Seit drei Monaten ist Alfred Gislason nun schon Handball-Bundestrainer, auf seine Premiere wartet er aber noch immer. Das zerrt auch an seinem sonst so starken Nervenkostüm.
In Wendgräben, einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt mit weniger als 50 Einwohnern, hat es sich Alfred Gislason schön eingerichtet. Das 1840 erbaute Bauernhaus hat er mit viel Zeit, Mühe und auch Geld restauriert. „Wir hatten damals eine Ruine übernommen, alle haben uns für völlig irre erklärt, das zu machen", sagte der neue Handball-Bundestrainer. „Aber es hat sich gelohnt." Vor allem in diesen schweren Corona-Zeiten empfindet Gislason sein Anwesen als wahren Luxus. Das ein Hektar große Grundstück bietet nämlich viel Ablenkung. Da sind die Obstbäume und natürlich sein geliebter Rosengarten, in dem Gislason etwa 400 verschiedene Rosensorten züchtet. „Ich komme aus einem Land, in dem gar nichts wächst – außer Kartoffeln und Rhabarber", sagte der Isländer, der sich der Gartenarbeit aber nicht nur wegen der frischen Äpfel und schönen Blumen mit viel Fleiß und Liebe widmet: „Man kann auch komplett abschalten und alles andere vergessen."
Was Gislason in diesen Tagen vergessen möchte, ist nicht schwer zu erraten. Der 60-Jährige, der in der Handball-Bundesliga HBL mit dem THW Kiel, dem SC Magdeburg und dem VfL Gummersbach zahlreiche große Erfolge gefeiert hatte, wurde durch das Coronavirus ausgebremst. Nach einem halben Jahr Pause, die für ihn nur zur Hälfte tatsächlich erholsam war, brannte Gislason auf die Rückkehr an die Seitenlinie. Als Verantwortliche des Deutschen Handball-Bundes (DHB) anriefen und ihm den Posten des Bundestrainers anboten, war er sofort Feuer und Flamme („Mein Traumjob"). Seine Premiere sollte Gislason im Testspiel gegen die Niederlande ausgerechnet in Magdeburg feiern, danach sollte er das Nationalteam bei der Olympia-Qualifikation in Berlin zum Tokio-Ticket coachen. Doch alles wurde abgesagt.
Wann Gislason endlich sein Debüt feiern kann, steht in den Sternen. Die Ungewissheit bringt auch den sonst so gefassten Nordeuropäer an die Grenzen der Nervenbelastung. „Als ich gerade mit der Quali loslegen wollte, kam Corona dazwischen!", sagte er dem Sport-Informationsdienst (SID). Am Anfang der Zwangspause habe er noch sehr intensiv „alle Gegner der absehbaren Zukunft angeschaut, Videos geschnitten und der Mannschaft zugespielt", verriet Gislason. „Aber das machte mit der Zeit immer weniger Sinn." Als die Olympia-Qualifikation verschoben wurde, beschäftigte er sich mit der Ukraine als Play-off-Gegner für die WM 2021 in Ägypten – doch auch das war vergebene Liebesmühe. Die Play-off-Duelle Anfang Juni wurden vom Handball-Weltverband EHF ersatzlos gestrichen, Deutschland löste aufgrund des fünften Platzes bei der EM 2020 ein sicheres WM-Ticket.
Gislason brannte auf die Rückkehr
Es ist in gewisser Weise Ironie, dass der erste Erfolg der Nationalmannschaft in der Ära Alfred Gislason eigentlich seinem Vorgänger zu verdanken ist. Unter Christian Prokop hatten Uwe Gensheimer und Co. im Januar bei der EM in Schweden, Österreich und Norwegen zwar spielerisch nicht geglänzt, in der Endabrechnung aber keineswegs enttäuscht. Deshalb klang es auch glaubwürdig, als die Verbandsspitze um Präsident Andreas Michelmann und Vize Bob Hanning unmittelbar nach Turnierende einen öffentlichen Treueschwur Richtung Prokop äußerten. Doch nur zwei Wochen später wurden die Vereinsbosse wortbrüchig. „Wir haben das definitiv nicht so gelöst, wie es einem solchen Verband gerecht werden sollte", sagte Hanning rückblickend mit Selbstkritik. Der Manager der Füchse Berlin galt als Förderer von Prokop, doch ein zweites Mal konnte er den früheren Leipziger Trainer nicht retten, nachdem Prokop schon nach der EM 2018 bedenklich gewackelt hatte. Der Hauptgrund liegt auf der Hand: Damals stand Gislason nicht als Alternative parat – diesmal schon.
Als Liga-Präsident Uwe Schwenker, der mit Gislason in Kiel erfolgreich zahlreiche Schlachten zusammen geschlagen hatte, ohne langes Zögern von Gislason das „Okay" bekam, hatte Prokop keine Chance mehr. Die Bereitschaft des Isländers habe „die Waage zum Kippen gebracht", gab Schwenker zu. Und es musste schnell gehen, denn Gislason hatte schon bei einer anderen Nation zugesagt, ohne es auch schriftlich besiegelt zu haben. Er habe sich nur umstimmen lassen, weil er Deutschland trainieren dürfe, verriet Gislason. Hier arbeitet und lebt er seit mehr als 20 Jahren, hier kennt er alle Facetten des Handballs, hier kann er mehr bewirken als woanders. „Ich werde versuchen, eine Dynamik zu entwickeln", sagte Gislason bei seiner Präsentation. „Durch meine 22 Jahre als Bundesligatrainer kenne ich alle Spieler sehr gut."
Auf Basis dieser Erfahrung und Kenntnisse glaubt Gislason, dass der deutsche Handball nach wie vor das Potenzial zur Weltklasse hat. Er müsse „nicht alles auf den Kopf stellen", sondern nur an ein paar Stellschrauben drehen. Welche das sind, das machte der Bundestrainer schnell deutlich: Es soll wieder mehr Tempo ins deutsche Spiel kommen, auch mehr Leidenschaft und Siegeswille. „Beim Umschaltspiel werde ich sicher ein paar Änderungen vornehmen", kündigte der neue starke Mann an der Seitenlinie an. „Vieles, was wir in Kiel gespielt haben, werde ich versuchen, auf die Nationalmannschaft umzuleiten." Ein Vorteil für die Kieler Auswahlspieler wie Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek oder auch den früheren THW-Torhüter Andreas Wolff, die bei Gislason ohnehin hoch im Kurs stehen. Die Defensive sei „das Prunkstück" des deutschen Teams, lobte Gislason.
„Ich kenne alle Spieler sehr gut"
Auf der Torhüterposition geht Wolff mit einem kleinen Vorsprung vor Johannes Bitter ins Rennen, wobei es zwischen der 1A und der 1B ein ständiges Wechselspiel geben dürfte. Und unter Gislason darf sich auch der Neu-Melsunger Silvio Heinevetter, von Prokop zuletzt aussortiert, wieder Hoffnungen auf Länderspieleinsätze machen. Heinevetter „lauert im Hintergrund", sagte Gislason.
Andere Profis müssen dagegen um ihre Stellung fürchten, eine Neubesetzung auf dem Trainerstuhl ändert immer auch die teaminterne Hierarchie. Ob zum Beispiel Uwe Gensheimer auch unter Gislason Kapitän bleibt, ließ der Isländer offen: „Ich habe meine Ideen, wie genau ich das machen möchte." Ob Gislason mehr damit bezweckt, als den Weltklasse-Linksaußen ein bisschen zu kitzeln, ist spekulativ. Fakt ist: Gensheimer konnte im DHB-Trikot bei großen Turnieren nur selten an die Leistungen im Verein anknüpfen. Pikanterweise hatte Gensheimer die Entlassung von Prokop als „Schock" und den Wechsel zu Gislason in seiner ersten Reaktion für „nicht nötig" bezeichnet. Der Start zwischen dem meinungsfreudigen Profi der Rhein-Neckar Löwen und dem neuen Bundestrainer war auch deshalb schwierig, weil Gensheimer beim ersten Lehrgang in Aschersleben verletzt nicht teilnehmen konnte. Er reiste dennoch zur Mannschaft – sicher auch, um bei Gislason zu punkten. Das Training, das Gensheimer dort von der Bank aus beobachtete, hat ihn beeindruckt. „Es waren gute Sachen dabei", sagte der 33-Jährige. „Es war ziemlich vollgepackt, das ist normal, wenn was Neues reinkommt." Gensheimer und Gislason eint ein gemeinsames Ziel: ein Titel mit dem Nationalteam. Beide haben auf Vereinsebene schon so viel gewonnen, allein Gislason dreimal die Champions League, siebenmal den Meistertitel und sechsmal den DHB-Pokal. Für den Traum von Olympia-Gold dürften sich die beiden Alphatiere ganz sicher zusammenraufen.
Die Defensive ist „das Prunkstück"
Für Gislason ist die Verschiebung der Sommerspiele in Tokio um ein Jahr sogar ein Vorteil. Nun hat er deutlich mehr Zeit, seine Ideen einzubringen und Automatismen einzustudieren. Von einer Medaille spricht er aber öffentlich noch nicht, denn zunächst will und muss er die Qualifikation meistern. Der Druck auf Gislason ist enorm, denn der DHB zählt sich immer noch zur allerbesten Kategorie. „Wir wollen in Tokio natürlich um die Goldmedaille spielen", sagte Hanning, auch wenn der DHB-Vizepräsident einschränkt: „Wir sollten uns aber erst mal qualifizieren. Eine Goldmedaille ohne teilzunehmen – das ist relativ schwierig." Dass Gislason das Team nach Tokio und dort auf den Erfolgsweg führt, davon ist auch Schwenker überzeugt: „Alfred ist eine erfahrene, souveräne und charismatische Persönlichkeit." Der Isländer geht mit der großen Erwartungshaltung gelassen um, ein wenig genießt er sie sogar. „Druck ist für viele etwas Angsteinflößendes, aber ich habe das meistens als etwas Schönes empfunden", sagte er. Druck sei nichts anderes als „die Erwartung, etwas richtig Gutes abzuliefern. Und ich bin mir ganz sicher, dass diese Mannschaft das kann."