Auf ihrem elften Studioalbum zeigen Pearl Jam, was vom Grunge übrig blieb. Der Abwechslungsreichtum von „Gigaton" erklärt sich wohl damit, dass die Platte von Josh Evans und nicht mehr von Brendan O’Brien produziert wurde.
Als die Grunge-Welle von Amerika nach Europa herüberschwappte, wurde ein bedeutendes Album nach dem anderen herausgeballert. Auf Nirvanas „Nevermind" (1990) folgten Pearl Jams „Ten" (1991) und Soundgardens „Badmotorfinger" (1991) – sie alle avancierten zu Klassikern. 1987, als der Bassist Jeff Ament und der Gitarrist Stone Gossard noch bei Mother Love Bone spielten, war Seattle eine finstere Metropole ohne Zukunft. Es blieb jungen Menschen eigentlich nichts als die Musik und eine Menge Wut und Energie. 1990 taten der Gitarrist Mike McCready, der Schlagzeuger Dave Krusen und der Vokalist Eddie Vedder sich mit den Überresten von Mother Love Bone zu Pearl Jam zusammen. Der Name ist eine Referenz an Eddie Vedders Oma Pearl, die für ihn immer Kaktusmarmelade kochte. Vedder ist heute einer der prägenden Sänger im harten Rockgeschäft.
Pearl Jam haben bis dato 85 Millionen Tonträger verkauft und wurden 2016 in die Rock-and-Roll-Hall-of-Fame aufgenommen. Erfolg macht behäbig und träge, sagt man. Der zeitliche Abstand zwischen den Studioalben beträgt bei ihnen inzwischen sieben Jahre. Schon des Öfteren in ihrer seit über drei Jahrzehnten andauernden Geschichte hat die konditionsstarke Truppe aus Seattle den Versuch unternommen, neue Ausdrucksformen auf dem Gebiet des Rock zu finden. Einige Male war ihnen dabei ihre eigene Vergangenheit als musikalische Pioniere im Wege.
Nachdem 2018 die Anti-Trump-Single „Can’t Deny Me" erschienen war, verkündete Jeff Amend in einem Radio-Interview: Die Band brauche noch „gute solide sechs bis acht Wochen am Stück, um all die Ideen aufzunehmen, die wir haben." Das nächste Pearl-Jam-Album werde aller Voraussicht nach 2019 erscheinen. Amend versprach, dass die Fans auch etwas „wirklich Gutes" erwarten dürften, schließlich gäbe es gerade vieles, was die Band inspiriere, und ebenso Grund genug, um „angepisst" zu sein. Nun ist das lang erwartete Opus endlich fertig. „Gigaton" erscheint in den USA auf dem bandeigenen Indie-Label Monkeywrench Records, das in Europa durch Universal vertrieben wird.
Auch eine erfahrene Band wie Pearl Jam kommt nicht ohne einen Producer aus. Josh Evans (Soundgarden, Chris Cornell), ihr Kumpel aus Seattle, saß diesmal an den Reglern und brachte das ewig schwelende, kreative Feuer der Band wieder zum Lodern. Schon der fulminante Start der Platte lässt erahnen, dass die ergrauten Pearl Jammer keine Jungs von Traurigkeit sind. „Who Ever Said" ist ein treibender Rock-Song mit einem einprägsamen Thema und Eddie Vedders leidenschaftlich vorwärts stürmender Bariton-Stimme, die zuweilen an Jim Morrison erinnert. Für einen klassischen Refrain hat sie keine Verwendung.
Auch „Superblood Wolfmoon" ist so, wie coole Rock-Nummern sein sollten: aggressiv und elektrisierend. Ein glühendes Gitarrensolo von Mike McCready macht diesen Power-Schlager geradezu unwiderstehlich. Eher gewöhnungsbedürftig sind Soundspielereien wie bei der Singleauskopplung „Dance of The Clairvoyants", die irgendwann stotternd zum Stillstand kommt. „Quick Escape" hingegen besticht durch einen hypnotischen Bass-Groove, der den Hörer regelrecht auf den Boden hinabzieht. Dazu erzählt Vedder von einem Roadtrip mit Schlafsack und Biwak und vom Leben im Augenblick.
Pflegen das Image als gutes Gewissen des Rock
„If your heart still beats free, keep it to yourself", rät er dem Hörer in der Ballade „Alright" zu einer sich auftürmenden Melodie. Da ist sie wieder, diese Stimme, die sich unter die Haut raspelt und das Herz erwärmt. Das ist auch bei „Seven O’Clock" der Fall. Das langsam dahinfließende Stück ist bei einer Jam-Session entstanden und kommt ungewohnt psychedelisch mit innigem Gesang daher. Die punkige Up-Tempo-Nummer „Never Destination" weckt wiederum Erinnerungen an die künstlerisch fruchtbare Ära unter dem Star-Produzenten Brendan O’Brien (AC/DC, Bruce Springsteen). Damals haderte die Band mit dem wachsenden Erfolg und weigerte sich, Videoclips zu machen. Gegen Ende der Platte geht die Band runter vom Gas: Mit dem leichtfüßigen „Buckle Up" liefert Stone Gossard den Beweis, dass er noch immer traumhafte Gitarrenriffs und Melodien, die unter die Haut gehen, schreiben kann.
Die letzten Songs zünden nicht auf Anhieb, warten zum Teil aber mit bemerkenswerten Zeilen auf: „We could all use a saviour from human behaviour" heißt es in der akustischen Nummer „Come Then Goes". Die Band bringt jetzt zwar Abwechslung in das Album, aber es ist die Abwechslung innerhalb des Mittelmäßigen. Beim Rausschmeißer „River Cross" vermag sie jedoch wieder zu fesseln. Eddie Vedder am Harmonium und Jeff Ament an der Kalimba strahlen eine hypnotische Feierlichkeit aus. Dank kunstvoll übereinandergeschichteter, feingliedriger Klänge von Synthesizern und akustischen Gitarren wurde aus dem Experiment ein echter Pearl-Jam-Song.
Josh Evans hat „Gigaton" in Dolby Atmos abgemischt. Ein Zwölf-Kanal-Tonsystem, das vor ein paar Jahren mit der „Hobbit"-Filmtrilogie eingeführt wurde. Diese Technologie erlaubt dem Mixer quasi eine unbegrenzte Anzahl von Tonspuren und gibt dem Hörer das Gefühl, er sei von Klang umhüllt.
Pearl Jam wären nicht Pearl Jam, wenn sie mit „Gigaton" nicht ihr Image als das gute Gewissen des Rocks pflegen würden. „Diese Platte war wie eine lange Reise", lautet Mike McCreadys offizielles pathetisches Statement. „Mit manchmal sehr konfusen und dunklen Gefühlen, aber auch mit einer spannenden und experimentellen Strecke, die uns hin zur musikalischen Erlösung führte. Diese Zusammenarbeit mit meinen geschätzten Bandkollegen hat meine Liebe und meine Empathie noch verstärkt." Das Cover des alles in allem gelungenen, aber nicht überragenden Albums ziert übrigens ein Foto des kanadischen Meeresbiologen Paul Nicklen. „Ice Waterfall" zeigt den Nordaustlandet-Gletscher und wie er große Mengen Schmelzwasser verliert. Soll uns das etwas über die heutigen Pearl Jam sagen?