Am vergangenen Wochenende hat die Fußball-Bundesliga den Spielbetrieb wieder aufgenommen. Mit Geisterspielen. FORUM-Autor Holger Schmidt war bei dem in Köln dabei und schildert seine Erfahrungen.
Vor 16 Jahren war ich schon einmal bei einem Geisterspiel dabei gewesen. Es war das erste überhaupt im deutschen Fußball gewesen. 2004 in der 2. Liga zwischen Alemannia Aachen und dem 1. FC Nürnberg. Weil Nürnbergs Trainer Wolfgang Wolf von einem Wurfgeschoss am Kopf getroffen worden war, musste das Spiel wiederholt werden, und Fans wurden nicht zugelassen. Im Stadion herrschte damals tatsächlich eine gespenstische Stimmung. Doch die Arbeit war für uns Journalisten dieselbe. Wir saßen dicht gedrängt auf der Pressetribüne, durften nach dem Spiel mit den Spielern sprechen und zur Pressekonferenz gehen.
An diesem Sonntag bin ich nun bei meinem ersten Geisterspiel der Corona-Zeit, und es sind ganz andere Voraussetzungen. Denn nichts ist so wie im Alltag. Dass ich überhaupt dabei sein darf, empfinde ich als Privileg. Denn nur zehn Print-Journalisten dürfen überhaupt ins Stadion. Und weil mein Arbeitgeber, die Deutsche Presse-Agentur, alle Medien beliefert, gehören wir dazu.
Ich fahre am Sonntag trotzdem mit einem etwas mulmigen Gefühl in Richtung Stadion. Habe ich nicht in den vergangenen zehn Wochen meine sozialen Kontakte bewusst quasi komplett runtergefahren? Und nun soll ich wieder unter Menschen? Wenige zwar, aber immerhin. Sonst nehme ich oft die Bahn ins Kölner Stadion, weil ich nur fünf Kilometer entfernt wohne. Ich sauge schon dort die Stimmung in mich auf. Mag es, wenn sich 50.000 Menschen in freudiger Erwartung auf den Weg in ein Stadion machen. An diesem Tag fahre ich natürlich mit dem Auto. Von einem Sonderparkplatz vor dem Stadion geht es zum Medien-Eingang. Dort muss ich zunächst meine Hände desinfizieren und kriege Fieber gemessen. Gott sei Dank, nur 36,2 Grad. Bei über 38 Grad wäre mir der Einlass verweigert worden. Dann zeige ich meinen Personalausweis vor und übergebe ein ausgefülltes Gesundheits-Formular. Im Gegenzug bekomme ich dann meine Tages-Akkreditierung.
Strenge Vorkehrungen
Nach Vorzeigen dieser werde ich gebeten, direkt auf die Tribüne durchzugehen. Normalerweise treffen sich die Journalisten vor dem Spiel immer im Presseraum. Es wird etwas gegessen und getrunken, der W-Lan-Zugang wird gecheckt, die Aufstellungen durchgegeben und gefachsimpelt. Diesmal geht es eben direkt zum zugewiesenen Platz. In einer Reihe mit neun Sitzen sitze ich alleine.
Ich kenne das Kölner Stadion wie meine Westentasche. Rund 150 Spiele, sagt meine App, habe ich inzwischen hier gesehen. Und doch fühle ich mich wie an einem völlig anderen Ort. Ja, sogar verglichen zum sonstigen leeren RheinEnergie-Stadion, das ich von Pressekonferenzen, Präsentationen oder sonstigen Veranstaltungen erlebt habe.
Wir Journalisten müssen natürlich Schutzmasken tragen. Und zwar vom Moment des Betretens des Stadions bis zum Verlassen. In jeder Reihe sitzt ein Kollege, wir kommen uns nicht zu nahe, begrüßen uns nicht per Handschlag und rufen ab und zu mal was unter unseren Schutzmasken hindurch herüber. Das W-Lan funktioniert freilich so problemlos wie selten. Es sind eben diesmal keine 50.000 Menschen im Stadion, die ihren Liebsten ein Selfie aus dem Fanblock schicken. Dafür bekommen wir die Aufstellung diesmal nicht auf einem Spielberichtsbogen, auf dem man sonst so wunderschön rumkritzeln und die Auswechslungen sowie die Gelben Karten notieren kann.
Alleine in einer Reihe
Über das, was rund ums Spielfeld alles anders läuft, weiß ich vor dem Gang ins Stadion schon Bescheid. Schließlich haben am Samstag schon sechs Spiele dieses ersten Spieltags nach dem Re-Start stattgefunden. Die Bälle werden, nachdem sie aus dem Spielfeld fliegen, desöfteren desinfiziert. Die Spieler sollen nicht auf den Platz spucken, sie sollen dem Gegner nicht vom Boden aufhelfen und nicht Arm in Arm jubeln. Woran sich außer den Spielern von Hertha BSC die allermeisten gehalten haben.
Als das Spiel losgeht, spüre ich schnell ungewohnte Probleme. Denn sehr schnell beschlägt meine Brille. Die trage ich im Alltag nicht, nur beim Fernsehen, wenn ich nachts Autofahre oder eben im Stadion. Irgendwann konnte ich die Rückennummer 6 kaum noch von der 8 unterscheiden, also ging ich zum Optiker. Ohne Brille bin ich nicht blind, doch wenn ich gewissenhaft berichten will, muss ich sie aufziehen. Ich hatte aber bisher noch nie gleichzeitig eine Brille und eine Schutzmaske auf. Denn letztere trage ich nur beim Einkaufen – und dort brauche ich keine Brille. Was ich aber beim Einkaufen schon bemerkt habe: Nach spätestens einer halben Stunde zwickt die Maske hinter den Ohren. Länger habe ich sie da aber kaum auf. Nun muss ich sie etwa vier Stunden aufbehalten. Aber nutzt ja nix. Und Jammern gilt nicht, wenn man dienstlich dabei ist, wenn Sportgeschichte geschrieben wird. Wenn eben auch aus Gründen, die wir alle so nie erwartet und nie gewollt haben.
Die Kölner, die den Stadionbesuch mehr als viele andere als Erlebnis preisen, bemühen sich um größtmögliche Normalität. Oder zumindest darum, die Geisterstimmung so gut wie möglich wettzumachen. Geißbock Hennes IX. – das lebende Maskottchen, das Stadionverbot hat – wird über einen zum Spielfeld gerichteten Bildschirm via Videoschalte aus dem Kölner Zoo zugeschaltet. Normalerweise läuft der Geißbock einige Minuten vor dem Anpfiff zur Musik des Boxer-Films „Rocky" ins Stadion ein. Auf der Osttribüne erzeugen rund 1.300 Glücksbringer von Dauerkarten-Besitzern, von Trikots über Schals bis zu Teddybären, eine Choreo. Im Stadion laufen die Stadion-Hymne „Mer stonn zo dir, FC Kölle" und bei Treffern auch die Tor-Hymne „Wenn et Trömmelche jeht".
Dennoch gibt es keine Ablenkung durch den Blick durchs Stadion. So kann man sich mehr auf das Spiel konzentrieren. Und man hat das Gefühl, dass auch die Spieler nach wenigen Minuten sämtliche Unsicherheit ablegen. Dass sie laufen und grätschen als sei alles so wie immer. Schnell entwickele ich eine Freude daran, endlich einmal hören zu können, was auf dem Platz alles gerufen wird. Ich verstehe Anweisungen und auch Flüche von Trainern und werde Zeuge eines kuriosen Dialogs. Schiedsrichter Guido Winkmann redet mit dem am Boden liegenden Kölner Jhon Cordoba, der zuvor nach einem Foul so laut geschrien hat, dass es für kurze Zeit im Stadion wirklich komplett ruhig war. Mainz-Trainer Achim Beierlorzer moniert, Winkmann entgegnet: „Das habe ich ihm jetzt schon dreimal gesagt". Offenbar hat er Cordoba schon eben so oft gefragt, ob er ärztliche Hilfe brauche. Beierlorzer, der den Kolumbianer Cordoba aus gemeinsamen Zeiten in Köln kennt, entgegnet: „Aber er versteht‘s doch nicht." Winkmann kommt dem Trainer entgegen, beide reden kurz, dann läuft Winkmann weg und ruft lachend: „Spanisch kann ich nicht so viel. Nur Cerveza." Also Bier. Beierlorzer lacht, Cordoba erhebt sich und spielt weiter. So locker geht es also oft da unten zu.
Was mich komplett irritiert, ist aber der doppelte Marcus Lindemann. Der Kollege von Sky sitzt eine Reihe schräg hinter mir und kommentiert das Spiel live. Bei einem normalen Spiel bekomme ich davon nichts mit, diesmal verstehe ich jedes Wort. Und mit rund drei Sekunden Verzögerung dann noch mal aus dem auf der Pressetribüne stehenden Fernseher.
Interessante Dialoge
Nach dem Schlusspfiff springen wir Journalisten normalerweise direkt auf und eilen in die Mixed Zone, um uns die besten Plätze für die Spieler-Interviews zu sichern. Und versuchen dort unten, nicht zu verpassen, wie die Trainer an uns vorbei in den Pressekonferenz-Raum laufen. Diesmal bleiben wir alle artig auf unserem Platz sitzen. Knapp eine halbe Stunde nach Schlusspfiff beginnt die Pressekonferenz per Videoschalte. Wenn wir eine Frage haben, schreiben wir in den Chat und werden akustisch freigeschaltet. Es klappt so gut es eben geht in diesen Zeiten.
Bis zum 1. Juni – nur bis dahin ist die Bundesliga aktuell terminiert – werde ich noch bei vier weiteren Spielen in drei verschiedenen Stadien sein. Ich werde mich an diese Geisterspiele gewöhnen müssen. So richtig dran gewöhnen werde ich mich nie. Die Fans gehören einfach zum Fußball, schließlich stand ich selbst jahrelang in der Kurve. Aber ich werde es auch immer als Privileg empfinden, dabei sein und darüber berichten zu können. Ob die Saison wirklich zu Ende gespielt werden kann, weiß niemand. Doch nach diesem ersten Spieltag weiß ich: Die Liga hat zumindest alles getan, damit es klappen kann. Die Vorkehrungen, auch für uns, sind fast schon übervorsichtig. Aber wir fühlen uns sicher. Trotzdem freue ich mich schon jetzt auf das nächste Spiel in einem proppenvollen Stadion. Auf die Anreise mit der Bahn. Auf Fangesänge. Auf den Austausch mit Kollegen. Auf das Gedränge in der Mixed Zone. Dass ich dann auf dem Spielfeld nicht mehr jedes Wort verstehe und das W-Lan ruckelt, kann ich dann verkraften.