Udo Lindenberg, Erfinder der deutschsprachigen Rockmusik, sagt die Konzerte für Ende Juni auf der Pferderennbahn La Motte in Lebach wegen Corona ab. Aber: Der Soundtrack „Lindenberg! Mach Dein Ding" tröstet. Und: Er macht sein Ding und plant für 2021 eine neue Tour.
Udo Lindenberg sieht aus wie einer, der Udo Lindenberg parodiert: auffällige Sonnenbrille, markante Lippen und der obligatorische Hut, unter dem das Haar strohig hervorlugt. Beim Interview im Hamburger „Hotel Atlantic" an der Alster – das mittlerweile geschlossen ist – sind die Privatperson und der Entertainer nicht auseinanderzuhalten. Ohne Kopfbedeckung und dunkler Brille setzt der Exzentriker keinen Schritt vor die Tür. Entwickelt sich das Gespräch aber nach seinem Gusto, kommt mit etwas Glück irgendwann mehr vom Gesicht zum Vorschein. Dann spricht er leise über die Selbstzweifel, die ihn in seiner zweiten Lebenshälfte plagten.
Die schwierige Frage, wie er die Kurve von einem eher jugendbetonten „Gummihosenkasper" zu einem würdevollen Rock-Chansonnier kriegen sollte, zu dem er ja dann auch wurde, raubte Lindenberg in seinen Fünfzigern fast den Verstand. Wollte er in die Rolle von großen alten Jazzern hineinwachsen oder so werden wie Yves Montand oder Charles Aznavour? „Im Rock’n’Roll tummeln sich wenige Figuren, an denen du dich orientieren kannst", findet der Sänger mit den wohlgeformten Lippen.
„Es gibt Mick Jagger, David Bowie oder noch Bob Dylan. Viele Musiker bauen im Alter entweder ab oder hören ganz auf. Aber bei mir war mit Mitte 50 kein Ende abzusehen. Wie sollte ich also in meine Sechziger oder Siebziger-Jahre reinwachsen?" Da der Sänger diesen Weg nicht nüchtern suchte, sondern in Verbindung mit Alkohol und diversen Drogen, gibt es aus dieser „Ballerzeit" ein paar ziemlich harte Geschichten. Mit dem Alkohol begann die Tragik seines Lebens. Schon sein Vater Gustav trank zu viel.
Lindenberg spricht über Selbstzweifel
Sein Durchbruch-Konzert spielte der 28-jährige Udo weit jenseits der Promillegrenze. „An dem Abend bin ich mit 15 Doppelkorn im Kopf im Vampirgang um die Ecke geschlichen", erzählt er im Interview. „Es ging um alles. Zu Hause in Gronau war keine Knete da, mein Vater war gestorben und meine Mutter musste von 300 Mark leben. Okay, sagte ich zu ihr, ich gehe in Hamburg Kohlen holen. Ich wollte eine große Erfindung machen: Rock mit deutschen Texten. Ein Rockstar werden. Ich wollte an die Millionenschecks ran. An dem Abend ging es darum, ob die Rakete abhebt oder ob sie fehlzündet. Genau bis dahin geht der Film ‚Lindenberg! Ich mach mein Ding‘. Die weiteren Entwicklungen, Krisen, Absturz und Wiederaufstieg machen wir dann im nächsten Film. Das wird auch wieder so wie beim Paten."
In den 1970er-Jahren war Udo Lindenberg ein Seismograf jugendlicher Befindlichkeiten. Seine lockeren Sprüche gingen in den nationalen Wortschatz über. Bei einem Ostberlin-Trip verliebte er sich unsterblich in ein Mädchen namens Manu und glaubt allen Ernstes, dass es für ihn nie wieder eine andere geben könnte. „Ich hatte das vielleicht schon häufiger geglaubt. Aber nie so granitfest." Doch die deutsch-deutsche Beziehung war nicht von Dauer, hatte aber wenigstens einen Nebeneffekt, und zwar den Hit „Sonderzug nach Pankow" (1983). Darin äußerte Lindenberg deutlich den Wunsch, in der DDR auftreten zu dürfen („All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen …"), doch der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker fühlte sich von dem frechen Westrocker verhohnepiepelt. Am 25. Oktober 1983 durfte Lindenberg schließlich doch noch im Palast der Republik in Ostberlin spielen. Sein Konzert dauerte jedoch nur 15 Minuten und wurde von der Staatssicherheit akribisch observiert. 1987 kam es schließlich zu einer ziemlich angespannten Begegnung in Wuppertal. Dort überreichte Lindenberg dem verdutzten Honecker eine E-Gitarre mit den Worten „Gitarren statt Knarren".
Der Nuschler der Nation schwelgt in Erinnerungen, während seine Sonnenbrille auf der Nase wackelt. „Mit dem Ding in den Flossen machte Honecker einen sehr bedröppelten Eindruck. Ein Steiftier von der ganz weggetretenen Sorte. Honecker dachte, die Gitarre stand ihm nicht so gut und wollte sie gleich wieder weiterreichen. Ich sagte: ‚Herr Honecker, halten Sie sie doch mal für ein paar schöne Fotos!‘ Und ich fragte ihn: ‚Wann spielen wir mal wieder in der DDR?‘ Seine Antwort: ‚Die FDJ will sich drum kümmern‘. Den Rest der Story kennt man ja."
Obwohl Lindenberg stets ein öffentliches Leben im „Hotel Atlantic" führte, kam seine Liaison mit dem deutschen Popstar Nena in den 1980er-Jahren erst viel später an die Öffentlichkeit. „Nena und Udo, das passte", erinnert der Sänger sich. „Wir fanden es gut, das irgendwie geheimzuhalten, immer gut getarnt, wie Geheimagenten. Das waren ganz inspirable Zeiten. Uns verbindet heute eine tolle Freundschaft." Während Lindenberg Anekdoten erzählt, hält Tine Acke sich im Hintergrund. Seit Ende der 1990er ist sie seine Lebensgefährtin, engste Komplizin und Muse. Die 43-jährige Fotografin aus Hamburg bezeichnet sich selbst als Lindenbergs härteste Kritikerin. „Immer, wenn alle anderen ihn vollschleimen, sage ich: Hmm, mal überlegen. Ich glaube, ich bin von allen die Kritischste."
Gedankenaustausch mit Marlene Dietrich
Gefunkt hatte es einst auch zwischen dem Panikrocker und der späten Marlene Dietrich. Für Lindenberg die wichtigste Künstlerin des Widerstands gegen Nazideutschland. Mit der legendären Diva pflegte er bis zu ihrem Tod im Jahr 1992 einen regen Gedankenaustausch per Brief und Telefon. Obwohl sie zuletzt zurückgezogen in Paris lebte und keine Filme und Platten mehr machte, entlockte er ihr ihre letzten Tonaufnahmen. Und das kam so: „Ende der 1970er-Jahre fuhr ich nach Paris, stieg in einem Hotel gegenüber ihrer Wohnung ab. Ich durfte aber Marlene Dietrich nicht sehen, dafür haben wir lange telefoniert und über einen Freund gelangte mein Demo schließlich in ihre Wohnung. Ich habe sie gebeten, Prologe zu Friedrich Hollaenders ‚Illusions‘ auf Tonband zu sprechen. Währenddessen stand ich im Treppenhaus und konnte durch den Türspalt in die dunkle Wohnung gucken. Alles sehr geheimnisvoll. Sie wollte einfach in Erinnerung bleiben als die schöne Frau, als die man sie kannte."
Wie Marlene Dietrich verweigert sich auch Udo Lindenberg der irdischen Zeitzählung. Am 17. Mai wird er 74. Zahlen sind ihm aber „scheißegal", es geht schließlich um das „Gesamtkunstwerk Udo Lindenberg". Und dazu gehört neben der Musik seit einiger Zeit auch die Malerei. Gern spricht er über seine spöttischen, drastischen und anzüglichen Zeichnungen und Gemälde mit den explodierenden Farben und lustigen Strichmännchen, die im „Hotel Atlantic" an jeder Ecke zu bestaunen sind. Und nicht nur dort: Ausstellungen gab es bisher im Joseph-Beuys Museum in Kleve, im Bonner Haus der Geschichte, im Kanzleramt in Berlin oder in New York. Seit er den Pinsel so locker schwingt, hatte der Maler Lindenberg den Musiker an Öffentlichkeitswirksamkeit zeitweise sogar überholt. Welche besondere Eigenschaft muss Kunst haben, damit sie für ihn interessant ist? „Die Kunst ist ein goldener Schlüssel zur Seele des Kunstschaffenden", nuschelt der Mann in Schwarz und saugt an einer Zigarre der Marke Havanna. „Ich bin Flexibilist und ein Freund von Freistil. Es ist schön, wenn man Gesetze bricht oder neue erfindet; manche sogar, ohne es zu wissen. Als Sänger hatte ich nicht eine Minute Unterricht. Mit der Malerei war es genauso. Mein Freund Markus Lüpertz riet mir, mich bloß nicht von Kunstschulen verbilden zu lassen. Ich sollte mir meinen lockeren Strich genauso erhalten wie meine Jodelei."
Aktuell unterstützt er die Initiative „Deutschland gegen Corona", für die er den Werbespot „Für dich, für mich, für alle" eingesprochen hat. Der Spot bildet das Leben in physischer Distanz ab. „‚Alle für alle‘ ist jetzt genau die richtige Message", sagt Lindenberg. Seit 26 Jahren bewohnt der Panikrocker eine Suite in den oberen Etagen des „Hotel Atlantic". Mittlerweile ist Udo Lindenberg an einen „geheimen Ort" umgezogen. Ihm ist zuzutrauen, dass er auch aus dieser Krise gestärkt hervorgeht.