Das Bundesverfassungsgericht kritisiert die Europäische Zentralbank (EZB) und schlägt damit hohe Wellen. EU-Kritiker jubeln, die EU-Kommission ist entsetzt. Was bedeutet das Urteil für die Demokratie in der EU?
Andreas Voßkuhle verabschiedet sich mit einem Knall als Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Zehn Jahre hat er das höchste deutsche Gericht und seine Entscheidungen geprägt. Immer wieder waren die Urteile bahnbrechend, gingen weit über das rein Rechtliche hinaus. Das Gericht ist in seiner Amtszeit noch politischer geworden, als es vorher schon war. In den vergangenen Jahren hat sich das Bundesverfassungsgericht regelmäßig als Hüter individueller Freiheitsrechte bewiesen. Der Einzelne und seine Ansprüche und Bedürfnisse gegen den Staat – immer wieder entschieden die Richter für den Einzelnen und wiesen den Staat in seine rechtlichen Schranken.
Da war es nicht wirklich überraschend, dass auch dieses wichtige Urteil einmal mehr Aufsehen erregen würde. Dieses Mal aber weist es eine europäische Institution in ihre Schranken. Die Europäische Zentralbank (EZB) habe einen Fehler gemacht und der Europäische Gerichtshof EuGH gleich mit, als er die EZB vor zwei Jahren in Schutz nahm.
Seit der Währungs- und Börsenkrise 2008 und noch mal stärker seit 2012 druckt die EZB Geld in bislang unvorstellbaren Mengen. Das ist nach Ansicht der meisten Experten richtig und nötig, aber es gibt natürlich Kritiker. In jedem Fall ist es nicht das, was man sich in Deutschland ursprünglich vorgestellt hat, als man sich in den 1990er-Jahren für den Euro und eine Europäische Zentralbank bereit erklärt hatte.
Viele in Deutschland sind gegen diese Politik des Gelddruckens im großen Stil und halten es in Wirklichkeit für eine versteckte Hilfe für die Länder des Südens wie Italien, Spanien und Griechenland oder auch Frankreich.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal etwas gefordert, bislang hat es nur gedroht: Es will, dass die EZB eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit macht. Eigentlich eine Formalie. Aber es geht ums Prinzip: Darf das höchste deutsche Gericht einer EU-Institution etwas vorschreiben? Voßkuhle und seine Richter-Kollegen sehen das so.
Darf dieses Gericht der EU etwas vorschreiben?
Die Kläger, der notorische Peter Gauweiler aus München und Bernd Lucke (ex-AfD, ex-ALFA, ex-LKR) aus Hamburg jubeln, auch CDU-Recke (und, fast vergessen, Kandidat für den CDU-Vorsitz) Friedrich Merz hält das Urteil für „historisch" – was objektiv stimmt. Das Urteil sei die „unmissverständliche Aufforderung an die EZB, zurückzukehren zu ihrem eigentlichen Auftrag der Stabilität unserer Währung statt der Finanzierung einzelner Staaten", kommentiert CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Beifall kommt auch vom polnischen Justizminister, der sich mutmaßlich über den Widerspruch gegen das oberste EU-Gericht freut.
Genau das ist die Sorge der EU-Kommision und vieler, die sich nun hinter die EU und ihre Institutionen stellen. Europapolitisch sei es „brandgefährlich, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht die gemeinsame Geldpolitik einengt", sagte der Grünen-Europa-Abgeordnete Sven Giegold. „Das Bundesverfassungsgericht beschädigt mutwillig die Reputation der EZB, um sich selbst mit Bedeutung zu umwehen", schimpft die linke Tageszeitung „Taz". Henrik Enderlein vom Jacques Delors Centre in Berlin nennt das Urteil knapp ein „Desaster".
Kritik kommt auch aus Frankreich und Italien und dort von ganz oben: „Es ist nicht Sache irgendeines Verfassungsgerichts zu entscheiden, was die EZB machen oder nicht machen kann", sagt Italiens Premier Giuseppe Conte, der derzeit im eigenen Land einen schweren Kampf gegen Corona und in der EU einen um die „Corona-Bonds" führt.
Der EuGH erklärte, nur er allein sei befugt, „festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt", um die einheitliche Anwendung des EU-Rechts zu garantieren. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, prüft nun sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Bislang dachte man immer, das könne nur Polen oder Ungarn passieren.
Dahinter steckt die allgemeine Sorge, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil die Axt an die Fundamente der Europäischen Union gelegt haben könnte. Die deutschen Verfassungshüter haben nun nämlich erstmals explizit erklärt, die EZB habe teilweise gegen die deutsche Verfassung verstoßen. Sie habe mit dem billionenschweren Ankaufprogramm für Staatsanleihen ihr Mandat überschritten. Denn eigentlich gilt: Die europäischen Institutionen dürfen nur in dem Bereich handeln, in dem sie von den Nationalstaaten die Kompetenz dazu bekommen haben, nicht darüber hinaus.
Die Ironie an der Sache ist, dass das Urteil nur auf den ersten Blick ein Angriff auf die EZB und ihre Unabhängigkeit ist. In Wirklichkeit ist das Urteil ein „trojanisches Pferd", wie Prof. Matthias Goldmann von der Universität Frankfurt im Juristen-Portal „Legal Tribune Online" schreibt. Denn die Verfassungsrichter fordern von der EZB, dass sie ihre Geldpolitik gegen die Folgen für Wirtschaft und Staatshaushalte abwägt. Was sie tatsächlich fordern, ist „mithin eine Zentralbank mit Herz". Das bedeute nichts weniger als ein „Quantensprung." Das Triumphgeheul der Klägerseite erscheint vor diesem Hintergrund deutlich verfrüht, so Goldmann.
Richter wünschen eine „Zentralbank mit Herz"
Denn die EZB hat eigentlich die ausschließliche Aufgabe, die Währung, den Euro, stabil zu halten, also Inflation zu verhindern. Es gilt die Obergrenze von zwei Prozent. Dafür, so die Idee der Euro-Väter, muss die Notenbank absolut unabhängig sein und darf sich von niemandem reinreden lassen. Wenn sie aber nun alle Konsequenzen ihrer Handlungen im Blick haben muss, also allgemeine Wirtschaftspolitik machen soll, dann müsste sie auch demokratisch legitimiert sein – also gerade nicht unabhängig. „Nur die Begrenzung auf ein enges geldpolitisches Mandat rechtfertigt die Unabhängigkeit", so Goldmann. Eine weitere Ironie ist, dass die Verfassungsrichter mit dem Urteil der Deutschen Bundesbank eine Bedingung stellen. Damit bekommt auch deren Unabhängigkeit einen Knacks.
Im Frankfurter Bankenviertel gehen die meisten davon aus, dass die EZB weiter Staatsanleihen kauft und damit den Mitgliedstaaten indirekt helfen wird, durch die Corona-Krise zu kommen, so wie sie ihnen zuvor durch andere Krisen geholfen hat. Erst im März hat sie ein neues Notfallprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro verabschiedet, das es ihnen erleichtert, recht günstig nötiges Geld zur Überwindung der Krise zu bekommen. „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln", sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde damals.
So hat das Urteil der Karlsruher Richter die paradoxe Konsequenz: Über kurz oder lang dürfte die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank immer unhaltbarer werden.
Die mächtige Institution mit ihren Tausenden Ökonomen und Juristen sieht dieses Problem natürlich genau. Die Reaktion aus Frankfurt auf das Urteil fiel entsprechend kühl aus. Die EZB erklärte, sie habe ihr Mandat nicht verletzt. Soll man etwa den Karlsruher Richtern folgen und damit eingestehen, dass man letztlich seine Macht von den Mitgliedstaaten übertragen bekommen hat und von diesen somit weiter abhängig ist? Für die EU-Kommission und die Befürworter schnellerer EU-Integration wäre das ein Rückschritt. Die Frage, wer in der EU was zu sagen und wer die Macht von wem geborgt hat, bleibt spannend.