktion und ermöglichte erst eine institutionalisierte, kollektive Aufarbeitung der NS-Verbrechen.