In schwierigen Zeiten besinnen sich die Designer vermeintlich sicherer modischer Wurzeln aus vergangenen Jahrhunderten. Derzeit haben sie vor allem Rokoko und Renaissance im Blick. Mit üblichem Retro oder Vintage hat das aber nichts zu tun.
Dass sich die Designer für ihre jeweils neuen Kollektionen Saison für Saison Inspirationen aus den 50 bis 60 Jahre zurückliegenden modischen Dekaden holen, dürfte allgemein bekannt sein. Stichwort Retro- oder Vintage-Look. Zuweilen gingen sie bei ihrem Archivestöbern auch mal etwas weiter in der Historie zurück. Zuletzt fand vor allem das Viktorianische Zeitalter, benannt nach der langen Regentschaft von Queen Victoria zwischen 1837 und 1901, ihr Hauptinteresse. Das Gesamtbild war mehrheitlich von düsteren Farben und Schwarz geprägt. Selbiges galt auch schon als Vorbild für den Punk- oder Gothic-Style. Schließlich bekannte sich die Königin nach dem frühen Tod ihres Gatten lebenslang zur Trauer, ihr persönliches Outfit sollte daher als „Victorian Mourning" (mourning = Trauer, Trauerkleidung) in die Fashion-Geschichte eingehen.
Auch einzelne modische Details wie Spitze, Rüschen, Volants oder Schößchen wurden bei der Gestaltung von Blusen mit Ballon-, Puff- oder Hammelkeule-Ärmeln aufgegriffen. Die Korsage nicht zu vergessen, die häufig nach dem historischen Original mit weit ausbauschenden, voluminösen Röcken kombiniert wurde, wodurch die Taille schlank und die Hüfte ausladend betont wurde. Der glockenförmige, mit Stahlstreifen verstärkte Unterrock namens Krinoline war dafür aber nicht mehr nötig. Auch nicht deren hufeisenförmiger Gesäßauflage-Nachfolger namens Turnüre. In der vergangenen Wintersaison hatte beispielsweise das Label Rodarte viktorianische Blusen in strahlendem Weiß mit Puffärmeln in seinem Sortiment, bei Alexander McQueen waren Kostüme mit Goth-Flair zu sehen. Diesen Sommer hat sich das britische Traditionshaus Burberry seiner viktorianischen Entstehungswurzeln erinnert – Designer Ricardo Tisci greift für seine Streetstyle-tauglichen Looks vor allem auf viktorianische Spitze und voluminöse Ärmellösungen zurück, schenkt aber auch der geschnürten Taille seine Aufmerksamkeit. Kommenden Winter wird der viktorianische Look in den Kollektionen von Rodarte, Khaite, Gucci oder Brock unübersehbar aufscheinen mit bodenlangen, voluminösen, langärmeligen, weit ausgeschnittenen Röcken und Kleidern.
Es haben sich aber auch andere ferne Epochen als Inspirationsquelle für gewisse Fashion-Designer aufgetan. So finden sich beispielsweise spätmittelalterlich anmutende Hauben aktuell in den Kollektionen von Paco Rabane, Michael Kors, Loewe oder Richard Quinn, die allesamt als moderne Hoods durchgehen können. Beim Label Paco Rabanne gab es zudem Kleider zu bestaunen, die verblüffend an Kettenhemden erinnerten, wie sie womöglich Frankreichs Nationalheldin Jeanne d’Arc beim Vorrücken gegen die Engländer getragen haben könnte.
Viktorianische Spitze ist Streetstyle-tauglich
Die Renaissance feiert diesen Sommer fröhliche Wiederauferstehung durch Power-Schultern bei Labels wie Marc Jacobs, Philosophy di Lorenzo Serafini oder Cecilie Bahnsen. Die Marke Valentino nicht zu vergessen, für die Designer Pierpaolo Piccioli nicht nur aufgebauschte Ärmel entworfen hat, sondern auch mit für den Renaissance-Stil typischen Blusenkragen oder einem Rüschen-Rausch verantwortlich zeichnet. Ganz im Stil der frühen Mode-Ikone Anne Boleyn, die leider von ihrem englischen Gemahl König Heinrich VIII. 1536 enthauptet werden sollte, hat das Label Ganni in seiner aktuellen Sommerkollektion Kleider mit viereckigem Ausschnitt, sprich „Square Necklines", in seine Kollektion aufgenommen. In einer solchen Renaissance-Robe war jüngst „Game of Thrones"-Star Gwendoline Christie auf dem roten Teppich gesichtet worden.
Eine weitere Vorliebe der Anne Boleyn waren reich verzierte Stirnbänder, die auch in der aktuellen Sommermode als Accessoire wieder hoch angesagt sind, beispielsweise bei Simone Rocha, deren gesamtes Sortiment eine wahre Füllgrube für Renaissance-Liebhaberinnen sein dürfte, da es bei ihr auch in Sachen Satin oder floralen Verspieltheiten so richtig in die Vollen geht. Simone Rocha hat diesbezüglich, an der Seite von Dries Van Noten, die legitime Nachfolge von Roksanda und Christopher Kane angetreten, die in der vergangenen Wintersaison traumhafte Renaissance-Looks präsentiert hatten.
Doch das historische Hauptinteresse der Designer gilt diesen Sommer der Epoche des ausgehenden 18. Jahrhunderts, dem Zeitalter des Rokoko mit der damaligen Stil-Ikone Königin Marie Antoinette von Frankreich. Diese Rückbesinnung war auf den Laufstegen so offensichtlich, dass sie auch von den meisten Fashion-Experten bemerkt werden musste. Allerdings wurden fast nie Überlegungen darüber angestellt, warum gerade jetzt ein solcher Rückgriff auf längst vergangene Tage durchaus Sinn machen kann.
Einzige Ausnahme war die „Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) mit einer äußerst lesenswerten Stil-Kolumne. In ihr wurde die interessante These vertreten, dass die Mode gerade und speziell in Krisenzeiten schon immer auf der Suche nach verlässlichen historischen Vorbildern war.
„Hoffnung aus früheren Zeiten schöpfen"
Die Corona-Pandemie konnte natürlich bei der Planung der aktuellen Sommer-Kollektionen niemand voraussehen, aber auch die das Jahr 2019 beherrschenden Themen, wie die dramatischen Folgen des Klimawandels, die ungelösten Flüchtlingsströme oder die verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen, hatten das Vertrauen in die Beständigkeit der politisch-gesellschaftlichen Weltordnung weltweit stark erschüttert. „Aus früheren Zeiten Hoffnung zu schöpfen", so die „NZZ", „ist ein Prinzip, das der Mode nicht fremd ist… Jetzt aber geht es nicht um Zitate aus Jahrzehnten, die vielleicht 20 oder maximal 50 Jahre her sind, sondern darum, wenn Designer Kleider, Dinge und Gefühle zitieren, die historisch sind, die wir sonst nur aus Geschichtsbüchern, Romanen oder Filmen kennen."
Ähnliches habe es auch in der Vergangenheit schon mal gegeben. So hätten viele junge Männer in den durch Aufbruch und Auflehnung geprägten 1960er-Jahren plötzlich Zuflucht zum Dandy-Stil der viktorianischen Epoche gesucht. Die Hippies im folgenden Jahrzehnt hätten sich vom verträumt-weltfremd-romantischen Look der englischen Präraffaeliten aus der viktorianischen Zeit inspirieren lassen. Und die Popper der 1980er-Jahre seien für ihre Vorliebe des Rokoko-Glamours bekannt gewesen. „Jetzt gibt es nicht die eine Zeit", so die „NZZ", „die Designer zitieren, sondern sie bedienen sich querbeet an der modischen Geschichte der Menschheit. Das zeigt wieder einmal, wie wenig Orientierung unsere Welt derzeit bietet."
Natürlich griffen die Designer bei ihrer Rückbesinnung auf Marie Antoinette das damals übliche Korsett wieder auf. Aber ihr Hauptaugenmerk galt den die Hüften betonenden Teilen wie Panniers, Poschen, Krinolinen oder Turnüren, wobei sie es nicht so genau damit nahmen, ob die jeweilige Form des daraus resultierenden Reifrocks tatsächlich zeitgenössisch von der Königin getragen wurde. Es ging ihnen einfach darum, sich von der Schlankheit der Hüfte zu verabschieden. Eigentlich eher etwas für Haute-Couture-Schauen, wohl kaum im Alltag tragbar. Madonna hatte sich in einem solch pompösen Teil schon mal 1990 anlässlich der MTV Video Music Awards präsentiert, die als beste Hauptdarstellerin nominierte britische Schauspielerin Cynthia Erivo war in eine modische Neuinterpretation eines Marie-Antoinette-Kleides von Versace anlässlich der Oscar-Nacht 2020 geschlüpft. Sie hätte sicherlich auch in Kleidern aus der aktuellen Moschino-Kollektion eine tolle Figur gemacht, hatte Designer Jeremy Scott doch die dank eines Panniers weit ausgestellten Dresses größtenteils in Mini-Länge entworfen und dazu die Beine der Models auf dem Catwalk in oberschenkellange Schnürstiefel gesteckt sowie die Häupter der Ladys mit bombastischen Perückenaufbauten à la Versailler Hof geschmückt. Ein bunter Rokoko-Pop-Look, wie ihn laut „NZZ" schon mal Fürstin Gloria von Thurn und Taxis in ihren wilden 1980er-Jahren geliebt hatte.
Marie Antoinette als Vorbild der Designer
Moschino am nächsten kommt diesen Sommer Thom Browne mit seinen Pannier-ausgestellten Teilen, wie sie teils als Petticoats aber auch bei Loewe, Balenciaga, Molly Godard oder Matty Bovan zu bewundern waren. Vivienne Westwood nicht zu vergessen, deren gesamte Kollektion von Designer Andreas Kronthaler unter das Motto „Rock Me Amadeus" gestellt wurde. Unterdessen hatten sich Dries Van Noten und Christian Lacroix mehr am Kostümfilm „Barry Lyndon" orientiert. Kommenden Winter wird der Versailles-Style, wie er bereits 2006 auf der Filmleinwand dank Regisseurin Sofia Coppola im Streifen „Marie Antoinette" mit Hauptdarstellerin Kirsten Dunst zu sehen war, von Christian Siriano oder Christopher John Rogers aufgegriffen werden. Könnte in Corona-Zeiten sehr hilfreich sein, weil historisch inspirierte Looks laut der „NZZ" Hoffnungsspender sein können: „Sie sind besonders gut zum Träumen da. Und vielleicht ist jetzt die Zeit, sich auf die große Erzählkraft der Mode verlassen zu können". Der Rokoko-Look von Marie Antoinette und ihrer einstigen Hofschneiderin Rose Bertin diente übrigens schon früher mal Designern als Inspirationsvorlage, beispielsweise Vivienne Westwood 1995, Jean Paul Gaultier 1998 oder Simone Rocha 2014.