Die Politik will den Gesundheitsbereich künftig stärker digitalisieren. Videosprechstunden, Rezepte via App und die digitale Patientenakte werden Realität. Erste Modellprojekte laufen bereits.
Die aktuelle Corona-Pandemie hat eines in Deutschland sicher beschleunigt: das digitale Angebot. Auch der Medizin könnte das helfen. Schon jetzt bieten einige Hausärzte die Möglichkeit zur Videosprechstunde, und auch Psychotherapeuten dürfen statt 20 Prozent ihrer Patienten zumindest übergangsweise alle online betreuen. Schon vor der Krise hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn damit begonnen, die Digitalisierung im Gesundheitsbereich voranzutreiben. Vorbei sein soll die Zeit, in der man sich mit einer Grippe zum Arzt schleppt, um dort eine Krankschreibung oder ein Rezept für die Apotheke drucken zu lassen, was wiederum erst noch von Arzt oder Ärztin gegengezeichnet werden muss. Während man im Wartezimmer womöglich noch ein paar andere Patienten angesteckt und selbst neue Bazillen mitgenommen hat. Ist das nicht einfacher zu lösen? Ohne Ansteckungsgefahr und mühsame Bürokratie?
Der Bundesgesundheitsminister hat einen Plan, der die Zettelwirtschaft beenden soll. Im Dezember 2019 ist das Digitale-Versorgungs-Gesetz in Kraft getreten. Für die rund 73 Millionen gesetzlich Versicherten kommt nun einiges in Bewegung. Das Gesetz soll den Patienten ab diesem Jahr unter anderem ermöglichen, Gesundheitsapps auf Rezept zu bekommen oder Online-Sprechstunden zu nutzen. Auch die Einführung einer elektronischen Patientenakte ist geplant. Ab 2021 müssen gesetzliche Krankenkassen ihren Versicherten eine solche anbieten. Zusammen sollen die Pläne das deutsche Gesundheitswesen digitaler machen. „Der Patient von morgen wird immer noch einen Arzt brauchen", so Spahn im Interview mit der ARD. „Aber er wird keinen Arzt mehr ernst nehmen, der nur noch über Karteikarten arbeitet."
Wie genau also soll die digitalisierte Medizinversorgung funktionieren? Als Herzstück der Digitalisierung gilt die elektronische Patientenakte (ePA). Sie soll 2021 eingeführt werden und den Austausch von Dokumenten zwischen verschiedenen Ärzten, Apothekern, Kliniken und Patienten erleichtern. So könnten Mediziner besser erkennen, welche Behandlungen schon erfolgt sind, und Doppeluntersuchungen vermeiden. Bislang speichern oder lagern Ärzte medizinische Dokumente in der Praxis oder Klinik. Der Austausch mit anderen Heilberuflern ist oft lückenhaft. Mitunter kommt es dadurch zu gefährlichen Wechselwirkungen von Arzneien. Der Patient und andere Ärzte haben keinen direkten Zugriff auf die Dokumente. Bei jedem neuen Arzt füllt der Patient wieder einen neuen Fragebogen aus und erzählt seine Krankengeschichte.
Dezember 2019 ist das Digitale-Versorgungs-Gesetz in Kraft getreten
Mit der elektronischen Patientenakte sollen Patienten die eigenen Gesundheitsdokumente via Tablet oder Handy einsehen und verwalten können. Dazu zählen etwa Medikationspläne, Röntgenbilder, Laborbefunde, Notfalldaten, Schmerztagebücher oder Infos aus Fitnesstrackern. Die Dokumente sollen verschlüsselt sein und in einem ePA-Aktensystem abgelegt werden. Patienten melden sich mit einer Zwei-Faktor-Authentisierung an, also etwa über ein registriertes Smartphone und ein Passwort. Dabei entscheiden sie selbst, welche Ärzte über welchen Zeitraum Zugriff auf die ePA haben dürfen. Die Heilberufler laden über einen geschützten Datentunnel Inhalte hoch oder runter. Der Versicherte kann Inhalte löschen. Die Krankenkasse darf nur Dokumente einstellen, aber nicht lesen. Die Patienten können selbst entscheiden, ob sie eine elektronische Patientenakte möchten oder nicht. Das Bundesjustizministerium hatte Bedenken in puncto Datenschutz, deshalb musste Spahn die Patientenakte aus seinem ersten Digitalisierungsgesetz zunächst ausgliedern.
Der Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Patientendaten soll die Zweifel nun beseitigen und der E-Akte den Weg ebnen. Das Gesundheitsministerium verspricht ein „Höchstmaß an Schutz". Auch die digitale Videosprechstunde soll Erleichterung bringen. Der Patient kommt also nicht wie bisher üblich in die Praxis, sondern telefoniert per Videoschaltung mit dem Arzt. Dadurch ist es auch möglich, dass Mediziner und Patient räumlich weit voneinander entfernt sind. Besonders gut lässt sich auf diese Weise zum Beispiel der Heilungsverlauf von Wunden begutachten. Aber auch Erkältungen können so behandelt oder Blutwerte besprochen werden. Vorteilhaft ist, wenn Arzt und Erkrankter sich bereits kennen. In den meisten Bundesländern ist die Videosprechstunde inzwischen aber auch ohne vorherigen persönlichen Kontakt möglich. Wer sie nutzen möchte, benötigt dafür ein Smartphone, ein Tablet oder einen internetfähigen Computer mit Kamera und Mikrofon. Vorreiter bei der digitalen Sprechstunde ist das Modell-Projekt „Docdirekt", das bereits im April 2018 in Baden-Württemberg gestartet ist. Gesetzlich Versicherte aus diesem Bundesland können bei akuten Erkrankungen, sofern sie ihren Arzt nicht erreichen, montags bis freitags zwischen 9 und 19 Uhr diese Stelle anrufen. Die Kosten trägt die jeweilige Krankenkasse. Medizinische Fachangestellte nehmen Personalien und Krankheitssymptome auf und klären die Dringlichkeit. Ein Arzt ruft dann per Telefon oder Video zurück. Im Idealfall kann er den Patienten abschließend telemedizinisch beraten. Falls es aber medizinisch erforderlich ist, leitet das Docdirekt-Team den Patienten an eine verfügbare Praxis eines niedergelassenen Arztes weiter. 250 bis 300 Patienten nutzen diesen Service im Monat.
„Docdirekt" ist Vorreiter bei der digitalen Sprechstunde
Untrennbar mit der Videosprechstunde verbunden ist das elektronische Rezept. Denn eine Online-Sprechstunde nutzt nur dann, wenn der Patient hinterher nicht wegen des Rezepts in die Praxis kommen muss. In Hessen arbeiten Hessischer Apothekerverband (HAV), Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH), AOK Hessen und DAK-Gesundheit daher gemeinsam an dem Pilotprojekt „More" zur Videosprechstunde mit E-Rezept, das bald starten soll. An zwei Tagen pro Woche soll eine Videosprechstunde von speziell geschulten Medizinern stattfinden. Sie ist für alle Kassenpatienten in Hessen zugänglich. Wer bei AOK und DAK versichert ist, kann dann Apotheke und Krankenkasse den Zugriff auf das elektronische Rezept erlauben. Dies geschieht mit einem speziell dafür entwickelten digitalen Schlüssel, ohne den man nicht zugreifen kann. Bisher haben sich beim Apothekerverband etwa 60 Apotheken aus ganz Hessen dafür registriert. Die Krankenkassen können die E-Rezepte dann über diesen Weg automatisch abrechnen. Zudem ist es mit dem E-Rezept möglich, automatisch zu prüfen, ob es unerwünschte Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten geben kann, die zuvor schon von anderen Ärzten verordnet wurden. Patienten können auch automatisch benachrichtigt werden, ob die Arznei in ihrer gewünschten Apotheke vorrätig ist.
Bei der Umsetzung dieses Projektes hat man sich in Hessen an einem Land orientiert, das in puncto Digitalisierung schon deutlich weiter ist: Estland. Mit dem sogenannten System X-Road soll zum Einsatz kommen, was auch in Estland einen Großteil des Datenaustausches ermöglicht. Bei der Umsetzung soll das estnische IT-Unternehmen Nortal helfen, das auch dort an der Digitalisierung des Gesundheitswesens mitgewirkt hat. Besonders die Sicherheit der Daten will man mit dem erprobten System gewährleisten.
Auch andere testen unterschiedliche Modellprojekte. Die Techniker Krankenkasse probiert beispielsweise in Hamburg im kleineren Rahmen eine Lösung für E-Rezepte und auch in Berlin werden elektronische Verordnungen erprobt. Der Erfolg der Projekte ist auch wegweisend für ganz Deutschland. Spätestens bis zum 30. Juni will die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (Gematik) die technischen Rahmenbedingungen für das E-Rezept festlegen. Die Gesellschaft wurde speziell dafür gegründet, die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen umzusetzen. In dem Grundgerüst, das sie Ende Juni festlegt, dürfen sich die verschiedenen Anbieter dann bewegen. Um eine möglichst gute Lösung zu finden, steht die Gematik mit verschiedenen Modellprojekten im Austausch und wartet auf die ersten Ergebnisse der Projekte. Spätestens ab 2022 sollen E-Rezepte dann bundesweit genutzt werden können.
Kritiker fürchten, dass Daten nicht genug geschützt werden
Neben der elektronischen Patientenakte, den Videosprechstunden und dem E-Rezept sollen vor allem Gesundheitsapps zum Einsatz kommen. Über 100.000 digitale Gesundheitsanwendungen in deutscher Sprache sind derzeit auf dem Markt. Einige sind kostenlos, für andere müssen Nutzer zahlen oder aber sie werden schon jetzt von bestimmten Krankenkassen bezahlt. Mit dem Digitalisierungsgesetz will die Regierung hilfreiche digitale Gesundheitsanwendungen schneller in die Regelversorgung bringen. Das bedeutet, dass der Arzt oder Psychotherapeut sie dann auf Rezept verordnen kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Technologie in Europa als Medizinprodukt zertifiziert ist. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte testet die Algorithmen anschließend auf Datensicherheit, Datenschutz und Funktionalität. Auch Qualität und Nutzerfreundlichkeit werden überprüft. Das soll in der Regel nicht länger als drei Monate dauern. Wenn die Gesundheitsanwendung zugelassen wird, sollen gesetzliche Kassen über einen Zeitraum von einem Jahr dafür die Kosten tragen. In dieser Zeit ist der Hersteller dann in der Pflicht, nachzuweisen, dass sein Produkt einen konkreten gesundheitlichen Nutzen hat. Die Anwendungen sind sowohl für Gesunde, akut Kranke und chronisch Kranke gedacht. Konkret sollen sie etwa bei Fitnessprogrammen, Meditation, gesunder Ernährung oder dem Umgang mit Schmerzen helfen. Auch an die Einnahme von Arzneimittel können sie erinnern oder Blutwerte des Patienten dokumentieren. „Viele Ärzte stehen dem Einsatz von Gesundheitsapps offen gegenüber. Aber hier gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen", sagt Norbert Butz, Digitalisierungsexperte der Bundesärztekammer in Berlin gegenüber der „Apotheken Umschau". Es müssten strenge Standards gelten. Gesundheitsanwendungen seien ein Risiko, wenn sie nicht wirken, fehlerhaft arbeiten oder vertrauliche Daten an Dritte übermitteln.
Kritiker des Digitale-Verordnungs-Gesetzes befürchten genau das: dass Daten nicht sicher genug geschützt seien und es etwa zu Hackerangriffen auf sie kommen könne. Zudem sieht das Gesetz auch vor, Gesundheitsdaten pseudonymisiert der Forschung zur Verfügung zu stellen – was von Datenschützern bemängelt wird. Die digitale Medizin ist in anderen Ländern längst üblich. In Estland, Kanada oder Dänemark beispielsweise sind Kliniken, Ärzte, Krankenkassen und Apotheken seit Jahren vernetzt und elektronische Patientenakten Standard. Deutschland dagegen belegt bislang im Digital-Health-Index der Bertelsmann-Stiftung Platz 16 von 17 untersuchten Ländern. Um das zu ändern, hat der Gesundheitsminister klare Regeln aufgestellt: Ärzte, die bis 1. März noch nicht an die Telematikinfrastruktur angeschlossen waren, erhalten erhöhte Honorarabezüge. Apotheken sollen sich bis Ende September anschließen, um für das E-Rezept gerüstet zu sein, Kliniken bis zum 1. Januar 2021. Spahn hat außerdem die staatlichen Anteile an der Gematik auf 51 Prozent aufgestockt, dortiges Personal ausgetauscht und den sogenannten Health Innovation Hub ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um ein zwölfköpfiges Expertenteam um Professor Jörg Debatin, der das Universitätsklinikum Hamburg schon vor Jahren zum papierärmsten Krankenhaus Deutschlands umgebaut hat. Es herrscht – das kann man sagen – Aufbruchstimmung in der Welt der Medizin.