Lodz entwickelte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts von einer kleinen unbedeutenden Stadt zu einer aufstrebenden Textilindustrie. Die architektonischen Zeugen des Kapitalismus zählen heute zu den interessantesten Industriedenkmälern der Welt.
Auf den ersten Blick keine Stadt zum Verlieben. Hohe Plattenbauten, unübersichtlich, uniform. Ohne Altstadtkiez. Den besonderen Charme des zerklüfteten Stadtbildes prägen die Spuren einer wechselvollen Geschichte. In das einst verschlafene Dorf, von Wäldern umgeben und von Flüssen durchzogen, kamen Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Unternehmer aus ganz Europa und witterten das große Geld. Juden, Russen, Polen und vor allem Deutsche, Handwerker aus Sachsen, dem Niederrhein oder Preußen. Lodz war die erste Sonderwirtschaftszone Europas. Wer hier Fabriken baute, musste weder Steuern noch nennenswerte Zinsen für Kredite bezahlen.
Die unzähligen Villen und Paläste zeugen noch heute vom einstigen großen Traum der Lodzer Unternehmer. Die Textilbarone, Industrielle und Spekulanten aus verschiedensten Ländern schufen gewaltige Fabrikstädte, in denen sie Baumwollstoffe für Russland und Mitteleuropa produzieren ließen. Man sprach vom „Manchester Polens" und vom „Gelobten Land". In Wladislaw Reymonts gleichnamigem Roman beschließen ein Pole, ein Deutscher und ein Jude, eine Fabrik zu bauen. „Vergiss nicht, dass du in Lodz bist", spricht der Held an einer Stelle des Epos zu einem Freund. „Lodz, das ist ein Wald, eine Wüste. Hast du scharfe Krallen, dann geh mutig vorwärts und erwürge rücksichtslos deinen Nächsten, sonst erwürgen sie dich, saugen dich aus und werfen dich rücksichtslos beiseite." Reichtum, Ehrgeiz, ungebremster Kapitalismus – der Hang zum Größenwahn nahm seinen Lauf. 1837 eröffnete Ludwik Geyer aus Zittau die erste Fabrik mit anfangs 100 Webstühlen. Sein wirtschaftlicher Erfolg zog weitere Siedler an, die ihre Chance für Wachstum und Aufstieg am Schopfe packten.
200 Webstühle ratterten gleichzeitig
1872 ließ Izrael Poznanski die erste mechanische Weberei errichten. Es folgten ein gigantischer Komplex mit Weberei, Spinnerei, Bleiche, Färberei und eine Druckerei. 7.000 Arbeiter waren darin beschäftigt. Heute ein Fabrikmuseum, dokumentiert es auch, dass sein Reichtum mit dem Schweiß der Arbeiter bezahlt wurde. So ist der höllische Lärm in der Spinnerei kaum auszuhalten, wenn zu Demonstrationszwecken für wenige Minuten ein Webstuhl angeschaltet wird. Damals ratterten 200 Webstühle gleichzeitig den ganzen Tag lang. Die Schichten dauerten 16 Stunden, auch Kinder standen an den Maschinen. Arbeiter, die mehrere Jahre den Webstuhl bedienten, wurden fast zwangsläufig taub.
Poznanskis größter Konkurrent war Karl Scheibler aus dem Rheinland, der als „Polnischer Baumwollkönig" innerhalb kurzer Zeit als reichster Bürger von Lodz galt. Als er starb, soll er ein Vermögen von zwölf Millionen Rubel hinterlassen haben. Die Arbeiter dagegen litten unter Armut und Not. Fünf Rubel pro Woche verdienten sie und schindeten im Rhythmus der Maschinen. Auf den Straßen war es dreckig, die Luft voller Ruß, der durch die Schornsteine quoll.
1870 erwarb Karl Scheibler das städtische Gebiet Ksiezy Mlyn, auch Pfaffendorf genannt. Auf der ehemaligen Mühlensiedlung eines örtlichen Pfarrers ließ er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Tausende seiner Mitarbeiter den größten historischen Fabrikkomplex in Lodz bauen, zahlreiche Fabrikgebäude, Wohnsiedlungen, Villen von Direktoren, eine Schule, Krankenhäuser, eine Feuerwache, eine Gasfabrik sowie Gärten und Parks. Die Arbeiterwohnungen waren ausschließlich für die Familien von qualifizierten Mitarbeitern vorgesehen, die in seiner Fabrik arbeiteten.
Durch die beiden Weltkriege brach das Industrie-Imperium zusammen. Die Einwohnerzahl schrumpfte immens. Viele Polen wurden umgebracht, es folgten Massentransporte in die Konzentrationslager, ein Großteil der deutschen Einwohner flüchtete in das Deutsche Reich. Später, im sozialistischen Polen, verstaatlichte man die Fabriken. Ihre Schlote rauchten weiter bis in die späten 80er-Jahre. Dann setzte der völlige Niedergang der Textilindustrie ein. Die Fabriken und Paläste rotteten vor sich hin.
Doch längst hat sich die Stadt auf ihr industrielles Erbe besonnen. Heute wirkt die sanierte Scheibler Siedlung von Pfaffendorf mit den Kopfsteinpflasterwegen nahezu romantisch. In einem Teil der ehemaligen Fabrikanlage arbeiten junge Kreative. „Kunst Inkubator" heißt der Komplex, in dem vielfältige kulturelle Veranstaltungen stattfinden, Modeschauen oder das jährliche „Lodz Design Festival". Die opulente Villa des Baumwollfabrikanten Karl Scheibler gibt Einblick in das Ausleben des einstigen feudalen Reichtums. In den Innenräumen stößt man auf Filmplakate, Schneideplätze und Projektoren. Teile der weltweit renommierten Lodzer Filmhochschule sowie das Filmmuseum sind in der Villa untergebracht.
Ähnlich wie in Manchester zog überall neues Leben in die alten Betriebe. Ein geschwungenes Tor aus rotem Backstein mit Türmchen im Stil der Neorenaissance lädt ein in die einstige Baumwollspinnerei mit der berühmten Werkspforte zum Fabrikgelände des jüdischen Unternehmers Izrael Poznanski. Damals mit eigenem Dampfkraftwerk und Feuerwehrwache, war es eines der größten Textilbetriebe weltweit.
Das ehemalige Werksgelände wandelte sich zur „Manufaktura", in die Museen einzogen, Kulturzentren, Konsumtempel und das „Andel’s Designhotel" mit meterhohen Turbinen und bronzefarbenen Maschinen inmitten des historischen Foyers. Die alten Backsteinbauten werden nun als Lofts, Bowlingcenter, Kino und Theater genutzt.
Street Art mit internationalen Stars
Das Museum Sztuki zeigt in der früheren Weberei seine großartige Sammlung polnischer Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts. Und wo einst die Baumwollstoffe in die Endfertigung gingen, erzählt das Museum Fabryki anschaulich die Geschichte des Poznanskischen Imperiums sowie die schwierigen Bedingungen, unter denen die Arbeiter schuften mussten.
Nur wenige Meter neben den Werkshallen ließ Izrael Poznanski seine schlossartige Villa nach dem Vorbild des Pariser Louvre erbauen. Als der Auftraggeber gefragt wurde, welchen Stil er bevorzuge, soll er geantwortet haben: „Ich kann mir alle Stile leisten". Die Bauarbeiten an seinem Stadtpalast, der schließlich in einem Mix aus Neobarock und Jugendstil erbaut wurde, dauerten 20 Jahre. Innen ein Ballsaal mit hohen Wänden und hohen Spiegeln. Heute ist in einem Teil des Poznanski Palastes das Museum für Stadtgeschichte untergebracht. Der geniale Pianist Artur Rubinstein erhielt hier einen Ehrenplatz.
Zahlreiche alte Gründerzeithäuser, Fabrikantenvillen, Paläste, Kirchen und Denkmäler umsäumen den Prachtboulevard in Lodz. Er ist mit knapp viereinhalb Kilometern eine der längsten Einkaufsstraßen Europas. Ein erhaltenes Ensemble originaler Großstadtarchitektur aus dem 19. Jahrhundert im Stil des Historismus, des Eklektizismus und des Jugendstils. Seit den 90er-Jahren wurde die „Piotrkowska" restauriert, heute ist sie die Flaniermeile der Stadt. Hier wurden mehrere Persönlichkeiten verewigt wie der Dichter Julian Tuwim. Wer durch Lodz schlendert, kommt zudem in den Genuss einer kostenlosen Kunstgalerie internationaler Stars der Street-Art-Szene. Sie ist ein Teil der Identität von Lodz geworden. Mehr als 50 großformatige Wandmalereien schmücken die Häuser, so auch das Muriel mit dem Pianisten Artur Rubenstein auf der Wandmalerei von Eduardo Kobra. Auf der szenigen Piotrkowska, etwas abseits der Hauptstraße, hat sich ein Sammelsurium aus Cafés und Boutiquen einquartiert, ebenfalls ein ehemaliges Baumwollspinnerei-Gelände. Im Gegensatz zur makellos sanierten „Manufaktura" strahlen die rußig-speckigen Backsteinfassaden noch immer das raue Fabrikklima aus. Golden schimmern dagegen die Gedenksteine auf der Allee der Sternchen, die ins Straßenpflaster eingelassen wurden. Auf einem ist der Name des weltbekannt gewordenen Autors Wladislaw Reymont verewigt. Sein Roman und dessen Verfilmung „Das gelobte Land" von Regisseur Andrzej Waijda gehören zum kulturellen Erbe der polnischen Nachkriegsgeschichte.