Zwischen Homeoffice, Homeschooling, Gesundheitssorgen und Existenzängsten kann es derzeit schnell zu Konflikten kommen. Auch was lange geschwelt hat, kann nun hochkochen. Wie man damit umgehen kann, erklärt Kommunikationspsychologin Laura Kutsch.
Es ist einfach alles zu viel im Moment" – den Satz höre ich gerade häufig. Eltern erzählen, dass sie am Rande ihrer Belastbarkeitsgrenze sind. Sie sollen möglichst produktiv sein bei der Arbeit im Büro oder im Home-office, gleichzeitig die Kinder betreuen oder gar unterrichten, in manchen Fällen kommen noch Paar- oder Familienprobleme dazu, die schon vor Corona bestanden haben. Jetzt sind alle auf engem Raum und müssen miteinander klarkommen. Alleinerziehende berichten, dass sie keine Ahnung haben, wie sie diese Situation über einen längeren Zeitraum stemmen sollen. Obwohl sie das nicht wollten, würde es schneller laut im Umgang mit den Kindern. Auf die Großeltern können sie derzeit betreuungstechnisch nicht zurückgreifen. Nicht alle Älteren wollen das einsehen und leiden unter dem Mangel an Kontakt – auch das ein weiterer Grund für Konflikte. An Auslösern für Streitigkeiten mangelt es derzeit wirklich nicht. Zwischen Familien, Paaren, Nachbarn und Kollegen genauso wie mit Kindern oder auch nur mit Menschen im Supermarkt, die sich nicht an Hygieneregeln halten – die Situationen kochen schneller hoch, und so manches Mal knallt es richtig.
Wie also umgehen mit solchen Konflikten? Wichtig ist, sich zunächst bewusst zu machen, dass wir uns in einer gesellschaftlichen Extremsituation befinden. Gesundheitssorgen, Existenzängste oder soziale Isolation führen bei vielen Menschen zu einer Art Grundanspannung. Die gewohnten Ablenkungs- und Ausweichmöglichkeiten aber sind deutlich geringer geworden. In engen räumlichen Verhältnissen entsteht zudem der sogenannte Dichtestress. Umgangssprachlich reden wir häufig vom Lagerkoller. Den kennen wir zum Beispiel aus Kriegsgefangenenlagern, Flüchtlingslagern, Notunterkünften oder Katastrophenschutzlagern, wenn die Bedingungen dort belastend und unabsehbar lange dauern. Koller kommt übrigens vom althochdeutschen kolero, was so viel bedeutet wie Wut und meint eine plötzlich aufbrechende oder stille, schwere psychologische Erregung, die sich aus einer Umgebung oder Situation ableiten lässt. Er äußert sich bei einzelnen Personen in Angst, Wut, Verzweiflung, Überaktivität sowie depressiven Zuständen.
Eine Art Grundspannung bei vielen Menschen
Nun lassen sich die Quarantänemaßnahmen in Deutschland nicht mit Zwangsinhaftierungen vergleichen, aber wir können die psychologische Forschung zu solchen Extremsituationen für uns nutzen. Es ist ratsam, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass viele Konfliktsituationen, die wir gerade erleben, von dieser Extremsituation befeuert werden. In vielen Fällen ist es deshalb angesagt, nachsichtiger mit sich und anderen zu sein. Vielleicht hat der Nachbar, der Sie gerade angeraunzt hat, wichtige Aufträge verloren, oder der unfreundliche Kollege sorgt sich um kranke Angehörige. Auch so manche Ansprüche, die derzeit gestellt werden, sind nicht erfüllbar. Wer zu Hause eine Videokonferenz nach der anderen abhält, kann nicht gleichzeitig mit dem Kind für die Schule üben. Es wirkt präventiv, wenn wir unrealistische oder überhöhte Ansprüche an uns und andere verringern. Das bedeutet beispielsweise, dass das Kind mal außer der Reihe TV schauen oder etwas Süßes essen darf, wenn gerade ein wichtiges Meeting ansteht. Es bedeutet auch, sich damit anzufreunden, bestimmte Dinge momentan nicht schaffen zu können. Das ist okay – wir leben inmitten einer Pandemie.
Auch Streit und Konflikte sind in einem gewissen Maß normal und in Ordnung. Wo Menschen zusammenkommen, streiten sie sich. Das muss nicht zwangsläufig destruktiv verlaufen. Mithilfe von bestimmten Regeln und Tipps können wir lernen, besser zu streiten. Hugo Mercier, ein Evolutionsbiologe aus der Schweiz, beispielsweise nennt den Streit einen Weg, um Fehler zu korrigieren, und ein Vehikel des Fortschritts. Damit das gelingen kann, gibt es zwar keine allgemeingültigen Heilmittel, aber ein paar praktische Tipps, wie wir mit Konflikten umgehen können oder schon präventiv tätig werden.
Im Hinblick auf die aktuelle Corona-Krise ist es insbesondere für Menschen, die mit anderen zusammenleben, hilfreich, sich gute Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass es klar definierte Stunden gibt, die man gemeinsam beziehungsweise alleine verbringt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Räume innerhalb der Wohnung oder des Hauses – wenn dies möglich ist – einzuteilen und sie bestimmten Personen zuzuweisen. Ich kenne Menschen, die derzeit einen Tisch mit Laptop im Badezimmer stehen haben, weil sie dort am meisten Ruhe finden. Auch simple Dinge wie Kopfhörer im Ohr können helfen, sich besser abzugrenzen und sich weniger von lauten Nachbarn oder fluchenden Familienmitgliedern beeinflussen zu lassen. Genauso können, ein paar Minuten am offenen Fenster durchzuatmen oder sich mit einem guten Buch zurückzuziehen, dazu beitragen, sich zu beruhigen und positivere Gedanken zu fassen. Auch die tägliche Joggingrunde oder der Spaziergang durch den Park sind Möglichkeiten, sich zurückzuziehen.
Präventiv tätig werden
Kurzfristige Konflikte wird es vermutlich bei den meisten Menschen immer mal wieder geben. Dabei kann es schon helfen, Ärger anzusprechen, bevor Situationen eskalieren. Gleichzeitig kann es besonders schwierige Themen oder überwältigende Situationen geben, die man derzeit vielleicht besser meidet und nicht ausficht, solange die Krise in vollem Gange ist. Präventiv kann es auch hilfreich sein, eine Art Mini-Krisenstab ins Leben zu rufen und in regelmäßigen Abständen zu besprechen, wie es den Beteiligten gerade geht, wer was braucht und welche Ideen oder Wünsche einzelne Mitglieder haben. Auch Hilfe von außen kann gut funktionieren. So ist es etwa denkbar mit engen Bezugspersonen wie Lehrkräften, Sozialpädagogen oder Psychologen Vereinbarungen darüber zu treffen, ob diese in Stresssituationen kontaktiert werden können.
Beim Streiten selbst sollte man eher in Ich-Botschaften sprechen. Das heißt, dem Gegenüber nicht zu kommunizieren „Du hast schon wieder …" oder „Nie machst du …, du Idiot". Besser ist, wenn Sie mitteilen, was bei Ihnen ankommt. Zum Beispiel „Ich merke, dass ich gerade überfordert bin mit deiner Angst und nicht weiß, wie ich damit gut umgehen kann." Lassen Sie auch hier möglichst Nachsicht walten und versuchen Sie, dem anderen zu unterstellen, dass er oder sie mit der bestmöglichsten Absicht handelt. Um Missverständnissen vorzubeugen, können Sie noch mal aufgreifen, was von dem, was der andere gesagt hat, bei Ihnen angekommen ist. Vielleicht haben Sie etwas anders aufgefasst, als Ihr Gegenüber das gemeint hat? Lassen Sie sich dabei unbedingt ausreden und hören Sie zu. Melden Sie umgekehrt auch eigene Bedürfnisse klar an und kommunizieren, was Sie fühlen und sich (künftig) wünschen. „Streiten ermöglicht, sich selbst und andere besser kennenzulernen, Wünsche, Gefühle und Interessen in Worte zu fassen", schreibt etwa die Konfliktforscherin Susanne Jalka. Vielleicht versuchen Sie mal, den Streit nicht als zwingend destruktiv, sondern als Chance zu einem besseren Zusammenleben und einer besseren Verständigung mit dem anderen zu sehen.
Streit muss nicht immer destruktiv sein
Eskaliert ein Streit stark oder haben Sie das Gefühl, sich nur noch im Kreis zu drehen oder gegenseitig immer weiter hochzuschaukeln, erinnern Sie sich daran, dass Sie nicht alles sofort lösen müssen. Sie können genauso gut eine Pause einlegen, um eine Runde an die frische Luft zu gehen, einen neuen Termin finden, an dem Sie den Konflikt gemeinsam weiter besprechen oder ihn später mit mehr Abstand – etwa schriftlich aus zwei verschiedenen Zimmern – austragen. Probieren Sie aus, was Ihnen hilft und guttut.
Eskaliert ein Konflikt so weit, dass es zu Gewalt kommt oder beobachten Sie das bei anderen, ist es wichtig, sofort zu reagieren. Betroffene finden akute Unterstützung bei der Polizei unter -110, beim kostenlosen Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" (08000-116016), der Telefonseelsorge (0800-1110111) oder der Nummer gegen Kummer (für Kinder und Jugendliche, 0800-111033).
Bleibt ein Konflikt auf einem „normalen Niveau" kann es nützlich sein, diesen auch im Nachgang noch mal zu reflektieren. Was bringt Sie und/oder den anderen derzeit so auf die Palme? Gibt es spezielle situationsbedingte Auslöser und können Sie diese vielleicht ausschalten, indem Sie gute Lösungen dafür finden? Gibt es generelle Auslöser, also Themen oder wunde Punkte, bei denen Sie schnell auf 180 sind? Hier wäre es gut, Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen, Trigger-Punkte aufzuspüren, sie nach Möglichkeit zu lösen oder Maßnahmen zu finden, gut mit ihnen umzugehen. Geben Sie eigene Fehler zu und verbeißen Sie sich bei Konflikten nicht in die Schuldfrage – viel wichtiger ist es, Dynamiken zu erkennen und nach Lösungen zu suchen. Vielleicht haben Sie ein bestimmtes Verhalten in Konflikten, sind schnell auf die Palme zu bringen oder bleiben nach außen ruhig, brodeln aber innerlich. Vielleicht ziehen Sie sich auch sofort zurück oder versuchen, Konflikte von vornherein zu vermeiden, sodass Ihr Fass irgendwann überläuft. Möglicherweise gibt es auch Tageszeiten oder Situationen, die für Sie derzeit besonders stressig sind und sich nicht gut eignen, um Konflikte auszutragen.
„Konfliktvereinbarungen"
Sie können sich nach einem Konflikt noch mal unterschiedliche Fragen stellen wie beispielsweise: Was ist passiert, wie fühle ich mich damit, welches Bedürfnis steckt dahinter und welche Handlungsschritte sind möglich? Sie können mit den Menschen, mit denen Sie zusammenleben, konkrete „Konflikt-Vereinbarungen" treffen und diese beispielsweise an den Kühlschrank pinnen, oder Sie sprechen mit engen Bezugspersonen darüber. Sollten Sie selbst nicht weiterkommen, scheuen Sie sich nicht professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denken Sie daran, dass der Streit nichts Schlechtes sein muss, sondern immer auch „ein Vehikel des Fortschritts" sein kann.